18 Mrz

Zwei gute Methoden der Praktischen Philosophie: idealisierende Hermeneutik und technischer Konstruktivismus

von Christoph Lumer (Siena)


Seit den 1980er Jahren verwenden Praktischen Philosophen als Methode immer dominanter den Intuitionismus. Was dabei letztlich zählt, ist die Intuition des Autors. Nach Ansicht der Kritiker liefert der Intuitionismus aber einfach keine Begründung: Argumentationstheoretisch gesehen ist er eine Petitio principii: Er setzt voraus, was er begründen sollte. Der Hauptkonkurrent, der methodische Naturalismus, bleibt hingegen rein empirisch und kann normative nicht Fragen beantworten. Aber es geht auch anders, nämlich mit philosophischen Methoden, die u.a. auch Werturteile begründen können.

1. Die Grundfrage der Praktischen Philosophie

Das Methodenproblem hängt mit der Grundfrage der Praktischen Philosophie zusammen: ‚Was soll ich tun?‘ Genauer betrachtet, muß man diese Frage noch aufsplitten in mehrere Fragen, die ethische: ‚Was soll ich aus moralischer Sicht tun?‘, die prudentielle: ‚Was soll ich im wohlverstandenen Eigeninteresse tun?‘ Sodann kann man diese Fragen im Singular und im Plural stellen: ‚Was sollen wir – die Gruppe, die Firma, unser Staat, die Weltgemeinschaft … – tun?‘ Damit hängen noch die Fragen zusammen: ‚Was ist moralisch / prudentiell gut?‘ (oder genauer: ‚Was sind die Kriterien für die moralische bzw. prudentielle Wünschbarkeit?‘) Daneben geht es in der Praktischen Philosophie auch um empirische Fragen, z.B. wie Handlungsentscheidungen funktionieren, welche Motive uns zu moralischem oder unmoralischem Handeln treiben. Aber dies sind nicht die Grundfragen, sondern Fragen, deren Antworten bei der Beantwortung der Grundfragen benötigt werden. Die Grundfragen zielen auf Handlungsempfehlungen und Bewertungen, nicht auf Beschreibungen der Welt. Wie kann man aber diese Grundfragen methodisch beantworten? Wie kann man begründete Handlungsempfehlungen geben?

2. Schwierigkeiten bei der begründeten Beantwortung der Grundfrage

Philosophen – dies ist ihr rationaler Erkenntnisanspruch – wollen diese Grundfragen nicht nur irgendwie, mit persönlichen Meinungen oder auf der Basis von Empfehlungen von Autoritäten o.ä., sondern begründet, rational beantworten. Die Antwort sollte, wenn möglich, wahrheitsfähig und erwiesenermaßen wahr sein, eine Erkenntnis, die man argumentativ begründen und von der man andere (die die Antwort noch nicht akzeptiert haben) rational überzeugen kann. Nun folgen die Antworten auf die Grundfagen der Praktischen Philosophie nicht einfach aus empirischen Informationen – dies gilt nach Humes Gesetz: ‚Aus einem Sein folgt kein Sollen.‘ Deshalb kann der methodische Naturalismus, nach dem wir in der Philosophie methodisch genauso verfahren müssen wie die Naturwissenschaften, die Grundfragen der Praktischen Philosophie nicht beantworten. Und wenn man den Begründungsanspruch ernst nimmt, kann auch der methodische Intuitionismus, der sich bei seinen Antworten letztlich auf die (per se methodisch unausgewiesenen) Intuitionen stützt, die Grundfragen nicht in ausreichender Weise beantworten.

Wie also kann man die Grundfragen begründet beantworten? Im folgenden werden zwei alternative Methoden beschrieben werden, mit denen auch die Grundfragen beantwortet werden können: die idealisierende Hermeneutik und der technische Konstruktivismus. Beide Methoden sind durchaus schon von Praktischen Philosophen verwendet worden – z.B. von Hume, David Gauthier oder Richard Brandt. Aber sie sind bislang nur wenig expliziert worden (s. aber Lumer 1990: 10-18; Lumer 2020) und werden deshalb in der Methodendebatte nicht diskutiert.

3. Idealisierend-hermeneutische Theorien in der Praktischen Philosophie und ihre Methoden

Was ist idealisierende Hermeneutik? (Lumer 2020; Lumer 1990: 10-13) Wie sieht deren Methode aus? Philosophische Methoden sind bestimmten (formal unterschiedenen) Arten von philosophischen Theorien zugeordnet. Diese Theorien bestehen aus bestimmten Arten von Thesen, genauer: 1. Konglomeraten von Thesen, 2. den zugehörigen Begründungen und 3. dem Sinn solcher Thesenkonglomerate. Die einzelnen Methoden sind dann die Begründungsweisen für die verschiedenen Thesentypen solch einer Theorie.

Der Sinn idealisierend-hermeneutischer Theorien ist zum einen die Selbstaufklärung über den praktischen Sinn bestimmter Handlungstypen, Handlungsprodukte, Begriffssysteme, Entscheidungswege usw., kurz: Dinge, die Menschen direkt beeinflussen und formen können. Dabei geht es aber nicht um die Beschreibung z.B. der durchschnittlichen Entscheidungswege. Vielmehr ist das Ziel, die gut begründeten Absichten, Ziele dahinter, was wir damit eigentlich anstreben, zu ermitteln, um dann die nun besser verstandenen Absichten auch besser realisieren zu können. Zum anderen ist das Ziel, die idealen Mittel, die schon zum Erreichen dieser Absichten verwendet wurden, herauszufiltern. Häufig sind solche Mittel nur bruchstückhaft realisiert. In diesem Fall ist das Ziel, ein ideales Mittel aus solchen idealen Bruchstücken zusammenzusetzen. Idealisierende Hermeneutiken sind damit einerseits empirisch, weil sie faktische Praktiken, tatsächlich genutzte Mittel etc. zu verstehen versuchen. Zum anderen sind sie normativ; sie wählen das beste aus dem untersuchten und verstandenen Material aus. Solche idealisierend-hermeneutischen Theorien gibt es in vielen philosophischen Disziplinen, auch in der Praktischen Philosophie: in der prudentiellen Philosophie, in kompatibilistischen Theorien der Entscheidungsfreiheit, in der Ethik, Politischen Philosophie, Rechtsphilosophie … Humes Theorien der moralischen Tugenden sind z.B. Anfänge einer idealisierenden Hermeneutik (es fehlt aber insbesondere der zweite Teil, die Auswahl der besten Mittel).

Idealisierend-hermeneutische Theorien bestehen dann primär aus Thesenkonglomeraten. Die charakteristischsten sind: TIH2: Beschreibung des idealen Instruments – um ein Beispiel aus der prudentiellen Philosphie zu verwenden, könnte dies u.a. die schlußendliche Definition des Begriffs der persönlichen Wünschbarkeit sein –; TIH3: Ausagen darüber, wo dieses Instrument, die Struktur oder Teile davon schon verwendet wurden; TIH4: Aussagen über die Funktion und TIH5: über die Funktionsweise des Instruments – dies wäre eine Beschreibung des Entscheidungsvorgangs anhand des Wünschbarkeitskriteriums bis hin zum entscheidenden Urteil, daß eine bestimmte Handlung unter den betrachteten Alternativen optimal ist, der resultierenden Handlung bis zu den Handlungsfolgen –; TIH9: Beschreibung des Standardoutputs, das ist das mit dem Instrument eigentlich angestrebte Ziel – nämlich die Realisierung der Welt mit der höchsten intrinsischen Wünschbarkeit –; TIH10: die These, daß das herausgearbeitete Mittel ideal oder wenigstens unter den bekannten Alternativen optimal ist.

Was nun die Methoden im engeren Sinn, nämlich die Begründungen für diese Thesen angeht, so sind vor allem die Thesen TIH9 und TIH10 interessant. Denn TIH10 ist selbst ein Werturteil, und TIH9 enthält ein solches, also Thesen mit dem Wünschbarkeitsbegriff als zentralem Prädikat. Die Begründung solcher Werturteile erfolgt mit Hilfe von praktischen Argumentationen, die zeigen, daß die Definitionsbedingungen des Wünschbarkeitsbegriffs erfüllt sind (Lumer 1990: 319-381; Lumer 2014): Die relevanten Implikationen des Bewertungsgegenstandes werden aufgelistet und selbst wieder bewertet; diese Werte werden addiert usw.

Ist das nicht zirkulär? Nein, denn die Begründung folgt zum einen nur den schon faktisch vorhandenen Entscheidungskriterien, die in unserer Psyche verankert sind und nicht erst durch die Philosophie geschaffen wurden. Zum anderen paßt sie sich dem an, was aufklärungsstabil zur Benutzung motiviert, weil es ein Mittel zur Realisierung des von den Subjekten eigentlich verfolgten Ziels ist: Die Begründung zeigt, daß die Benutzung dieses Wünschbarkeitsbegriffs bei Entscheidungen anhand eines Optimalitätsurteils, daß eine bestimmte Handlung unter den betrachteten Alternativen im Sinne der Definition optimal ist, langfristig zu einer Maximierung des intrinsisch Gewünschten führt.

4. Technisch-konstruktive Theorien und ihre Methoden

Idealisierende Hermeneutiken rekonstruieren und konstruieren ideale Mittel aus dem, was Menschen bisher schon geschaffen haben. Das ist sicher nicht immer der Weisheit letzter Schluß. Technisch-konstruktive Theorien (Lumer 2020; Lumer 1990: 15-18) gehen deshalb über die idealisierenden Hermeneutiken hinaus. Sie sind freier als diese, dadurch daß sie nicht mehr an die Vorgabe gebunden sind, daß die von ihnen entwickelten guten Mittel oder deren einzelne Teile schon vorher verwendet worden sind. Technisch-konstruktive Theorien können diese Mittel frei entwickeln. Aber sie werden sich, um nicht Unnützes zu erfinden, an den von der idealisierenden Hermeneutik ermittelten Zielen menschlicher Konstrukte, den begründeten Standardoutputs orientieren und so auf der idealisierenden Hermeneutik aufbauen. Die zentralen Thesen technisch-konstruktiver Theorien sind die Beschreibung des entwickelten Mittels und seiner Funktionsweise und vor allem das Optimalitätsurteil über dieses Mittel: ‚Dies ist das beste Mittel zur Realisierung des Standardoutputs.‘ Und begründet wird solch ein Werturteil wieder mit Hilfe einer praktischen Argumentation, in der die Vor- und Nachteile dieses Mittels aufgezählt und mit denen von Alternativen bewertend verglichen werden.

Der Übergang von der idealisierenden Hermeneutik zur freien technischen Konstruktion ist fließend. Aber in der prudentiellen Philosophie sind beispielsweise die quantitative Nutzentheorie oder die Spieltheorie sicher keine idealisierenden Rekonstruktionen von Vorgefundenem mehr, sondern freie Konstruktionen von Instrumenten zur Maximierung des intrinsisch Wünschbaren.

5. Anwendungen der idealisierenden Hermeneutik und des technischen Konstruktivismus in der prudentiellen Philosophie

Wo und wie können die gerade allgemein beschriebenen Methoden in der Praktischen Philosophie angewendet werden? Ich hatte schon nebenbei als Beispiel aus der prudentiellen Philosophie die Definition des Begriffs der persönlichen Wünschbarkeit verwendet. Die idealisierende Hermeneutik kann dabei insbesondere ermitteln, welcher implizite Sinn hinter unseren Deliberationen, dem Zusammentragen von möglichen Handlungsfolgen, ihrer Wahrscheinlichkeit und ihrer Bewertung etc., steckt, nämlich der Versuch, langfristig die Welt mit der höchsten intrinsischen Wünschbarkeitssumme zu realisieren. Im bewertenden Teil der idealisierenden Hermeneutik oder schon im technischen Konstruktivismus können dann Wünschbarkeitsdefinitionen entwickelt werden, die die intrinsische Wünschbarkeit der Welt präzise erfassen (Lumer 2009: 350-388).

Auf dieser Basis können dann weitere Wünschbarkeitsbegriffe entwickelt werden für Entscheidungen unter Risiko und Unsicherheit oder für vereinfachte Bewertungen. Sodann können Rationalitätskriterien entwickelt werden, wann man welches dieser Wünschbarkeitskriterien bei seinen Entscheidungen verwenden soll, die allereinfachsten bei unwichtigen und sehr eiligen Entscheidungen, präzisere bei wichtigen Entscheidungen mit hinreichender Deliberationszeit (Lumer 1990: 390-400). Der Kern der Begründung all dieser zusätzlichen Konzepte ist wieder der Nachweis, daß ihre Verwendung im Vergleich mit den Alternativen zur inrinsisch besten Welt (im Sinne des fundamentalen, genauen Wüschbarkeitsbegriffs) führt.

Wenn der Rationalitätsbegriff und die anderen Begriffe, auf die er verweist, gut definiert sind, dann ist damit auch das Kriterium zur Beantwortung der prudentielle Grundfrage entwickelt: Tue, was rational ist!

6. Anwendungen der idealisierenden Hermeneutik und des technischen Konstruktivismus in der Ethik

In der Ethik hingegen muß mittels idealisierender Hermeneutik erst einmal ermittelt werden, was denn überhaupt der Sinn oder die Funktion von Moral ist. Angenommen, die Funktion des moralischen Wünschbarkeitsbegriffs sei, ein Bewertungskriterium, einen Wertmaßstab zu liefern, der das allgemeine Wohl definiert und die Grundlage für die Entscheidung über kollektive Projekte und die Entscheidung bei Interessenkonflikten bildet, der aber auch von allen Subjekten wenigstens ein Stück weit motivational unterstützt wird. Wenn man dann einen moralischen Wünschbarkeitsbegriff entwickelt hat, der diese Funktion optimal realisiert (Lumer 2009: 577-632), dann kann man als nächstes eine Strategie und Konzepte für Instrumente entwickeln und begründen, mit denen möglichst viel moralische Wünschbarkeit realisiert wird: moralische Normen, Tugenden, Institutionen etc.

Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei gleich gesagt: Ein handlungsutilitaristisches Maximierungsgebot ist sicher nicht das Ergebnis dieser Überlegungen: Weil dieses keine Verbindlichkeit mit sich führt und von allen moralischen Subjekten wegen der damit verbundenen Überforderung praktisch abgeleht wird, deshalb nicht motiviert, führt es auch nicht zu einer großen moralischen Verbesserung der Welt. Moralische Normen im Sinne von moralisch guten sanktionsbewehrten sozialen Regeln, die dann auch weitestgehend befolgt werden, sind da deutlich bessere Mittel zur Realisierung einer moralisch besseren Welt. Wenn diese Theorien stringent entwickelt worden sind und wenn es in der sozialen Gemeinschaft auch moralisch hinreichend gute Normen und Institutionen gibt, dann sind damit wieder die Kriterien zur Beantwortung der moralischen Grundfrage entwickelt: Tue, was die moralisch guten sozialen Normen gebieten! Beteilige dich an der Aufrechterhaltung und der Verbesserung der moralisch guten sozialen Normen! Und tue darüber hinaus moralisch Gutes!


Christoph Lumer ist Professor für Moralphilosophie an der Universität Siena. Seine Forschungsthemen sind die normative Ethik (u.a. Entwicklung eines prioritaristischen Kriteriums der moralischen Wünschbarkeit), angewandte Ethik (Klimaethik) und Metaethik (Kriterien der Moralbegründung), die prudentielle Philosophie (individuelle Wünschbarkeit, praktische Rationalität), Handlungstheorie, aber auch die Argumentationstheorie (erkenntnistheoretische Argumentationstheorie) und philosophische Methodologie. Im Zuge seiner Forschung zur philosophischen Methodologie hat er die beiden in diesem Artikel skizzierten philosophischen Theorietypen und Methoden entwickelt oder genauer: idealisierend-hermeneutisch begründet.


Literatur

Lumer, Christoph (1990): Praktische Argumentationstheorie. Theoretische Grundlagen, praktische Begründung und Regeln wichtiger Argumentationsarten. Braunschweig: Vieweg. XI; 474 S.

Lumer, Christoph (2009): Rationaler Altruismus. Eine prudentielle Theorie der Rationalität und des Altruismus. 2000. Zweite, durchgesehene und ergänzte Auflage. Paderborn: mentis. 675 S.

Lumer, Christoph (2014): Practical Arguments for Prudential Justifications of Actions. In: Dima Mohammed; Marcin Lewiński (Hg.): Virtues of Argumentation. Proceedings of the 10th International Conference of the Ontario Society for the Study of Argumentation (OSSA). Windsor, Ontario, May 22-26, 2013. Windsor, Canada: Ontario Society for the Study of Argumentation (OSSA) 2014. 16 S. CD-rom. URL:  <http://scholar.uwindsor.ca/cgi/viewcontent.cgi?article=2077&context=ossaarchive>.

Lumer, Christoph (2020): A Theory of Philosophical Arguments. In: OSSA, Ontario Society for the Study of Argumentation (Hg.): Evidence, Persuasion & Diversity. Proceedings of Ontario Society for the Study of Argumentation Conference, Vol. 12 (2020). Internetpublikation 2020. 36 S. URL: <https://scholar.uwindsor.ca/cgi/viewcontent.cgi?article=2487&context=ossaarchive>.