Philosophie und Geschichte der Philosophie. Überlegungen zu einer “philosophischen” Geschichte der Philosophie

Von Laura M. Castelli (München)

In dem Dialog, der das letzte Gespräch von Sokrates im Kreise seiner engsten Freunde vor seinem Tod darstellt, skizziert Platon eine Art philosophische Biographie von Sokrates selbst: nach seiner jugendlichen Begeisterung für die „Weisheit“ (sophia), „welche man die Naturkunde (peri physeos historian) nennt“, und nach der Enttäuschung über die grundsätzlich mechanistischen Erklärungen, die er bei den Naturforschern findet, trifft Sokrates eine Entscheidung von großer Tragweite – für Sokrates selbst und für die Philosophie und ihre Geschichte. Seinem ursprünglichen Interesse für eine Ursache oder einen Grund (aitia) dafür, dass die Welt und die Sachen darin so sind, wie sie sind, geht er nach, ohne direkt nach einer solchen Ursache oder nach einem solchen Grund zu fragen: „sondern mich dünkt, ich müsse zu den Gedanken (logoi) meine Zuflucht nehmen, und in diesen das wahre Wesen der Dinge anzuschauen. […] und indem ich jedesmal den Gedanken zum Grunde lege, den ich für den stärksten halte: so setze ich, was mir scheint mit diesem übereinzustimmen, als wahr, es mag nun von Ursachen die Rede sein oder von was nur sonst, was aber nicht, als nicht wahr“ (Phaidon, 99e-100a; Schleiermachers Übersetzung). Das griechische Wort, dass hier mit „Gedanke“ übersetzt wird, logos, ist bekanntermaßen schwer zu übersetzen; auf Englisch wird es häufig mit „account“ übersetzt, wobei der englische Ausdruck die gewisse Unbestimmtheit des griechischen Ausdrucks widerspiegelt. Die Beschreibung des Verfahrens im platonischen Text verdeutlicht die Natur der sokratischen Entscheidung: bei der Suche nach einem letzten Grund und Prinzip der Dinge werden Thesen und Gedanken auf Konsistenz mit den jeweils stärksten Hypothesen geprüft; diese Prüfung wird mittels Argumente durchgeführt.  

Diese Entwicklung des Denkens von der Naturphilosophie der sogenannten „Vorsokratiker“ zur Zuflucht in die logoi kann als Anfang einer Geschichte der Philosophie gelesen werden, die von den Philosophen selbst geschrieben wurde. Sokrates‘ „Zuflucht“ in die logoi wird von Platon als eine Trennung von einer früheren Tradition dargestellt. Ob die mögliche Kontinuität in den Fragen, denen Sokrates nachgeht, trotz Spaltung in der Methode eine Kontinuität in der Tätigkeit der Philosophie begründet, wird vom platonischen Text offen gelassen. Genau jene Denker, von denen Sokrates in Platons Phaidon Abstand nimmt, gehören aber für Aristoteles, Platons wichtigsten Schüler, zu der relativ vielfältigen Tradition der griechischen Philosophie, aus der Aristoteles selbst seine eigene Philosophie entwickelt. Bei Aristoteles werden Erörterungen von metaphysischen, naturphilosophischen, ethischen und politischen Fragen häufig mit einer Darstellung der Meinungen und Argumente der Vorgänger eingeführt. Insbesondere arrangiert Aristoteles die Argumente seiner Vorgänger als entgegengesetzte und scheinbar gleich berechtigte Arten und Weisen ein gewisses Problem anzugehen. Diese Darstellung betont die Schwierigkeiten, ein gewisses Problem zu durchdringen – Schwierigkeiten, die (Aristoteles nach) der aristotelische Ansatz überwinden kann. Aristoteles‘ Verfahren kann man auch als philosophisches Schreiben einer Geschichte der Philosophie betrachten, in der die besprochenen Probleme aus einer Tradition abstammen und in die gleichzeitig einige Figuren und Thesen genau dadurch hineingezogen werden, dass sie als Teilnehmer an einer Debatte mit eigenen Argumenten angesehen werden. Viele von den sogenannten Vorsokratikern, die heutzutage ganz am Anfang der Geschichte der westlichen Philosophie auftreten, besetzen eine solche Stelle in der Geschichte der Philosophie (und nicht nur in der Geschichte der Naturwissenschaften oder in der Geschichte der Religion) in großen Teilen, weil Aristoteles dachte, dass hinter der häufig literarischen Gestalt ihrer Schriften Argumente entdeckt werden können. Es ist häufig schwer zu sagen, wie die ursprünglichen Formulierungen der von Aristoteles erwähnten Argumente aussahen; aber Aristoteles zeigt Interesse daran, den anderen Denkern explizite Argumente auf eine solche Weise zuzuschreiben, dass sie sie als eigene Argumente erkennen oder zumindest zulassen würden (s. e.g. Met. A 10, 993a22-24).     

Die Beispiele von Philosophen, die Interesse an der Geschichte der Philosophie gezeigt haben, könnten beliebig erweitert werden; um zwei ganz unterschiedliche Fälle zu erwähnen, kann man an Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie oder an Russells History of Western Philosophy denken. Aber die Probleme über den Zusammenhang zwischen Philosophie und Geschichte der Philosophie, die ich besprechen möchte, erheben sich schon bei Platon und Aristoteles. Solche Probleme betreffen nicht nur die Beschreibung und Einschätzung der geistigen Tätigkeit von Menschen, die zeitlich von uns entfernt sind, sondern auch im Allgemeinen die Beschreibung und Einschätzung der geistigen Tätigkeit von Menschen, die in Zeit, Raum und/oder Kultur von uns entfernt sind.

Wenn man eine Geschichte der Philosophie schreibt, stellt sich sofort die Frage nach den Merkmalen, die man als für die Philosophie charakteristisch im Vergleich zu anderen Arten des geistigen Bestrebens nehmen müsste. In der platonischen Darstellung treten eine besondere Motivation (das Streben nach Weisheit), besondere Inhalte (eine grundsätzliche Frage nach der Ursache oder dem Grund von allem, was ist) und eine besondere Methode (eine Methode der expliziten Argumentation, die nach innerer Konsistenz sucht) auf. Jede von diesen Komponenten spielt beim Aufbau eines Bildes der Philosophie als Streben der Vernunft nach Weisheit mit den anderen zusammen. Dieses Bild der Philosophie ist ein (mit Sicherheit etwas vereinfachtes aber grundsätzlich getreues) Bild der griechischen Philosophie, die für viele von uns (westlichen Menschen, die in irgendwelchen mit Bildung zusammenhängenden Kontexten von Philosophie gehört haben) das paradigmatische Beispiel von Philosophie ist: wenn es irgendwann Philosophen gegeben hat, dann waren Sokrates, Platon, Aristoteles, Zenon oder Epicurus mit Sicherheit und trotz ihrer Verschiedenheiten einige davon. In diesem Sinne könnte man sagen, eine übliche (auch wenn eventuell naive und zu verfeinernde) Vorstellung der Philosophie beruht auf einer Art Geschichte der Philosophie, von der man in der Schule (oder wo auch immer) gelesen bzw. gehört hat.

Anhand dieses Bildes der Philosophie stellt sich die Frage, ob und wie viele von den oben genannten Merkmalen vorhanden sein müssen, damit von Philosophie überhaupt die Rede sein kann. Um die Tragweite der Antwort auf diese Frage zu sehen, mögen ein paar Beispiele genügen. Wenn das Streben nach Weisheit und der Versuch, die Welt und die menschliche Tätigkeit als Teil davon zu verstehen, als wesentliche Merkmale oder sogar wesentliche Aufgaben der Philosophie betrachtet werden, dann könnte man einen großen Teil der gegenwärtigen Werke von professionellen Philosophen so wie auch der mittelalterlichen Scholastik als grundsätzlich nicht philosophisch betrachten (auch wenn sie die feinsten Argumentationsmethoden anwenden, um relativ abstrakte Fragen zu beantworten). Wenn man andererseits den Gebrauch von ausdrücklich formulierten Argumenten als wesentliches Merkmal der Philosophie betont, dann sind wahrscheinlich zumindest einige Vorsokratiker, die ganze mystische Tradition so wie auch viele nicht-westliche Traditionen aus dem Bereich der Philosophie ausgeschlossen, egal ob sie sich mit grundsätzlichen Fragen über den Kosmos und das menschlichen Dasein auseinandersetzen. Man kann mehr oder weniger plausible Gründe haben, die eine oder die andere Komponente des „paradigmatischen“ Bildes zu betonen bzw. zu dämpfen, aber es sollte auf alle Fälle klar sein, dass es nicht wirklich möglich scheint, eine Geschichte der Philosophie zu schreiben, ohne irgendeine Vorstellung zu haben, was überhaupt als Philosophie zählt.

In dieser Hinsicht könnte man sagen, dass keine Geschichte der Philosophie geschrieben werden kann, ohne auch gleichzeitig eine gewisse philosophische Perspektive (mehr oder weniger explizit) zu vertreten. Man kann aber auch fragen, wie man auf eine gewisse Vorstellung der Philosophie überhaupt kommt, wenn nicht durch eine Darstellung zumindest eines Teils der Geschichte der Philosophie. Ich habe oben ein Bild der griechischen Philosophie als „paradigmatisch“ bezeichnet, und diesen Schritt habe ich mit der Vermutung gerechtfertigt, dass ein Konsens darüber wahrscheinlich scheint, dass wenn überhaupt etwas den Namen „Philosophie“ verdient, dass dann Sokrates‘, Platons und Aristoteles‘ Tätigkeit mit Sicherheit darunter fallen. Und – so würde ich hinzufügen – egal wie man diese Vorstellung der Philosophie verfeinern oder entwickeln möchte, sollten Platon und Aristoteles unter jedem Verständnis von Philosophie als Philosophen zählen. Ist es denn überhaupt möglich, eine Geschichte der Philosophie zu erzählen, die die Antwort zu der Frage über ihre eigenen Grenzen nicht vorwegnimmt? Und wäre ein solches Vorhaben überhaupt wünschenswert? Diese Fragen sind keine rhetorischen Fragen – im Gegenteil. Im Folgenden möchte ich ein paar Überlegungen teilen, die m. E. in einer ehrlichen und ernsthaften Erörterung von solchen Fragen eine Rolle spielen müssen.    

Eine Geschichte der Philosophie ohne auch nur implizite Annahmen über die Natur der Philosophie selbst scheint nicht möglich zu sein. Selbst wenn man als Kriterium für die Inklusion in die Geschichte der Philosophie die relativ dünne Tatsache nimmt, dass ein Denker oder ein Argument oder eine Familie von Ideen von jemandem (egal wo und wann) als „philosophisch“ betrachtet wird, muss man irgendeine Vorstellung der Philosophie haben, wenn man eine Geschichte „der Philosophie“ und nicht eine Geschichte „der Philosophien“ schreibt. Und selbst wenn man von einer Pluralität von Philosophien reden möchte, muss man irgendwann auf die Frage eingehen, warum alle als „Philosophie“ zählen. Eine solche inklusive Geschichte der Philosophie hat Vor- und Nachteile. Ein Vorteil ist, dass sie eine faire und politisch korrekte Geschichte wäre. In diesem Sinne wäre sie der Ort, wohin die Menschen schauen sollten, die erneut die Frage stellen, was Philosophie überhaupt ist. Der Hauptnachteil einer solchen Geschichte der Philosophie ist m.E., dass die entsprechende breite Auffassung der Philosophie hoch wahrscheinlich wenige Philosophen ansprechen wird, die eine stärkere Auffassung der Aufgaben der philosophischen Arbeit haben. Insbesondere besteht das Risiko, dass eine solche Geschichte der Philosophie als „unphilosophisch“ betrachtet wird und dass dementsprechend die Spaltung zwischen Philosophie und Geschichte der Philosophie in der Gegenwart unüberbrückbar wird.

Ob eine Solche Spaltung gut oder schlecht ist, hängt mit weiteren Fragen zusammen. Insbesondere hängt die Frage, ob die Geschichte der Philosophie eine Rolle für die und in der gegenwärtigen Philosophie spielen kann, mit der Frage zusammen, ob die Philosophie solche Fortschritte machen kann bzw. gemacht hat, dass die Geschichte der Philosophie und damit die Vergangenheit der Philosophie ohne Schaden und Verluste einfach zurückgelassen werden können. Die Antwort zu dieser Frage ist auf keinen Fall selbstverständlich und wäre an sich ein Thema für einen – oder sogar mehrere weitere Beiträge. Ich denke, dass beide, Philosophie und Geschichte der Philosophie, bei einer Spaltung nur verlieren können, und möchte kurz eine Aufgabe für eine philosophische Geschichte der Philosophie besprechen, die eventuell zu der „Inklusivität“ komplementär ist. 

Dass die inklusive Geschichte der Philosophie die oben erwähnten Vorteile haben kann, impliziert nicht, dass die breite Vorstellung der Philosophie, die implizit dahinter steckt, auch die beste Vorstellung ist, um die Philosophie an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt zu verstehen bzw. einzuschätzen. Insbesondere enthält die breite Auffassung der Philosophie der inklusiven Geschichte keine Vorschrift, dass wir auch in unserer Tätigkeit als Philosophen eine entsprechend breite Perspektive haben müssen, was wir hier und jetzt als philosophisch interessant oder relevant anerkennen. Und wenn die Geschichte der Philosophie auch noch etwas zur Gegenwart sagen muss, muss sie auch mit Blick auf die Probleme und die Argumentationen der gegenwärtigen Philosophie geschrieben werden. „Mit Blick auf“ heißt nicht, dass die Gegenwart bestimmt, was wichtig oder relevant ist (Platon und Aristoteles brauchen mit Sicherheit eine solche Anerkennung NICHT!). Es heißt vielmehr, es ist eine Aufgabe für jene, die die Geschichte der Philosophie erforschen und schreiben, die Probleme und die Argumente der Philosophie der Vergangenheit zugänglich und verständlich für die heutige Philosophie zu machen. Diesbezüglich bietet das oben beschriebene aristotelische Verfahren ein paar Anknüpfpunkte. Die Aufnahme von Autoren und Texten in die Geschichte der Philosophie ist gleichzeitig eine Aufnahme derselben in eine philosophische Diskussion – und umgekehrt. Die Aufnahme muss (mindestens) zwei grundsätzliche Kriterien erfüllen. Erstens: die Argumente, auch wenn sie nicht explizit von den ursprünglichen Autoren formuliert wurden, müssen für die Autoren selbst irgendwie „erkennbar“ sein. Zweitens: die gleichen Argumente müssen auch für die anderen Teilnehmer an der philosophischen Debatte, die solche Argumente umschließt, verständlich sein. Um das erste Kriterium zu erfüllen, sind philologische und historische Kompetenzen unverzichtbar. Um das zweite Kriterium zu erfüllen, sind Kontakt zu und Verständnis der gegenwärtigen philosophischen Debatten notwendig. Diese doppelte Verantwortung, Anachronismus zu vermeiden und gleichzeitig Verständlichkeit (die auch eine Voraussetzung für Interesse ist) zu ermöglichen, ist – denke ich – die wichtigste und die anspruchsvollste Aufgabe für eine Geschichte der Philosophie, die ihr philosophisches Engagement mit Absicht und nicht nur implizit sichtbar machen will und als Stärke entwickeln kann.

Dr. Laura M. Castelli ist Philosophin an der LMU München.