Das Sokratische Gespräch als eine Methode der praktischen Philosophie

Von Kay Herrmann (Chemnitz)


Hat recht, wer am lautesten und am medienwirksamsten seine Meinung kundtut? Kann sich nur durchsetzen, wer die größte Lobby hat? In einer Zeit erstarkender autokratischer Staatsoberhäupter verliert das Argument an Gewicht. An dessen Stelle treten Selbstinszenierungen. Faktisches wird durch Blendwerk ersetzt. Es lassen sich Parallelen zur Sophistik ziehen: „durch falsche Dialektik das Wahre mit dem Falschen zu verwirren und durch Disputieren, Widerspruch und Schönschwatzen Beifall und Reichtum zu erwerben“ (vgl. Kirchner/Michaëlis, 1907, S. 585). Was liegt näher, als sich auf Sokrates zu besinnen: Postfaktizität (Täuschung und ideologische Verzerrungen) enttarnen, die Tragfähigkeit eines gemeinsamen Fundaments ausloten, nach dem suchen, das dem Faktischen als Bedingung seiner Möglichkeit vorhergeht, dem ‚Präfaktischen‘ (als Apriori von Kant als eigentlicher Inhalt der Philosophie gedacht). Sokrates’ Methode ist die Mäeutik, die bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat.

Sokrates

Sokrates (* 469 v. Chr. in Alopeke, Athen; † 399 v. Chr.) stellt für das abendländische Denken eine Zäsur dar. Die griechischen Denker vor ihm werden als Vorsokratiker bezeichnet. Er entwickelte eine der ersten Methoden der praktischen Philosophie. Es handelt sich um eine philosophische Methode eines strukturierten Dialogs, die er als Mäeutik („Hebammenkunst“) bezeichnete. Sokrates selbst hat nichts Schriftliches hinterlassen. Einige seiner Schüler, Platon als der Berühmteste unter ihnen, haben Sokratische Dialoge verfasst. Sokrates vollzieht die Abkehr von der ionischen Naturphilosophie, in deren Zentrum die Frage nach dem Archē (altgriechisch ἀρχή, archḗ), also dem „Anfang“, dem „Prinzip“ (lateinisch principium), „Ursprung“, dem Urgrund der Welt stand. Für Sokrates war die Philosophie das Prüfinstrument von Sitten, Lebensweisen, Wertvorstellungen usw.

Von den Sophisten unterschied ihn, dass er den Dingen auf den Grund gehen wollte. Ihm ging es um die Auffindung des von Raum und Zeit unabhängigen und stabilen Wesens einer Sache (vgl. Pleger, 1998, S. 178–180). Die Mäeutik ist ein ergebnisoffener philosophischer Dialog, der der Erkenntnisgewinnung dienen soll. Eine solche Erkenntnis war für ihn, dass Gerechtigkeit die Grundbedingung des Seelenheils ist. Er gelangte so zu folgendem Imperativ: In allen Fällen, in denen man Unrecht nur vermeiden kann, indem man selbst Unrecht tut, gilt: Unrecht tun ist schlimmer als Unrecht erleiden. Neu war, dass philosophische Einsichten direkt in die Lebenspraxis eingreifen sollten. Konsequenterweise lehnte der zum Tode verurteilte Sokrates die Flucht aus dem Gefängnis ab.

Seinen Anklägern bescheinigte Sokrates, dass sie im Unrecht seien. Flucht wäre Rechtsbruch und somit das Tun von Unrecht, was für Sokrates nicht infrage kam. Da er zum Tode verurteilt war, blieb nur die Option „Tod und Unrecht erleiden“. Die sokratische Entscheidung könnte durch folgende einfache Entscheidungsmatrix dargestellt werden:

 Unrecht tunUnrecht erleiden
Tod01
Leben (= Flucht)02

Die Werte der Optionen sind frei gewählt. Es geht nur um die Verdeutlichung der Rangfolge der möglichen Optionen.

Die einzigen Sokratesquellen sind der Komödiendichter Aristophanes sowie zwei seiner Schüler, der Historiker Xenophon und der Philosoph Platon.

Sokrates wirkte in erster Linie auf dem belebten Marktplatz von Athen, wo er bereits am frühen Morgen hinging und den Rest des Tages blieb. Dort sprach er meistens, und wer wollte, konnte ihm zuhören. Für seine Lehrtätigkeit ließ er sich nicht, wie die Sophisten, bezahlen. Er bezeichnete sich selbst als Philosoph (Freund der Weisheit). Seine Methodik bestand im Hinterfragen, Infragestellen, Nachhaken. Damit machte er sich auch Feinde. Es kam schließlich zur Anklage wegen Gottlosigkeit.

Durch die verkürzte Formel „Ich weiß, dass ich nicht weiß“ verdeutlichte er, was er seinen Mitbürgern voraushatte: das Bewusstsein des philosophischen Nichtwissens. Dies ist der Ausgangspunkt des sokratischen Dialoges: „Im sokratischen Gespräch hat die sokratische Frage den Vorrang. Die Frage enthält zwei Momente: Sie ist Ausdruck des Nichtwissens des Fragenden und Appell an den Befragten, zu antworten oder sein eigenes Nichtwissen einzugestehen. Die Antwort provoziert die nächste Frage, und auf diese Weise kommt die dialogische Untersuchung in Gang.“ (vgl. Pleger, 1998, S. 95.) Ziel des Sokratischen Dialoges ist die gemeinsame Einsicht in einen bestimmten Sachverhalt. Die Schüler werden durch Fragen und nicht, wie bei den Sophisten, durch Belehren zur Einsicht geführt. Mäeutik heißt übersetzt „Hebammenkunst“: eine Hommage an Sokrates̕  Mutter, die als Hebamme tätig war. Platon bezeichnet die Mäeutik als „geistige Geburtshilfe“: Durch geistige Auseinandersetzung wird eine Einsicht selbst erlangt, sie wird in diesem Sinne geboren. Erörterungsgegenstände waren z. B. Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit oder Tugend überhaupt.

In den ursprünglichen Dialogen Platons wird jedoch nicht immer eine abschließende Lösung angeboten. So werden beispielsweise in Platons Dialog Theaitetos drei Auffassungen von Wissen diskutiert, ohne eine Übereinstimmung zu erzielen. In Platons Dialog Phaidon spricht Sokrates in den letzten Stunden vor seiner Hinrichtung mit seinen Freunden über die Unsterblichkeit der Seele. Das Ergebnis bleibt letztlich offen. Ein Hinweis darauf, dass die Philosophie keinen letzten Grund hat?

Das mögliche Einmünden des Gespräches in konkurrierende Lösungsansätze unterscheidet u. a. die Platonischen (Sokratischen) Dialoge von den Neo-Sokratischen Gesprächen, die auf einen Konsens der Teilnehmer abzielen.

Die ethische Dimension der Sokratischen Dialoge besteht darin, dass nur das Wissen um das Gute dazu befähigt, das Gute zu tun. Daraus folgert Sokrates: Wissentlich könne keiner Böses tun. Dies scheint jedoch der täglichen Lebenserfahrung zu widersprechen. Die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruches lässt sich nach Döring so vollziehen:

„Wenn Sokrates es für prinzipiell unmöglich erklärt, daß ein Mensch ein Wissen davon erlange, was das Gute, Fromme, Gerechte usw. sei, dann meint er ein allgemeingültiges und unfehlbares Wissen, das unverrückbare und unanfechtbare Normen für das Handeln bereitstellt. Ein solches Wissen ist dem Menschen nach seiner Auffassung grundsätzlich versagt. Was der Mensch allein erreichen kann, ist ein partielles und vorläufiges Wissen, das sich, mag es im Augenblick auch noch so gesichert erscheinen, dennoch immer bewußt bleibt, daß es sich im Nachhinein als revisionsbedürftig erweisen könnte.“ (Döring, 1996, S. 186)

Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass wir nie zu vollendetem Wissen über das Gute gelangen können, aber danach streben sollten, dieses zu erlangen, um ein glückliches Leben führen zu können.

Die Sokratiker

Die alle überragende Größe im Kreise der Sokratiker ist Platon. Daneben gehört zu den prominentesten Sokratikern Antisthenes, der sich von Platons Ideenlehre distanzierte, indem er konterte, dass man zwar ein Pferd sehen könne, die Pferdheit aber nicht. Platon entgegnete, dass er sich das Auge, mit dem man die Pferdheit sehen könne, noch nicht erworben habe (Döring, 1996, S. 206). Die wichtigsten Philosophenschulen in der Nachfolge des Sokrates waren die Platonische Akademie und der aristotelische Peripatos. Der römische Kaiser Mark Aurel bezog sich im 2. Jahrhundert n. Chr. auf Sokrates. Im frühen Christentum bildete die Kreuzigung Jesu eine Parallele zum Tod des Sokrates.

An die Sokratik knüpft letztlich auch Kant an, da Sokrates Einsicht in die Schranken der Erkenntnis gewonnen habe (vgl. Pleger, 1998, S. 227). Aber auch mit dem Leitspruch der Aufklärung – Sapere aude! -, der in Kants Interpretation die Übersetzung „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ annimmt, erfolgt ein Bezug auf die Tradition von Sokrates, geht es doch darum, den Verstand zu klären. Hegel scheint dagegen der Verurteilung des Sokrates̕ zuzustimmen, da dieser Subjektivität gegen Tradition stelle (vgl. Pleger, 1998, S. 230), ein antiaufklärerischer Vorwurf übrigens, den er auch gegen die Ethik von J. F. Fries, der ebenfalls in der Tradition von Sokrates steht, wiederholt hat.

Menons Paradox

Das sogenannte Paradox Menons ist nach einem Schüler von Sokrates benannt. Das Paradox Menons behauptet, dass man durch Fragen nichts lernen könne. Wenn nämlich eine Person die Antwort bereits kenne, so brauche sie nicht danach zu fragen, kenne sie die Antwort nicht, habe es keinen Sinn, danach zu fragen.

Dieses Argument nahm Platon ernst. Seine Lösung läuft darauf hinaus, Wissenserwerb als Wiedererinnerung zu fassen. Allerdings verlagert Platon die Erlangung des Wissens in eine vorgeburtliche Phase, in der die Seele einst alles geschaut habe. Doch losgelöst von diesem spekulativen Moment erhebt sich die Frage, woher ich weiß, woran ich mich erinnern muss? Die Lösung von Sokrates besteht darin, den Suchenden durch wiederholtes Fragen anzuregen, damit aus vagen Vorstellungen Wissen wird.

Es lässt sich hinzufügen, dass Menschen auch von schwer aufzulösenden Vorurteilen und von Ignoranz geleitet werden können. Die Erkenntnislehre von J. F. Fries und des an diesen anknüpfenden L. Nelson setzt genau an dieser Stelle an. Sie behaupten, dass philosophische Erkenntnisse zunächst unbewusst in der Vernunft liegen. Es komme darauf an, diese ins Bewusstsein zu heben. Nelson hat diesen Ansatz zu einer Methode des praktischen Philosophierens weiterentwickelt: Er spricht von der Sokratischen Methode.

Das (Neo-)Sokratische Gespräch

Leonard Nelson stellte 1922 in einer Rede die Sokratische Methode vor. Die wesentlichen Aspekte der Sokratischen Methode finden sich bereits bei Kant ausgesprochen. Er schreibt in seiner Schrift „Was ist Aufklärung“:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ (Kant, 1784, 481)

Die zwei neuen Aspekte dieser Methode sind: „Selberdenken“ und „ohne Leitung eines anderen denken“. In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurde die Sokratische Methode vor allem von Gustav Heckmann und von der Gesellschaft für Sokratisches Philosophieren weiterentwickelt. Diese Weiterentwicklung wird deshalb mitunter auch als (Neo-)Sokratisches Gespräch bezeichnet. Insgesamt wurden weitere Elemente hinzugefügt: 1) Begründung der geäußerten Ansichten, Überzeugungen und Gedanken, 2) kein Austausch über überlieferte Auffassungen und Theorien, sondern Selberdenken, 3) Klärung der Frage anhand konkreter Erfahrungen, 4) Miteinanderdenken. (vgl. Gronke, Einführung in das Sokratische Gespräch, 2019, S. 69f.)

Das (Neo-)Sokratische Gespräch folgt zumeist folgendem Ablauf:

1. Schritt: Schilderung persönlich erlebter, konkreter Erfahrungssituationen in Bezug auf die Sokratische Ausgangsfrage.

2. Schritt: Die Bildung konkreter Urteile, wie in dieser Situation gehandelt werden sollte.

3. Schritt: Aufweis allgemeiner Gründe, die die Geltung der konkreten Urteile belegen oder widerlegen (vgl. Gronke, Einführung in das Sokratische Gespräch, 2019, S. 75f.).

(Neo-)Sokratische Gespräche in Chemnitz

So führt z. B. die Volkshochschule Chemnitz (Moritzstraße 20, 09111 Chemnitz, https://www.vhs-chemnitz.de) in Kooperation mit der Gesellschaft für Sokratisches Philosophieren e. V. Sokratische Gespräche durch. Diese Veranstaltung wird auch als Fortbildung für Lehrerinnen und Lehrer anerkannt.

Die nächsten Termine sind:

Samstag, 28.11.2020, 09:00 – 15:30 Uhr

Thema 1: Bin ich für die Zukunft verantwortlich? mit Dr. Horst Gronke

Thema 2: Sollte ich stets tolerant sein? mit Dr. Dieter Krohn,

Samstag, 20.03.2021, 09:00 – 15:30 Uhr

Thema: Hat, wer eine Meinung äußert, auch recht? mit Dr. Gisela Raupach-Strey


Prof. Dr. phil. Dipl.-Phys. Kay HerrmannStudium der Physik und Forschungsstudium der Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Lehramt für die Fächer Physik und Mathematik an Oberschulen beim Sächsischen Landesamt für Schule und Bildung, 2011 Habilitation (Privatdozent, venia legendi) im Fach Philosophie an der Technischen Universität Chemnitz, seit 2019 Außerplanmäßiger Professor für Philosophie an der Technischen Universität Chemnitz und seit 2020 Fachausbildungsleiter für Physik an der Lehrerausbildungsstätte des Landesamtes für Schule und Bildung in Chemnitz.

Literatur

Döring, Klaus: Die sog. kleinen Sokratiker und die von ihnen begründeten Traditionen. In: Friedo Ricken (Hrsg.), Philosophen der Antike I. Stuttgart – Berlin – Köln 1996, S. 194–196.

Gronke, Horst: Einführung in das Sokratische Gespräch. In: H. Franke u.a. (Hg.): Leonard Nelson. Wie Vernunft praktisch werden kann. Eine Einführung in seine praktische und neosokratische Philosophie und deren Wirkungsgeschichte. Bonn – Hannover – London 2019, S. 63-85. (Der Band ist als pdf kostenlos erhältlich. Wenden Sie sich bitte an: gsp@sokratisches-gespraech.de).

Kant, Immanuel: „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ In: „Berlinische Monatsschrift“, Dezemberheft 1784, S. 481-494.

Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 1907, S. 585.

Pleger, Wolfgang H.: Sokrates. Der Beginn des philosophischen Dialogs. Reinbek 1998.