Geschichte der Philosophie versus systematisches Philosophieren – Acht Thesen am Beispiel Hegels
Von Thomas Meyer (Berlin)
Wenn sich eines ganz klar sagen lässt, dann dies: Die Texte der sogenannten Deutschen Idealisten sind gegenwärtigen Leser*innen aus verschiedenen Gründen nur noch schwer zugänglich.[1] Das bringt die Frage mit sich, weshalb man sich heute überhaupt noch mit diesen Texten auseinandersetzen und die mühsame hermeneutische Arbeit, die mit einer solchen Auseinandersetzung einhergeht, auf sich nehmen sollte? Aber selbst wenn man ein Interesse für diese Texte bereits hat, wofür es viele gute Gründe gibt, steht gleich die nächste Frage im Raum, wie man sich am besten mit diesen auseinandersetzt.
Ein Grund, sich mit den Texten auseinanderzusetzen, kann darin gesehen werden, dass die philosophischen Systeme der Deutschen Idealisten auch für heutige philosophische Fragen und Probleme klärende und erhellende Einsichten enthalten. Ein Grund, weshalb diese Texte so schwer verständlich sind, ist hingegen darin zu sehen, dass uns die philosophischen Debatten der damaligen Zeit, ebenso wie die sprachlichen Gepflogenheiten und methodischen Standards nicht mehr ohne weiteres zugänglich sind. Dies führt dazu, dass eine historisch-philologische Auseinandersetzung mit diesen Texten unabdingbar ist, sollte man an möglichen philosophischen Einsichten interessiert sein.
Ist man gewillt, sich mit den philosophischen Positionen etwa Fichtes oder Hegels auseinanderzusetzen, tauchen also gleich Fragen des sinnvollen Umgangs mit deren Texten auf: betrachtet man sie einfach historisch und fragt, wie zu verstehen ist, was sie jeweils vertreten haben, oder kann man ihre Positionen systematisch rekonstruieren, so dass sich auch noch etwas für heutige philosophische Probleme gewinnen lässt? Aber was hieße es denn, die Texte „einfach historisch“ zu betrachten? Und was unterscheidet diese Betrachtung, wenn überhaupt etwas, von einer systematischen Rekonstruktion? Was unterscheidet das Betreiben von Geschichte der Philosophie des Deutschen Idealismus von dem Betreiben eines an der Philosophie des Deutschen Idealismus orientierten gegenwärtigen, systematischen Philosophierens? Diesen Fragen soll nun am Beispiel Hegels etwas genauer nachgegangen werden.
An erster Stelle sollte geklärt sein, weshalb man sich genau mit den Texten Hegels beschäftigt. Ein letztlich philosophischer (im Sinne von systematischer) Umgang mit Hegels Schriften ist meines Erachtens am besten über eigene, gegenwartsbezogene und systematische Fragen und Probleme zu erlangen. In den gegenwärtigen Disziplinen der Philosophie werden viele Phänomene abgehandelt, die auch Hegel thematisiert hat. Eine Möglichkeit besteht darin, sich zunächst mit diesen Problemen intensiv zu beschäftigen, um dann in einer gründlichen Textexegese die hegelsche Position in diesen Fragen zu bestimmen. Dieses Vorgehen stößt allerdings schnell an Grenzen. Denn schlägt man einen hegelschen Text auf, etwa seine Thematisierung des Begriffs der Handlung in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts[1] (§§ 110-113), so lassen sich nur schwer Entsprechungen zu heutigen Handlungstheorien herstellen. Fängt man in der Einleitung in den zweiten Teil der Grundlinien, der Moralität an, stößt man schnell auf Sätze folgender Art: „Indem die Subjektivität nunmehr die Bestimmtheit des Begriffs ausmacht und von ihm als solchem, dem an sich seienden Willen, unterschieden und zwar, indem der Wille des Subjekts als des für sich seienden Einzelnen zugleich ist (die Unmittelbarkeit auch noch an ihm hat), macht sie das Dasein des Begriffs aus.“ (Grundlinien § 106) Also muss man dann doch den hegelschen Text erstmal für sich studieren, und das bedeutet einerseits anhand der von Hegels selbst benannten Beweisansprüche, seiner besonderen Begrifflichkeiten und Methoden – was bedeuten die Ausdrücke „Subjektivität“, „Bestimmtheit“, „der Begriff“ und „Dasein“ bei Hegel genau? Warum macht die Subjektivität das Dasein des Begriffs aus? usw. Andererseits bedeutet es, sich mit dem philosophiehistorischen Kontext, im Falle seiner Handlungstheorie auch mit dem rechtshistorischen Kontext seiner Zeit auseinanderzusetzen.
Somit ergibt sich als methodischer Zugang zu Hegels Handlungstheorie ein hin und her zwischen einer gründlichen immanenten und historisch informierten Textinterpretation und einer systematischen Auseinandersetzung mit den Sachfragen aus heutiger Sicht. Hieran zeigt sich bereits, dass die scheinbar klare Gegenüberstellung von historischer Interpretation und systematischer Rekonstruktion nicht so klar ist.
Im Falle der Philosophie Hegels, aber auch insgesamt des Deutschen Idealismus sind philosophiehistorische Studien insofern notwendiges Mittel für das Verständnis dieser Texte, als erst darüber die ganz spezifischen Fragen und Probleme dieser Texte nachvollziehbar gemacht werden können. Dies gilt auch für andere Philosoph*innen der Philosophiegeschichte, allerdings im Fall des Deutschen Idealismus in verstärkter Form. So hat sich der Deutsche Idealismus nach Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft Kants 1781 in recht kurzer Zeit entwickelt und es bestehen wichtige Wechselbezüge zwischen den Projekten der beteiligten Autoren, die zu berücksichtigen sind. Dabei waren die Fragen und Probleme durch eine intensive, teils affirmative und teils kritische Auseinandersetzung mit der kantischen kritischen Philosophie motiviert. Neben dem Betreiben philosophiehistorischer Studien zum Zweck systematischer Rekonstruktionen, die wiederum im Interesse gegenwärtiger eigener philosophischer Fragen und Probleme stehen, gibt es aber vielleicht auch ein rein historisches Interesse daran, zu verstehen, was bestimmte Personen philosophisch gedacht haben.
Im Folgenden möchte ich acht Thesen über einen guten und sinnvollen Umgang mit den Texten Hegels formulieren und begründen. Diese explizite Thesenformulierung soll einen kritischen Umgang mit dem von mir Behaupteten erleichtern. Es soll zugleich ein Verständnis von Geschichte der Philosophie, autorenorientiertem und systematischem Philosophieren entwickelt werden.
These 1. Eine Kernbedingung dafür, dass etwas eigenes, bzw. systematisches Philosophieren ist, besteht darin, dass genuin philosophische Behauptungen aufgestellt und begründet werden.
Diese Charakterisierung ist maximal weit bezüglich der gewählten Methode. Auch lässt sie zu, dass man sich mit anderen Autor*innen, ob nun zeitgenössischen oder früherer Zeiten, auseinandersetzt. Schwierig ist natürlich die Frage, wie man eine Behauptung als „genuin philosophische“ charakterisiert. Hier soll mit dieser Bezeichnung zunächst eine Abgrenzung zu empirisch zu begründenden Behauptungen aufgemacht werden. Da aber „nicht-empirisch begründbar“ erstens nicht völlig unstrittiges Merkmal philosophischer Aussagen ist und zweitens definitiv nicht hinreichend für die Bestimmung philosophischer Aussagen (so sind mathematische Aussagen wohl auch keine empirisch zu begründenden Aussagen), kann man alternativ auch die Fragen als genuin philosophisch bezeichnen, die in der heutigen Philosophie und in der Geschichte der Philosophie als Fragen diskutiert wurden. Ausgeschlossen werden soll mit der Wendung „genuin philosophisch“, dass bereits eine Behauptung des Typs „Hegel vertritt eine kausalistische Handlungstheorie“ als eigenständige und systematische philosophische Behauptung verstanden wird. Es handelt es sich hierbei um eine exegetische Behauptung, die empirisch darüber nachgewiesen wird, dass anhand von Textstellen und deren Interpretation die Übereinstimmung mit dem Theorietyp „kausalistische Handlungstheorie“ festgestellt wird. Auch dafür muss natürlich argumentiert werden, allerdings eben empirisch, d.h. auf Grundlage von Textbefunden, hermeneutischen Prinzipien und terminologischen Festlegungen. Das führt mich zu meiner zweiten These.
These 2. Man sollte klar unterscheiden zwischen Behauptungen über Philosoph*innen und deren Positionen – also Aussagen des Typs 1 „Autor*in A vertritt die Meinung, dass p“ – und Behauptungen philosophischen Gehalts, hinter denen man selbst steht und für die man systematisch argumentiert – also Aussagen des Typs 2 „Ich vertrete im Folgenden die These, dass p“.[2]
Wichtig ist, dass in einem Text Aussagen beiden Typs behauptet und begründet werden können. Diese zwei Behauptungstypen klar zu unterscheiden ist jedoch deshalb wichtig, weil für sie verschiedene Begründungsstandards gelten. Für die Geltung einer Aussage des Typs 2 ist es zum Beispiel irrelevant, ob Hegel diese Aussage behauptet hat. Für die Frage wiederum, ob Hegel eine bestimmte Aussage behauptet hat, ist es irrelevant, ob es für diese Aussage auch gegenwärtig gute Argumente gibt. Aber sind nicht, so könnte man einwenden, bereits das denkende Nachvollziehen einer philosophischen Position und damit das Argumentieren für Aussagen des Typs 1 systematisches Philosophieren? Ich glaube nein.
These 3. Sofern es sich bei dem Umgang mit einer philosophischen Position ausschließlich um eine verstehende Rekonstruktion handelt, also nur Aussagen des Typs 1 aufgestellt werden, möchte ich von dem Betreiben von Geschichte der Philosophie sprechen.
Erstens möchte ich anmerken, dass dieses Verständnis Grade zulässt. Eine rekonstruierende Auseinandersetzung mit einer Autorin kann stärker rein historischen Interessen oder stärker eigenen systematischen Interessen dienen. Zweitens fällt diesem Verständnis nach auch eine Auseinandersetzung mit jüngeren und jüngsten Philosophiedebatten unter den Begriff „Geschichte der Philosophie“, insofern eine solche Auseinandersetzung lediglich rekonstruierend vonstattengeht. Das mag dann kontraintuitiv erscheinen, wenn man bei der Rede von „Geschichte“ an Texte aus früheren Zeiten und Epochen denkt. Allerdings scheint mir die Art des Umgangs mit Texten und die gemachten Behauptungen das entscheidende Distinktionsmerkmal zu sein.[3]
Wie steht es aber mit der Beurteilung klassischer Argumente? Handelt es sich dabei nicht um ein genuines Philosophieren? Wenn man etwa Hegels Kritik an Kant und den von Hegel behaupteten Formalismus von Kants Ethik diskutiert und zu dem Schluss gelangt, dass die kantische Ethik diesem Einwand standhält, also argumentativ gegen den Vorwurf verteidigt werden kann – hat man dann nicht im genuinen Sinne philosophiert? Ich glaube jein.
Solange man nicht selbst für eine philosophische Position argumentiert, sich also etwa die kantische Position auch zu eigen macht, arbeitet man zwar philosophisch – man muss ja die Argumente rekonstruieren und darüber nachdenken, wie dem Einwand argumentativ begegnet werden kann. Allerdings denkt man dann weiterhin aus der Perspektive der Geschichte der Philosophie, solange man lediglich zu zeigen beansprucht, dass die Position gegen einen vorgebrachten Einwand verteidigt werden kann. Man muss dafür ja auch immerhin einen größeren Teil der kantischen Philosophie als gegeben voraussetzen, für den selbst auch argumentiert werden müsste.
Anders verhält es sich meines Erachtens mit Argumentationen für konditionale Zusammenhänge. Wenn man die Frage diskutiert, ob eine kausal vollständig determinierte Welt mit der Freiheit unseres Willens verträglich ist, und für die These argumentiert „Wenn die Welt kausal vollständig determiniert ist, dann ist die Freiheit unseres Willens unmöglich“, dann hat man zwar im strengen Sinne weder behauptet, dass unser Wille frei, noch, dass die Welt determiniert ist. Allerdings hat man dennoch für eine Aussage philosophischen Gehalts argumentiert. Insbesondere wird man für eine solche Argumentation nicht an vorgegebene philosophische Annahmen irgendeines Philosophen oder einer Philosophin anknüpfen.
Diese drei allgemeinen Thesen vorweggeschickt, im Folgenden nun fünf weitere Thesen spezifisch auf Hegel und den Deutschen Idealismus gemünzt. Dabei gehe ich davon aus, dass es sich bei der Auseinandersetzung mit Hegel zunächst um das Betreiben von Geschichte der Philosophie im genannten Sinne handelt – noch offen gegenüber der Frage, weshalb man diese verstehende und rekonstruierende Haltung Hegels Philosophie gegenüber einnimmt.
These 4. Man sollte klar zwischen drei verschiedenen Textsorten Hegels unterscheiden – (i) von Hegel verfasst und zu Lebzeiten publiziert, (ii) von Hegel verfasst aber erst posthum veröffentlicht (Vorlesungsnotizen, Briefe, Tagebucheinträge), (iii) weder von Hegel verfasst, noch zu Lebzeiten publiziert (Mit- und Nachschriften der Studenten in seinen Vorlesungen, Briefe an Hegel).[4]
Als Hauptquelle für Hegel und seine Philosophie sollten dabei primär Texte der ersten Sorte zählen. Darüber hinaus können die von Hegel verfassten, aber erst aus dem Nachlass veröffentlichen Texte verwendet werden. Allerdings ist die Tatsache, dass diese Texte von Hegel nicht zur Veröffentlichung freigegeben wurden, teils nicht einmal für diese vorgesehen waren, wie etwa seine Vorlesungsnotizen, wichtig für die Frage, welchen Status man diesen Texten zuschreibt und welche Schlüsse man dann daraus für Hegels Philosophie zieht. Erst an dritter Stelle stehen die Sekundärquellen über das von Hegel Gesagte, die Vorlesungsmit- und -nachschriften seiner Studenten. Insofern man für eigene systematische Interessen an Hegels Philosophie interessiert ist, sind natürlich auch die Vorlesungsmit- und -nachschriften von Interesse. Allerdings sollte man in diesem Fall deutlich machen, dass es sich dabei nicht mehr in jedem Fall und in jeder Hinsicht um zuverlässige Quellen für das handelt, was Hegel und seine Philosophie ausmacht.[5]
These 5. Eine systematische Rekonstruktion besteht in einer Reformulierung nach heute anerkannten sprachlichen und methodischen Standards, die möglichst weitgehend durch den Text Hegels gedeckt ist.
Hierbei ist ein Problem zu benennen: da Hegels Philosophie aus einem umfassenden System besteht, bei dem der Zusammenhang der verschiedenen Teile miteinander vielschichtig ist, ist insbesondere die Bedingung schwer zu erfüllen, dass die Reformulierung durch den Text gedeckt ist. Es besteht die Frage, mit wie vielen Textstellen die Rekonstruktion verträglich sein muss. Widersprüche wird man immer finden können (so verwendet etwa auch Kant an manchen Stellen das Wort „transzendent“, wo er „transzendental“ zu meinen scheint).
Wozu sollte man aber überhaupt systematisch rekonstruieren? Wenn es nicht um das Entwickeln und Begründen philosophiehistorischer Behauptungen geht (darüber, wie sich bestimmte Fragen entwickelt haben, wie ein*e Autor*in bestimmte Ideen entwickelt hat), sondern um die Frage, ob und inwiefern ein klassischer Text auch heute philosophisch noch von Interesse ist, dann muss dieser in eine Form gebracht werden, die heutigen Leser*innen zugänglich ist. Ein wichtiger Schritt hierbei ist das weitere Explizieren der klassischen Position. Denn häufig sind klassische Texte relativ zu den heutigen Explizitheitsansprüchen eher implizit verfasst. Außerdem ist die argumentative Struktur nicht immer eindeutig und einsichtig. Es müssen also Argumente rekonstruiert werden, so dass sie auch für heutige Fragen noch bewertet werden können.[6] Beispielsweise gibt es in der Hegelforschung die These, dass Hegel bezüglich handlungstheoretischer Fragen die These der Nicht-Separierbarkeit von Handlungsgrund und Handlungsvollzug behauptet. Neben dem exegetischen Nachweis, dass Hegel diese These tatsächlich vertritt, müsste dann weiter geklärt werden, worin sein Argument für diese These besteht. Eine systematische Rekonstruktion sollte auch die Rekonstruktion eines solchen Arguments enthalten.
Aber gibt es nicht auch noch so etwas wie einen systematischen Vorschlag im Geiste Hegels? Ich verstehe ein solches Vorhaben als systematisches Philosophieren im Sinne von These 1, allerdings mit dem Zusatz, dies im Rahmen einer bestimmten Denktradition zu tun. Der namentliche Bezug auf eine*n Autor*in und den „Geist“ seiner/ihrer Texte enthält die Behauptung, dass es so etwas wie einen Wesenskern oder ein familienähnliches Geflecht von Thesen und Zielen des jeweiligen Autors (z.B. Aristotelismus oder Platonismus) gibt, der eher lose mit tatsächlichen Texten in Verbindung steht. Meist wird in solchen Fällen die exegetische Mühe nicht mehr betrieben, sondern z.B. einfach von einem Kantianismus gesprochen. Da derartige Zuschreibungen meines Erachtens in den meisten Fällen eher Nachteile mit sich bringen, eine weitere These.
These 6. Zuschreibungen wie „Kantianer*in“ oder „Hegelianer*in“ sollten weitestgehend vermieden werden.
Zwar dienen solche (Selbst-)Zuschreibungen im mündlichen Diskurs, aber auch in einleitenden Texten der Orientierung für Hörer*innen und Leser*innen. Denn, sofern man mit diesen Labels überhaupt eine in etwa klare Position verbindet, weiß man bereits, vor welchem Hintergrund man das dann Gesagte oder Geschriebene zu verstehen hat. Allerdings stößt man bei dieser orientierenden Funktion meines Erachtens erstens schnell an Grenzen – was ist denn jetzt genau gemeint mit „Ich verstehe mich als Kantianerin“? Zweitens birgt sie die Gefahr für Missverständnisse und Vorurteile – „Ach wieder so ein Hegelianer“. Schließlich wirkt es sich drittens – so vermute ich zumindest – negativ auf die Vorstellungen über die Positionen aus, die diejenigen Autor*innen vertreten haben, deren Namen für das Label herhalten müssen. Man liest Fichte und denkt – „Oh je, dann brauche ich ja Kant erst recht nicht zu lesen“.[7] Aber gerade bei den schwierigen Texten der Idealisten führt kein Weg an einer Primärlektüre vorbei – nicht zuletzt auch deshalb, weil sich vermutlich die Klarheit von (Selbst-)Zuschreibungen wie „Kantianer*in“ oder „Hegelianer*in“ invers zu dem Schwierigkeitsgrad der Texte der entsprechenden Autoren verhalten. Wie erschließt man sich denn nun aber diese schweren Texte am besten?
These 7. Eine möglichst weitgehend durch den Text Hegels gedeckte Interpretation ist nur möglich, wenn man eine sehr kleinschrittige, Satz für Satz Interpretation der für die eigenen Fragen einschlägigen Textpassagen vornimmt.
Vermutlich wird diese These Manchen übertrieben erscheinen. Allerdings meine ich, dass auf der einen Seite noch viel zu viele falsche Ansichten über Hegel und seine Philosophie kursieren, die gerade auf einer nicht hinreichend gründlichen Textinterpretation beruhen. Und auf der anderen Seite bin ich überzeugt, dass erst eine kleinschrittige Satz-für-Satz-Interpretation (i) das ganze philosophische Potential der hegelschen Texte einzuholen und (ii) ein genaues Verständnis der argumentativen Zusammenhänge aufzudecken vermag. Schließlich ist eine solche Interpretation für die meisten Texte noch gar nicht vorgelegt worden, so dass darin ohnehin ein Forschungsdesiderat besteht. Für die Frage, wie eine solche kleinschrittige Interpretation aussehen könnte und vielleicht auch sollte, möchte ich exemplarisch auf die unbedingt zu empfehlende und meines Erachtens Maßstäbe setzende Studie von Michael Wolff verweisen Das Körper-Seele-Problem: Kommentar zu Hegel, Enzyklopädie (1830), § 389. Frankfurt am Main 1992.
Aber ist denn ein solcher Aufwand wirklich nötig? Wieso soll man sich nicht von den Texten inspirieren lassen dürfen? So oder ähnlich ließe sich ein weiterer Einwand formulieren. Dazu eine abschließende These.
These 8. Man sollte sich selbst darüber im Klaren sein oder sich darüber aufklären, worin die eigenen Erkenntnisinteressen bestehen.
Hat man eigene, systematische an Sachproblemen orientierte philosophische Fragen und ist nun daran interessiert, ob Hegel bei diesen weiterhelfen kann; oder ist man historisch daran interessiert zu erfahren, wie sich Hegel die Dinge gedacht hat, wie er zu seinen Fragen kam und auf welche Probleme er reagieren wollte? Insbesondere sollte das jeweilige Interesse in einem Text kenntlich gemacht werden, damit der Leserin wiederum eine Orientierung geboten wird, woran der Text zu bewerten ist. Viel zu häufig findet man in systematischen und gegenwärtigen Texten Aussagen des Typs 1, in denen dann etwas darüber behauptet wird, was Hegel so alles gemeint und gedacht habe, ohne dass dann auch nur im Ansatz die Mühe aufgewandt wird, dies anhand der Texte nachzuweisen. Umgekehrt findet man ebenso häufig Arbeiten, die eher exegetischen Zielen zu dienen scheinen und in denen dann aber vorschnell philosophische Behauptungen aufgestellt werden, für die nicht ansatzweise eigenständig und von Hegel unabhängig argumentiert wird. Die Behauptung, dass Hegel der Meinung war, dass p, macht p ebenso wenig wahr, wie eine Begründung von p bereits der Nachweis dafür wäre, dass Hegel auch der Meinung war, dass p.
Interessierten an Hegels Philosophie möchte ich zum Abschluss einige Tipps mit auf den Weg geben, wie man einen Einstieg in seine Philosophie finden könnte: Neben der empfehlenswerten Lektüre der bereits erwähnten Einführung in Hegels Philosophie von Dina Emundts und Rolf-Peter Horstmann bietet sich eine kleinschrittige und gründliche Lektüre der Vorreden und der Einleitung in die Wissenschaft der Logik, der Vorrede und Einleitung in die Enzyklopädie und der Vorrede und Einleitung in die Grundlinien der Philosophie des Rechts an. In diesen exoterischen Texten drückt sich Hegel weitaus verständlicher aus, als in den eigentlichen esoterischen und systemimmanenten Texten selbst. Man erfährt einiges über Hegels Philosophieverständnis, seine Motive und Interessen. Zudem gibt Hegel in diesen Texten selbst Lektürehinweise etwa dazu, welchen Status Haupttexte und Anmerkungen im Falle der Enzyklopädie und der Grundlinien haben.
[1] Ich zitiere aus folgender Ausgabe: G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Auf der Grundlage der Edition des Textes in den Gesammelten Werken Band 14, herausgegeben von Klaus Grotsch. Hamburg 2017. Dies ist die einzige historisch-kritische Ausgabe des Textes, die auch nur den von Hegel zum Druck freigegebenen Text enthält.
[2] Hierbei sollte „p“ dann natürlich für eine „genuin philosophische Aussage“ stehen.
[3] Nebenbei bemerkt hat auch die Geschichtswissenschaft kein Problem damit, von jüngster Geschichte und Zeitgeschichte zu sprechen. Epistemisch mag eine solche Auseinandersetzung natürlich besondere Schwierigkeiten mit sich bringen, da man selbst noch stärker in seinen Forschungsgegenstand involviert ist, je näher er historisch und kulturell an der eigenen Zeit und Gesellschaft liegt.
[4] Die Unterscheidung übernehme ich aus Dina Emundts/Rolf-Peter Horstmann, G.W.F. Hegel. Eine Einführung. Stuttgart 2002, 16.
[5] Viel zu häufig werden Behauptungen des Typs „Hegel vertritt einen so-und-so-ismus“ lediglich gestützt mit Zitaten aus Vorlesungsmit- und -nachschriften.
[6] Dies kann natürlich auch für heute verfasste Texte gelten. Auch manch jüngere Debatte innerhalb der analytischen Philosophie hat sich an mittlerweile schon klassischen aber notorisch mehrdeutigen Texten entbrannt, wie etwa die Debatte um Willensfreiheit und moralische Gefühle an Peter Frederick Strawsons Freedom and Resentment, oder Debatten um Wollungen höherer Ordnung an dem Aufsatz Harry Frankfurts Freedom of the Will and the Concept of a Person.
[7] Diese Probleme betreffen übrigens auch rein systematische Charakterisierungen wie „Skeptiker*in“ oder „Anti-Realist*in“.
[1] Allerdings haben sie auch bereits für damalige Leser*innen große Verständnisschwierigkeiten mit sich gebracht. Was mit der Rede von dem „Deutschen Idealismus“ gemeint sein könnte, aber auch was damit nicht gemeint sein sollte, klärt folgender empfehlenswerter Aufsatz Walter Jaeschkes: W. Jaeschke, „Zum Begriff des Idealismus“, in: C. Halbig/M. Quante/L. Siep (Hrsg.), Hegels Erbe. Frankfurt a.M. 2004, 164-183.
Thomas Meyer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrbereich für Klassische Deutsche Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.