Gefährliche oder experimentelle Liebe? Philosophische Überlegungen über #MeToo

von Federica Gregoratto (St. Gallen)[1]


„Me too“ ist ein Ausdruck, den fast jede Frau (und einige Männer) als Antwort auf eine Erzählung von sexueller Belästigung formulieren kann. Hashtag #MeToo wurde im Oktober 2017 von der Schauspielerin Alyssa Milano, kurz nach der Veröffentlichung von den erheblichen Anschuldigungen gegen den Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein lanciert: Frauen aller Länder wurden aufgerufen, über Twitter oder andere soziale Netzwerke ihre Erfahrungen als Target von ungewollter sexueller Aufmerksamkeit, Stalking, Erpressung, Angriff, Vergewaltigung mitzuteilen. Der Aufruf ging unmittelbar viral.[2] Männer scheinen diejenigen zu sein, die am meisten dazu neigen, ihre politische, ökonomische oder symbolische Macht in sexuellen Bereichen zu missbrauchen; Frauen können es aber auch.[3]

In diesem Zusammenhang ist das allgemeine Problem der Gewalt in erotischen Beziehungen philosophisch besonders erregend. Und besonders umstritten scheint mir die Frage, ob romantische, erotische, sexuelle Beziehungen eine sogenannte „graue Zone“ enthalten, nämliche eine schwammige Phase oder Situation, in der es höchst schwierig ist, jegliche Belästigung  zu spüren, zu erkennen und dagegen zu reagieren. Einige sind der Meinung, dass die Rede von einer solchen grauen Zone nichts anders als eine ideologische Verschleierung darlegt: Frau (und Mann) weißt immer, unmittelbar und mit Gewissheit, wenn und wann von Missbrauch der Fall ist, obwohl darüber nicht geredet wird. Andere behaupten hingegen, dass chaotische, unberechenbare, verworrene Momente zum Wesen erotischer Begegnungen gehören, was daher manchmal unmöglich macht, saubere Grenzen zwischen Missverständnis und Manipulation, erotisches Spiel und sexuelle Macht, Frustration und Misshandlung zu ziehen. Abgesehen von solchen gegensätzlichen Positionen hat die #MeToo-Bewegung tatsächlich heisse Diskussionen über das Verhalten von manchen Leuten angeregt: War zum Beispiel Aziz Ansari, um einen der meistdebattierten Fälle zu erwähnen, ein Belästiger oder eher lediglich ein unaufmerksamer Liebhaber? Hat Asia Argento wirklich gegen den Willen von Jimmy Bennett gehandelt? Diese Frage scheidet immer noch die Geister – sogar die feministischen.

In einer von sowohl geschlechtlichen als auch ökonomischen und ethnischen Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten und Unterdrückungsformen geprägten Gesellschaft scheinen graue Zonen in erotischen Beziehungen eigentlich durchaus üblich. Wenn auf einer Seite sich die konventionelle Sexualität nach der Geschlechterdichotomie herausbildet, welche die Aggressivität und herrschende Tendenzen der Männer sowie die Passivität und zuneigende Haltungen der Frauen erotisiert,[4] wird jede Schwachstelle und Verletzlichkeit, die entweder in wirtschaftlichen, ethnischen oder anderen Verhältnissen verwurzelt ist, zur Gelegenheit einer Machtausübung, die leicht auch sexuelle Konnotationen annehmen kann. Sowohl menschliche Sexualität als auch Herrschaftsstrukturen stellen jedoch keine feste Gegebenheit dar; vielmehr sind sie transformierbar.

Wie können wir denn unter gegenwärtigen Bedingungen mit der grauen Zone umgehen – wie unterscheiden wir zwischen solchen Begierden/Taten, die mit Herrschaftswünschen und Gewalt verflochten sind, und solchen Begierden/Taten, die ‚reinen‘ Formen des Genusses ausdrücken? Der Maßstab, auf den sich die meisten stützen, heisst Konsens. Eine sexuelle Belästigung wird also als eine ohne die Zustimmung von den Partnern durchgeführte Handlung definiert. So legt auch der Common Sense nahe: Wenn nicht Einverständnis herrscht, soll ein Partner oder eine Partnerin nicht fortfahren. Das ist jedoch keine unproblematische Lösung. Was für ein Wert hat etwa derjenige Konsens, wo eine Person einer unangenehmen oder schmerzhaften Berührung lediglich aus Angst oder aus einem selbstbestrafenden Wunsch ausdrücklich zustimmt? Und ist es nicht z.B. für eine Frau die Situation ebenso problematisch, in der sie „nein“ lediglich sagt, weil sie fürchtet, als eine „Schlampe“ betrachtet zu werden?

Ein verheißungsvolleres Prinzip scheint mir hingegen die Idee der Freiheit zu sein. In diesem Zusammenhang könnte Freiheit als die Fähigkeit von individuellen erotischen Subjekte verstanden werden, ihre Begierden, Wünsche und Fantasien explizit auszudrucken und zu verwirklichen. Die Realisierung meiner Begierden, Wünsche und Fantasien darf dennoch nicht die Vernachlässigung von den Begierden, Wünschen und Fantasien meiner Geliebten bedeuten: Ganz im Gegenteil setzt meine Freiheit die Freiheit der anderen voraus, und hilft dabei, diese zustande zu bringen. Ich kann nicht frei sein, wenn meine Partner nicht ihre Begierden, Wünsche und Fantasien ausdrucken und verwirklichen können; der Ausdruck und Verwirklichung meiner Begierden, Wünsche und Fantasien sollen wiederum die Freiheit meiner Partner ja sollizitieren und ermöglichen.[5]

Eine Bedingung solcher Freiheit besteht gewiss in der Selbsterkenntnis, die sich aus verschiedenen erotischen Erfahrungen und Experimenten ergibt. Hauptsächlich experimentieren Menschen in sexuellen Begegnungen mit anderen Menschen, wobei manchmal das Verwiesensein auf andere (temporär) Selbstverlust und Selbstvergessenheit bedeuten kann. Selbstverständlich ist die Möglichkeit, nein zu sagen und sich aus dem Experiment auszusteigen, wesentlich.

Ein solcher Begriff von Freiheit kann allerdings nicht wirklich als Maßstab gelten, um mit absoluter Gewissheit tadelnswerte Verhalten zu identifizieren. Er hilft meiner Meinung nach aber erheblich, sich eine soziale Sphäre erotischer Beziehungen vorzustellen, wo alle Beteiligte autonomere, und folglich urteilsfähigere, aber auch genussfähigere Subjekte sind, und wo Machtverhältnisse sich ausgleichen oder mindestens dynamischer werden können.

Es könnte mir nun vorgeworfen werden, ich habe lediglich einen idealen Zustand geschildert, die mit der Realität erotischer Beziehungen kaum etwas zu tun hat. Das mag stimmen. Wie die französische Schriftstellerin und Regisseurin Virginies Despentes in ihrer King Kong Theorie schockierend gezeigt hat, werden hauptsächlich Frauen, die sexuell radikal experimentieren, härter gemeinschaftlich sanktioniert und sexuell belästigt als diejenigen, die nach den konventionellen Regeln spielen. Aber gerade deswegen müssen wir uns bemühen, die objektiven Bedingungen zu konzipieren und zu kreieren, die einen freien erotischen Raum für alle – Frauen, Männer und diejenigen, die sich weder als Frau noch als Mann identifizieren – eröffnen können: Nicht nur hängen solche Bedingungen von den sozialen Normen und Überzeugungen ab, die unsere Selbstkonzeptionen, Gewohnheiten und Verhaltensmuster in den intimen, affektiven Verhältnissen regulieren und konstituieren; sie werden zudem von den weiteren ökonomischen, politischen und kulturellen Institutionen und Strukturen massiv beeinflusst, die den Arbeitsmarkt, die Fürsorge, die Schule, die Politik, Produktion der materiellen und immateriellen Güter und andere fundamentale Verhältnisse unseres sozialen Lebens konstituieren und organisieren.

Federica Gregoratto wissenschaftliche Assistentin am Fachbereich Philosophie der Universität St. Gallen.

 


[1] Der Beitrag von Dr. Federica Gregoratto wurde ebenfalls auf dem Schweizer Onlineportal für Philosophie (https://www.philosophie.ch/) im Rahmen der Blogreihe „Philosophie aktuell“ publiziert, und zwar hier.

[2] Bereits 2006 benutzte die Aktivistin und Sozialarbeiterin Tarana Burke „Me too“ als Leitwort einer sehr ähnlichen Kampagne, die hauptsächlich women of color aus unterprivilegierten Gemeinschaften gewidmet war.

[3] Vgl. z.B. den Fall dieser mächtigen Professorin an der New York University.

[4] Es kann natürlich Frauen und Männer geben, die nicht nach gewöhnlichen Geschlechteridentitäten handeln und sogar Rollen tauschen.

[5] Es handelt sich im Grunde genommen um eine Hegelianische Freiheitskonzeption, die sich von der im von Catherine Deneuve und anderen unterschriebenen Anti-#MeToo Manifesto vertretenen individualistischen Idee wesentlich unterscheidet.