16 Feb

Ethik als Methode

Von John-Stewart Gordon (Kaunas, Litauen)


Ohne Zweifel haben sich die bisherigen ethischen Theorien als fehlerhaft erwiesen, insbesondere dann, wenn geglaubt wurde, dass man mit einem (oder wenigen) Moralprinzip(ien) in der Lage ist, alle ethischen Probleme aufzulösen. In Wahrheit sind einzelne ethische Theorien jedoch lediglich nur unvollkommene Annäherungsweisen an die moralische Wirklichkeit. Einzig mit Hilfe der pluralistischen ethischen Methode – genannt Ethik als Methode (Gordon 2019) – ist man in der Lage, so die These des Buches, alle moralischen Probleme angemessen zu diskutieren und entsprechend zu lösen. Dieser radikale Neuansatz leitet einen Paradigmenwechsel in der Ethik ein.        

1. Die Ausgangslage

Ethische Theorien müssen zumindest zwei wesentlichen Kriterien gerecht werden. Zum einen sollten sie (a.) gut begründet sein und zum anderen müssen sie sich (b.) in der Praxis erfolgreich bewähren. Wer sich nur ein wenig in der praxisorientierten Ethik auskennt, der weiss natürlich, dass irgendwann alle ethischen Theorien an ihre Grenzen stoßen. Dies gilt nicht nur für Kants klassische Ethik und den Neukantianismus (Korsgaard 1996; Herman 1993), sondern auch für die auf den Charakter zentrierte Aristotelische Tugendethik und ihre modernen Varianten des Neoaristotelismus (Nussbaum 1998, 2011; MacIntyre 1981) oder das nutzenmaximierende Prinzip der utilitaristischen Theorien (Hare 1952). Die Literatur dazu ist Legion.

Der grundlegende Fehler aller bisherigen ethischen Theorien liegt in der Annahme, mit nur einem oder wenigen Moralprinzipien alle Probleme der Moral erfolgreich lösen zu können. Die Komplexität der moralischen Wirklichkeit kann jedoch nicht mit einem einzigen Masterprinzip wie den Kategorischen Imperativ oder dem utilitaristischen Nutzenkalkül etc. eingefangen werden (vgl. dazu auch Caplan 1992: 34-35). Doch nicht nur sogenannte Top-down Ansätze und Mischformen, sondern auch klassische Botton-up Theorien der Ethik wie die Kasuistik (Jonsen und Toulmin 1988) sind nicht davor gefeit, diesen grundlegenden Fehler zu begehen. Mit Blick auf die Kasuistik könnte man zum Beispiel in Anschlag bringen, dass die Diktatur der paradigmatischen Beispiele in kasuistischen Ethiken die richtige Beschreibung der moralischen Wirklichkeit verhindert. Es spielt also keine Rolle, welche ethische Theorie wir betrachten. Es gibt derzeit keine herkömmliche Ethik, die den beiden oben genannten Kriterien voll gerecht werden könnte.

Doch was folgt daraus? Sollten wir die sprichwörtliche Flinte ins Korn werfen und uns nicht mehr darum bekümmern, was moralisch richtig und falsch ist? Mitnichten! Im Folgenden möchte ich einen kurzen Überblick geben, auf welche Weise wir dennoch in der Lage sind, alle ethischen Probleme angemessen zu diskutieren und aufzulösen. Der Schlüssel dazu liegt darin, eine pluralistische ethische Methode – genannt Ethik als Methode (Gordon 2019) – zu verwenden, um die Komplexität des moralischen Universums angemessen einzufangen.

2. Die Wegbereiter – Aristoteles und Brody                   

Der bekannte amerikanische Philosoph und Medizinethiker Baruch Brody (1943-2018) hat in seinem Buch Life and Death Decision Making (1988), dasjenige vorweggenommen, was ich bereits während meiner Studentenzeit in Konstanz deutlich gefühlt hatte, aber noch nicht zur Gänze zum Ausdruck bringen konnte. Es war der Gedanke, dass man die moralische Wirklichkeit unmöglich mit nur einem oder wenigen Moralprinzipien angemessen beschreiben kann, sondern – wenn man erfolgreich sein will – die unterschiedlichen ethischen Ansätze auf eine fruchtbare Weise miteinander verbinden muss. Brody schreibt dazu folgendes:   

„I think we need a new way of looking at moral theories that have been advocated in the past. We need to recognise that each has emphasised a particular moral appeal whose legitimacy is unquestionable. We also need to recognise that each failed because it has recognised only one of the many legitimate moral appeals. Rather than seeing the history of moral philosophy as a history of competing theories among which we must choose, we ought to view it as a series of attempts to articulate different moral appeals, all of which will have to be combined to frame an adequate moral theory for helping us deal with difficult cases […] we should regard each of these theories as correct in advocating a moral appeal whose use is certainly legitimate but limited.” (Brody 1988: 9–10) 

Doch auf welche Weise können wir diese ganz unterschiedlichen ethischen Positionen miteinander vereinen, ohne dabei Gefahr zu laufen, dass es zu Widersprüchen und anderen Schwierigkeiten kommt? Um dies zu gewährleisten, ist es notwendig, einen zentralen Aristotelischen Gedanken wieder zum Leben zu erwecken und ihn für die moderne ethische Diskussion fruchtbar zu machen. Es geht dabei um den Begriff phronêsis. Der locus classicus in der Nikomachischen Ethik lautet wie folgt:

„Was die Klugheit (phronêsis) ist, können wir erfassen, indem wir schauen, welche Menschen wir klug (phronimos) nennen. Es gilt als Kennzeichen eines klugen Menschen, dass er gut zu überlegen (bouleuesthai) vermag über das für ihn Gute und Zuträgliche, und zwar nicht in einer besonderen Hinsicht, zum Beispiel darüber, was seiner Gesundheit oder seiner Kraft zuträglich ist, sondern darüber, was überhaupt dem guten Leben (pros to eu zên holôs) zuträglich ist. […] So wird allgemein der Kluge derjenige sein, der gut im Überlegen ist (bouleutikos).“ (Aristoteles EN VI, 5 1140a24–31)

Die Klugheit bzw. die praktisch kluge Person (phronimos) ist unsere moralische Allzweckwaffe. Mit ihrer Hilfe sind wir in der Lage, alle ethischen Probleme erfolgreich zu lösen. Der Begriff praktisch kluge Person mag zugegebener Weise etwas altertümlich klingen. Das moderne Pendant dazu, der ethische oder moralische Experte, erfreut sich jedoch einer immer grösser werdenden Beliebtheit in der philosophischen Szene seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts (Singer 1972; McConnell 1984). Vor allem im Kontext der angelsächsischen Bioethik erfährt derzeit der Begriff des „moral expert“ mit Recht eine ungeahnte Renaissance (Rasmussen 2005; Watson und Guidry-Grimes 2018; Gordon 2014, 2021[1]). Doch was kann man eigentlich unter dem Begriff moralischer Experte genau verstehen? Was bedeutet es mithin über moralische Expertise zu verfügen, insbesondere mit Blick auf unsere spezifische Fragestellung?     

3. Vom „moralischen Experten“ zur Ethik als Methode  

Die Klasse der moralischen Experten (wenn es sie denn gibt) findet man wohl am ehesten unter den Moralphilosophen. Singer (1972) hat in seinem klassischen Beitrag dazu auf vier unterschiedliche Punkte hingewiesen, die man gut als Ausgangspunkt für eine weitere Diskussion heranziehen kann: (1.) Moralphilosophen sind moralische Experten, die einen klaren Vorteil gegenüber Laien haben; (2.) das allgemeine Training des Philosophen versetzt sie in die Lage, (a.) über eine hohe Kompetenz im Argumentieren zu verfügen und (b.) fehlerhafte Schlüsse zu erkennen; (3.) die spezifische Erfahrung im Bereich der Moralphilosophie befähigt sie dazu, (a.) moralische Begriffe zu verstehen und (b.) die Logik eines Arguments nachvollziehen zu können; (4.) Moralphilosophen haben Zeit über die komplexen Probleme vertieft nachzudenken (für eine etwas detailliertere Beschreibung vgl. McConnell 1984).[2] Diese, wenn auch nur kurze Beschreibung, ist hinreichend genau, um zumindest anzudeuten, wohin die philosophische Reise geht.

Der moralische Experte, so die These, ist keiner spezifischen ethischen Theorie verpflichtet (dies würde auch zu kurz greifen), sondern versucht, die Komplexität des moralischen Lebens im Rekurs auf alle zur Verfügung stehenden Mittel und Methoden einzufangen. In meinem Buch Ethik als Methode (2019) habe ich dafür argumentiert, dass der moralische Experte sich einer pluralistischen ethischen Methode bedient, die flexibel genug ist, um die spezifischen Probleme angemessen lösen zu können. Mit anderen Worten: Der Weg des moralischen Experten ist die Ethik als Methode. Doch was ist, wenn es keine moralischen Experten gibt, wie es von einigen Philosophen behauptet wird? Können wir dann überhaupt noch sicher sein, dass wir dennoch alle moralischen Probleme erfolgreich lösen können? Ist der moralische Experte nicht gerade der Garant dafür, dass wir den beiden oben genannten Kriterien endlich gerecht werden können?  

Im fünften Kapitel meines Buches habe ich eine Antwort auf die obigen Fragen gegeben und werde in diesem Blogbeitrag – auf Grund der formalen Vorgaben – lediglich noch ein paar wenige Bemerkungen dazu machen können. Ein Rennwagen wird am besten von einem erfahrenen Rennfahrer gesteuert. Eine Boeing 747 sollte nicht von einem Hobbypiloten geflogen werden. Ein komplexes moralisches Problem wird am besten von einem moralischen Experten gelöst. Sollte es keine moralischen Experten geben, dann sind gute und erfahrene Moralphilosophen, die nächstbeste Wahl. Diese Moralphilosophen sollten sich jedoch zumindest der Methode des moralischen Experten bedienen, um ethische Probleme erfolgreich zu lösen, auch wenn sie nicht an die Expertise eines moralischen Experten herankommen (hier weiche ich von Singer 1972 ab). Die ethische Methode ist das Analogon zum moralischen Experten. Wer sie beherrscht, ist in der Lage, durch die Tiefen und Untiefen des moralischen Universums sicher zu navigieren. Auf welche Weise dies möglich ist, habe ich in Anlehnung an und Abgrenzung zu Baruch Brody, Ayn Rand, Aristoteles und Hans-Georg Gadamer in meinem Buch beschrieben.

4. Schlussbetrachtung           

Wer wissen möchte, was die Grundprinzipien dieses radikalen ethischen Neuansatzes sind und auf welche Weise wir diese umsetzen können, der ist herzlich dazu eingeladen, das Buch zu studieren. Auch wenn ich Sie mit meiner spezifischen Position nicht zu überzeugen vermag, hoffe ich dennoch, dass die philosophische Auseinandersetzung damit fruchtbar sein wird.   


John-Stewart Gordon ist Professor für Philosophie am Institut für Philosophie, Chief Researcher und Leiter des Research Cluster for Applied Ethics (RCAE) an der Fakultät für Recht und PI des EU-Projekts “Integration Study on Future Law, Ethics, and Smart Technologies” (2017-2021) an der Vytautas Magnus Universität in Kaunas, Litauen. Er ist associate editor von AI & Society (seit 2020), Mitglied des editorial boards von Bioethics (seit 2007) und des Baltic Journal of Law & Politics (seit 2018). Er ist auch Herausgeber der Buchreihe Philosophy and Human Rights bei Brill.


[1] Gern möchte ich an dieser Stelle auf mein Special Issue „Moral Expertise in (Bio-)Ethics“ bei der Zeitschrift Bioethics hinweisen (Fristende ist: 1.9.2021).

[2] Vgl. Gordon 2019: 125.


5. Bibliographie

Aristoteles, Nikomachische Ethik (Hrsg. U. Wolf), Hamburg 2006.

Brody, B., Life and Death Decision Making, Oxford 1988.

Caplan, A., Moral Experts and Moral Expertise: Does Either Exist?, in: If I Were a Rich Man Could I Buy a Pancreas? And Other Essays on the Ethics of Health Care, Bloomington-Indianapolis 1992, 18–39.

Gordon, J.S., Ethik als Methode, Freiburg/München 2019

Gordon, J.-S., Moral Philosophers are Moral Experts! A Reply to David Archard, in: Bioethics 28, no. 4 (2014): 203–206.

Hare, R. M., The Language of Morals, Oxford 1952.

Herman, B., The Practice of Moral Judgment, Cambridge (MA), 1993

Korsgaard, C. M., The Sources of Normativity, Cambridge 1996.

Jonsen, A. R. und St. E. Toulmin, The Abuse of Casuistry: A History of Moral Reasoning, Berkeley 1988.

MacIntyre, A. C., After Virtue: A Study in Moral Theory, Indiana 1981.

McConnell, T. C., Objectivity and Moral Expertise, in: Canadian Journal of Philosophy 14, no. 2 (1984): 193–216.

Nussbaum, M. C., Creating Capabilities. The Human Development Approach, Cambridge (Mass.)2011.

Rasmussen, L. (Hrsg.), Ethics Expertise: History, Contemporary Perspectives, and Applications, Springer 2005.

Singer, P., Moral Experts, in: Analysis 32, no. 4 (1972): 115–17.

Nussbaum, M. C., Gerechtigkeit oder das Gute Leben (Hrsg. H. Pauer-Studer), Frankfurt 1998.

Watson, J. C. und Guidry-Grimes, L. K., Moral Expertise. New Essays from Theoretical and Clinical Bioethics, Berlin 2018.

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