Der richtige Weg ist kein Spaziergang. Warum das Überlegungsgleichgewicht zur Rechtfertigung unserer moralischen Urteile führen kann

Von Claus Beisbart (Bern)


Methode – das ist der richtige Weg. In der Praktischen Philosophie denken viele, das sei das Überlegungsgleichgewicht. Doch über diesen Weg wird auch gemäkelt. Einige sagen, er führe nicht hoch genug hinaus. Andere denken, er beginne bei einem ungeeigneten Ausgangspunkt – der Intuition. Aber die Einwände sind nicht berechtigt. Der Weg kann zum Ziel führen.

Wir wollen hoch hinaus. Das Ziel: Rechtfertigung. Unsere moralischen Urteile oder Überzeugungen sollen begründet werden. Und wir wollen begründete Antworten auf die Frage, was wir in schwierigen Fällen tun sollten. Wahrheit wäre natürlich auch toll. Aber man soll ja nicht gleich am Anfang zu hoch hinaus wollen. Lassen wir die Wahrheit also mal außen vor.

Auf geht es also. Aber was ist der beste Weg? Ein Weg heißt Überlegungsgleichgewicht. Den Wegweiser hat Nelson Goodman aufgestellt. Beschriftet hat ihn John Rawls – von ihm kommt der Name. Wegweisend für die Methode war er auch. Andere wie Norman Daniels und Catherine Z. Elgin haben genauere Markierungen angebracht. Nicht dass der Weg oft konsequent beschritten worden wäre. Aber man spricht darüber.

Die Wegbeschreibung liest sich ungefähr so (siehe dazu auch den Beitrag von Georg Brun): Der Weg kommt uns zunächst ein Stück entgegen. Wir sollen nämlich da beginnen, wo wir sind. Wir haben ja schon moralische Überzeugungen, sind auf gewisse Urteile festgelegt. Wir denken etwa, wir dürften andere nicht belügen. Diese Festlegungen werden dann mithilfe einer systematischen Theorie erfasst. Wir suchen also eine Theorie, die unsere Festlegungen systematisch erklärt. Aber dabei stören einige Festlegungen. Sie wollen sich einfach nicht in ein systematisches Ganzes fügen. Daher prüfen wir, ob wir sie aufgeben oder ändern können. Vielleicht ist es manchmal doch richtig zu lügen. Etwa wenn es um eine Notlüge geht. Wir ändern daher so manches moralische Urteil, damit es besser zur Theorie passt. Und die können wir in einem nächsten Schritt vielleicht noch systematischer machen. So passen wir die Theorie und unsere Festlegungen abwechselnd aneinander an.

Der Weg vollzieht also eine Zickzackbewegung, und wir gehen ihn mit unseren Bergführerinnen, den Theorien. Mal gehen die Theorien auf uns zu. Sie lassen uns ein Stück laufen, wie es uns passt, und kommen mit. Sie hören uns geduldig zu. Jede unserer Regungen nehmen sie ernst, auf jede Festlegung versuchen sie einzugehen. Dann kommt eine große Kurve. Nun heißt es: Zack! Jetzt müssen wir uns an den Theorien orientieren. Mit ihnen Schritt halten. Es geht steil bergauf. Festlegungen, die uns jetzt beschweren, müssen wir aufgeben. Aber nach einer Weile kommt wieder eine Kurve. Jetzt müssen die Theorien wieder uns folgen. Und so geht es weiter im Zickzackkurs.

Dabei orientieren wir uns an einigen Bergriesen. Hintergrundtheorien heißen sie auch. Die Theorien, mit denen wir unsere Festlegungen systematisieren, sollen nämlich zu den Hintergrundtheorien passen. Etwa zur Entscheidungstheorie.

So gehen wir voran. Irgendwann sind die Ausschläge der Zickzack-Bewegung nicht mehr so gross. Der Weg wird gerader. Festlegungen, Theorien und Hintergrundtheorien passen immer besser zusammen. Langsam verstehen wir uns mit unseren Bergführerinnen. Und die Bergriesen im Hintergrund sehen auch freundlicher aus.

Irgendwann geht es gar nicht mehr weiter. Wohin wir uns wenden: Höher kommen wir nicht mehr. So was darf man ja wohl Gipfel nennen. Die Rechtfertigung ist erreicht! Natürlich gibt es vielleicht noch höhere Gipfel. Aber das soll uns jetzt nicht die Freude verderben.

Zugegeben: Die Wegbeschreibung ist nicht sehr genau. Es gibt nicht viele Markierungen, die uns den Weg weisen. Aber das ist vielleicht gar nicht so schlimm. So ist auch unsere Kreativität gefragt.

Über den Weg wird aber auch sonst gemäkelt. Es heißt, er bringe uns nicht zur Rechtfertigung. Einige meinen, der Weg führe uns nicht hoch genug. Die Methode sei zu konservativ und tauge daher nichts. Andere glauben, der Ausgangspunkt des Weges sei ungeeignet. Die Methode fuße auf einem Intuitionismus und bringe daher nicht weiter. Aber der Reihe nach.

Der erste Einwand geht so: Wer gerechtfertigte Ansichten haben möchte,  müsse hoch hinaus. Und das heiße möglicherweise: sich weit vom Ausgangspunkt entfernen. Denn wenn unsere anfänglichen Ansichten nicht besonders begründet seien, dann sei die Distanz zur Rechtfertigung groß. Vielleicht ist es mit unseren moralischen Urteilen einfach nicht so weit her. Dann müsste die Methode unsere Ansichten grundlegend ändern können. Das Überlegungsgleichgwicht könne das aber nicht. Es habe nicht das Potential, uns allzu weit zu führen. Denn die Theorien würden immer wieder an unsere Festlegungen angepasst. Immer wieder ließen uns die Theorien laufen und gingen auf uns ein. So gewönnen wir nicht die nötige Höhe. Vielleicht kämen wir so auf einen kleinen Hügel neben dem Dorf, wo wir losliefen. Doch neue Perspektiven oder Aufbruch in neue Regionen wären unmöglich. Und damit letztlich auch Rechtfertigung.

Aber das Überlegungsgleichgewicht ist nicht so konservativ, wie es vielleicht scheint. Es gibt ja nicht nur die Passagen, wo uns die Theorien hinterherlaufen. Sondern auch die Wegstrecken, auf denen wir mit den Theorien Schritt halten müssen. Und Theorien sind ganz besondere Gesellen. Sie sind karg und verlieren nicht viele Worte. Aber was sie sagen, hat es in sich und lässt uns die Dinge neu verstehen. Daher müssen wir uns von manchen unserer Festlegungen lösen, wenn wir mit unseren Bergführerinnen Schritt halten wollen. Im Lichte von Theorien sehen wir ein, dass uns so manche Festlegung beschwert und lieber aufgegeben werden sollte.

Die Theorien unterliegen auch strengen Anforderungen. Wenn sie die nicht erfüllen, dürfen sie sich nicht mehr Bergführerinnen nennen. Theorien sollen breit anwendbar sein. Und sie müssen einfach und systematisch sein. Im Gegensatz dazu sind unsere moralischen Urteile oft ein ziemliches Durcheinander. Wir müssen uns also moralischen Ansichten möglicherweise deutlich ändern, um mit den Theorien Schritt halten zu können. Theorien sind daher nicht irgendwelche Leute, die ein Stück Weges mit uns gehen. Sie ziehen uns vielmehr systematisch in die Höhe. Wenn wir uns auf sie einlassen und unsere Ansichten geeignet abändern, dann werden diese im Lichte einer Theorie erklärbar und so gerechtfertigt.

Außerdem gibt es ja noch die Bergriesen, die Orientierung liefern – die Hintergrundtheorien. An ihnen müssen sich die Bergführerinnen ausrichten. Wenn die Theorien etwas sagen, das den Bergriesen nicht passt, dann stimmt etwas nicht.

Das Überlegungsgleichgewicht ist also kein bequemer Spazierweg, der uns nur bis zur nächsten Anhöhe führt. Er kann uns in neue und bisher unbekannte Regionen führen. Der Konservatismus-Einwand hat sich damals erledigt.

Aber nun melden sich die anderen, die vorher nicht mit dem Weg einverstanden waren. Was sie uns erklären, ist dies: Es ist ja schön, wenn uns das Überlegungsgleichgewicht dort abholen möchte, wo wir sind. Wenn wir einfach von unserem Dorf losgehen dürfen. Aber damit bleibe der Weg immer auf unser Dorf bezogen. Letztlich verlasse er sich auf unsere Intuitionen. Das sind die Urteile, die wir spontan fällen. Ohne gross nachzudenken oder nachgedacht zu haben. So etwas wie Bauchgefühle. Die Intuitionen seien ein guter Ausgangspunkt, wenn sie die nötige Höhe hätten. Wenn sie zum Beispiel zuverlässig wiedergäben, was richtig ist, so wie unsere Wahrnehmungen meist ein gutes Abbild der Umgebung liefern. Das dem so ist, behauptet der Intuitionismus.

Aber mit dem Intuitionismus, so der Einwand weiter, sei es nicht weit her. Viele Intuitionen hätten sich in genaueren Untersuchungen als problematisch erwiesen. Sie drückten manchmal nur Vorurteile aus. Oder führten in die Irre. Das Dorf, wo wir begönnen, liege leider tief im Tal. Ebenso tief steckten wir in allen möglichen Vorurteilen und Ressentiments. Die Lüge etwa sei im Dorf ein altes Tabu. Auf dieser Grundlage könnten wir keine gerechtfertigen Ansichten gewinnen.

Aber das Überlegungsgleichgewicht ist keine rein intuitionistische Methode. Zunächst müssen wir nicht im Dorf namens Intuition beginnen. Es stimmt zwar: Der Weg beginnt, wo wir sind, bei unseren Festlegungen. Diese verdanken sich aber manchmal auch Überlegungen. Vielleicht verurteilen wir Lügen, weil wir denken, dass sie etwas Ähnliches wie Verletzungen sind. Andere Festlegungen haben wir bewusst von Mitmenschen übernommen, denen wir trauen. In beiden Fällen haben wir es nicht mit unbedachten Bauchgefühlen zu tun. Wir sind daher nicht auf den Intuitionismus festgelegt, wenn wir den Weg Überlegungsgleichgewicht nehmen wollen.

Allerdings können unsere anfänglichen Festlegungen auch dann problematisch sein, wenn sie nicht bloß Intuitionen sind. Es mag ja sein, dass wir bestimmte moralische Ansichten von Menschen übernommen haben, denen wir trauen. Aber was ist, wenn deren Urteile nur Vorurteile sind? Letztlich kommt es nicht darauf an, wie unser Dorf heißt. Sondern darauf, wie es gelegen ist. Und es könnte einfach zu tief liegen. Rechtfertigung wäre dann nicht erreichbar.

Aber auch dieser Einwand greift zu kurz. Einmal wäre es zuviel verlangt, wenn ein Weg von jedem Ausgangspunkt zur Rechtfertigung führt. Das Matterhorn erreicht man halt nicht von Ostfriesland – wenigstens nicht in einer Etappe. Man kann von einem Weg nicht verlangen, dass er in jedem Dorf vorbeikommt und dennoch alle zum Ziel führt. Es ist schon so: Das Überlegungsgleichgewicht verspricht uns, dass wir dort losgehen dürfen, wo wir gerade sind. Aber fairerweise muss man einräumen, dass der Weg vielleicht nicht alle zur Rechtfertigung ihrer moralischen Ansichten führt. Aber welcher andere Weg tut das schon?

Außerdem führt uns der Weg des Überlegungsgleichgewichts ja raus aus dem Dorf und in die Höhe. Wir haben das schon gesehen, als wir auf den Konservatismus-Einwand geantwortet haben. Unsere Bergführerinnen sind streng und müssen sich an harten Anforderungen messen. Wenn wir mit ihnen Schritt halten wollen, müssen wir uns bewegen und unser Dorf hinter uns lassen. Auch die Hintergrundriesen können bedrohlich für unsere Festlegungen werden. Wichtig dabei ist: Keine unserer Festlegungen ist unantastbar; jede kann sich als Ballast erweisen, den wir abwerfen müssen. So können wir deutlich an Höhe gewinnen. Und wir können hoffen, dass wir auf diese Weise von vielen Dörfern aus die Rechtfertigung erreichen.

Wir können also denjenigen, die über den Weg mäkeln, einiges entgegensetzen. Die Methode ist nicht zu konservativ – der Weg kann uns hoch hinaus führen. Die Methode ist auch nicht auf den Intuitionismus festgelegt – der Weg beginnt nicht unbedingt im Dorf Intuition. Noch ist es ein Problem, dass er überhaupt bei uns im Dorf beginnt  – wenigstens dann nicht, wenn dieses nicht zu ungünstig gelegen ist.

Aber warum reden wir eigentlich so viel über den Weg? Vielleicht probieren wir besser einfach mal, wohin er uns führt! Auf geht’s!


Claus Beisbart lehrt Wissenschaftsphilosophie an der Universität Bern. Er interessiert sich für computer-gestützte wissenschaftliche Methoden wie die Computersimulation, Fragen im Grenzgebiet zwischen Physik und Philosophie und für das Überlegungsgleichgewicht. Dazu leitet er mit Gregor Betz und Georg Brun das Forschungsprojekt “How Far Does Equilibrium Take Us? Investigating the power of a philosophical method”, das vom SNF und der DFG gefördert wird. Auf Ergebnissen aus diesem und einem Vorgängerprojekt stützt sich dieser Beitrag.


Literaturhinweise:

Brun, Georg (2014), Reflective Equilibrium without Intuitions?, Ethical Theory and Moral Practice 17, 237–252

Baumberger, Christoph & Brun, Georg (2016), Dimensions of Objectual Understanding, in: Grimm, Stephen, Christoph Baumberger & Sabine Ammon (Hrsg.), Explaining Understanding. New Perspectives from Epistemology and Philosophy of Science, New York: Routledge, 165–189

DePaul, Michael R. (2011), Methodological Issues. Reflective Equilibrium, In Miller, Christian (Hrsg.), The Continuum Companion to Ethics, London: Continuum, lxxv–cv.