Populäre Moralphilosophie und moralische Expertise
von Frauke Albersmeier (Düsseldorf) und Alexander Christian (Düsseldorf)
Öffentliches Interesse an Philosophie richtet sich häufiger als auf die Probleme der theoretischen auf jene der praktischen Philosophie. Fragen nach den Grenzen des Wissens oder dem Wesen von Emotionen werden eher an Psychologen und Kognitionswissenschaftler, solche nach der Beschaffenheit der Welt an Physiker oder Biologen gerichtet, während Philosophinnen und Philosophen für Fragen der individuellen Lebensführung, nach kollektiven Pflichten, Gerechtigkeit und Freiheitsansprüchen weiterhin zu den naheliegenden Ansprechpartnern gezählt werden. Manche Philosophen sprechen durchaus bereitwillig z.B. über die sog. Flüchtlingskrise, Sterbehilfe oder die moralischen Rechte von Tieren. Zu lesen ist dann beispielsweise, dass die deutsche Regierung sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung durch Flüchtlinge preisgegeben hätte, obwohl es keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung gebe (Peter Sloterdijk in einem Interview mit der Zeitschrift Cicero). Sterbehilfe sei moralisch inakzeptabel, da der Mensch um den Akt des Sterbens betrogen werde und es keine gute Art des Tötens gebe (Robert Spaemann: Euthanasie in der Zeit). Tiere dürfe man essen, weil die meisten Nutztiere eben Augenblicksgeschöpfe seien, denen man nicht viel nehme, wenn man sie nach einem guten Leben rasch und schmerzlos tötet und durch andere Tiere der gleichen Art ersetzt (Konrad Ott in einem Interview in der taz).
Ist aber jede solche öffentliche Äußerung eines Philosophen schon ein Stück populärer Philosophie? Das öffentliche Auftreten als Philosoph zumindest suggeriert, dass die kundgetane Bewertung eines moralischen Problems ein philosophisches Fundament hat. Gerade diese Annahme motiviert ja dazu, dem Philosophen die Rolle eines ‚moral experts‘ zuzuweisen. Welche Art ‚moralischer Expertise‘ aber genau erwartet wird, kann von Fall zu Fall unterschiedlich und durchaus unklar sein – ebenso wie das Selbstverständnis des vermeintlichen Experten. Geht es darum, einen moralphilosophischen Experten oder eine moralische Autorität zu hören? Soll die Philosophin als Wegweiserin durch die gegenwärtige Diskussionslandschaft oder als Vertreterin einer Position darin zu Wort kommen? Wird ihr eine adäquate Bewertung aufgrund ihrer eigenen Fachbeiträge oder, diffuser, einfach aufgrund der Zugehörigkeit zur Disziplin abverlangt? Wir beschäftigen uns in diesem Eintrag mit Schwierigkeiten, die sich aus wissenschaftsphilosophischer und moralphilosophischer Perspektive ergeben, wo Moralphilosophen und -philosophinnen als moralische Experten – in der einen oder anderen Ausprägung – auftreten.
Auftrag zur Popularisierung
Eine Besonderheit von Disziplinen, die sich mit normativen Fragen auseinandersetzen, besteht gerade darin, dass sich aus der Tätigkeit in dieser Disziplin der Auftrag ergeben kann, Ergebnisse öffentlich zu machen und zwar in dem Maße, wie die normativen Fragen öffentliche Probleme betreffen. Wer sich in der normativen Wissenschaftstheorie mit Kriterien der Unterscheidung von Wissenschaft und Pseudowissenschaft auseinandersetzt, dem ist die Kostenübernahme für homöopathische Behandlungen durch Krankenkassen, die Lehre von kreationistischen Theorien an evangelikalen Privatschulen und die kostenpflichtige Beratung von Menschen durch TV-Astrologen nicht gleichgültig. Ebenso verhält es sich in der normativen und angewandten Ethik. Wer sich mit Theorien globaler Gerechtigkeit beschäftigt, der wird auch zur Frage des Umgangs mit Geflüchteten und der sog. Flüchtlingskrise eine professionell bedingte Haltung haben. Wer ein aufrichtiges Interesse an der normativen Frage seiner philosophischen Disziplin und eine wohlbegründete Antwort darauf formuliert hat, muss eigentlich auch ein ernsthaftes Interesse daran haben, diese Antwort öffentlich bekannt zu machen, überzeugend zu verteidigen und letztlich praktisch umzusetzen. Liegt nicht letztlich sogar ein performativer Widerspruch darin, die handlungsleitende Antwort auf eine normative Frage nur rein theoretisch zu vertreten?
In der Wissenschaftstheorie ergibt sich der Auftrag zur Popularisierung streng genommen nicht direkt aus der wissenschaftsphilosophischen Reflexion von Demarkationskriterien, sondern ist der zusätzlichen Annahme geschuldet, dass Geld im Gesundheitswesen nicht für medizinisch wirkungslose Therapien verschwendet werden sollte, Falschheiten nicht als wissenschaftliche Theorien gelehrt und ratsuchende Menschen nicht Sterndeutern ausgeliefert werden sollten. In diesen Fällen wird ein innerdisziplinäres Forschungsergebnis mit einer zusätzlichen moralischen Bewertung verbunden. Auch ob der Wissenschaftstheoretiker die Pflicht hat, mit seinen Erkenntnissen gegen Pseudowissenschaften vorzugehen, ist selbst eine moralische Frage, die nicht direkt in sein Fachgebiet fällt. Im Fall der Moralphilosophie hingegen ergibt sich der Auftrag zur Popularisierung gegebenenfalls direkt im Kontext der Disziplin: ob es geboten ist, den eigenen Antworten auf die Fragen des Fachs zu praktischer Relevanz jenseits des Fachdiskurses zu verhelfen, stellt sich als moralische Frage wieder der Moralphilosophin selbst.
Wertungen abseits des Katheders
Gleichzeitig besteht aber die Befürchtung, dass Wissenschaftler – und auch Philosophen – ihre fachlichen Kompetenzen überschreiten, wenn sie als Experten für moralische Fragen auftreten. Dies ist ein altbekanntes Thema in der Wissenschaftsphilosophie. Bereits während des sog. Werturteilsstreits in der deutschsprachigen Soziologie zu Zeiten von Max Weber wurde von Vertretern der Wertneutralitätsforderung befürchtet, dass Professoren in der akademischen Ausbildung ihre eigene idiosynkratrische und moralisch konnotierte Weltsicht in Vorlesungen auf ihre Studenten und Studentinnen übertragen könnten. Um dies zu vermeiden, sollten Wissenschaftler sich laut Weber im Rahmen der akademischen Ausbildung hinsichtlich Werturteilen möglichst zurückhalten oder diese als solche kenntlich machen, um nicht mit der Autorität der Wissenschaft von der Kanzel herab zu predigen bzw. vom Katheder aus Wertungen zu propagieren. Begründet war diese Forderung erstens durch die metaethische Annahme, dass werthafte Überzeugungen über politische und wirtschaftliche Ziele oder kulturelle Werte keiner empirisch-wissenschaftlichen Begründung fähig sind, sondern in einem öffentlichen Diskurs erarbeitet werden sollten. Zweitens sah Weber das Risiko, dass sich Studentinnen und Studenten unkritisch und beindruckt von der argumentativen Brillanz der Lehrenden indoktrinieren ließen und gerade nicht als mündige Bürgerinnen und Bürger die Hochschulen verlassen.
Von der Forderung zur Wertneutralität im professionellen Handeln von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sah Weber allerdings nicht die Möglichkeit berührt, dass diese als Privatpersonen an gesellschaftlichen Diskursen teilnehmen. Tatsächlich werden Wissenschaftler in öffentlichen Diskussionen aber eben nicht als Privatpersonen um Stellungnahmen gebeten, sondern werden als Experten angesprochen, deren Antworten eine gewisse Verbindlichkeit unterstellt wird. Das Szenario, um das der Werturteilsstreit kreist, unterscheidet sich ohnehin vom Problem der angemessenen Popularisierung von Moralphilosophie. Indem es bei letzterem gerade um die öffentliche Äußerung geht, ist nicht an eine Situation gedacht, in der das Publikum dem Philosophen so ausgeliefert wäre wie Studenten dem Professor im Hörsaal. Bewertungen, die der öffentlich auftretende Philosoph vornimmt, finden gerade abseits des Katheders statt. Philosophen sind außerdem keine empirischen Wissenschaftler, sondern agieren in einer oft inhärent normativen Disziplin. Aus dieser Betätigung selbst kann schließlich der Auftrag zum öffentlichen Wirken erwachsen.
Aus der wissenschaftsphilosophischen Diskussion der Wertneutralitätsforderung kann man also keine direkten Schlüsse für das öffentliche Auftreten von Moralphilosophinnen ziehen. Vielmehr muss unabhängig davon bestimmt werden, worin ihre mögliche moralische Expertise besteht und wie sie konkret ausgeübt werden kann.
Moralische Expertise?
Darüber, worin die Beiträge der sich öffentlich äußernden Philosophin bestehen können und sollten, darüber können ihre eigenen Auffassung und diejenige von Gesprächspartnern und Publikum auseinandergehen. Der Interviewer, der ein interessantes Streitgespräch herbeiführen möchte, erwartet mutmaßlich pointierte moralische Positionierungen, während mancher philosophische Experte seine Aufgabe vielleicht eher darin sieht, auf moralische Fragen einen kundigen Überblick über Antwortoptionen aus der philosophischen Diskussionslandschaft zu geben. Allerdings kann man durchaus beides als Ausübung moralischer Expertise im Sinne moralphilosophischer Expertise verstehen. Nicht nur die Zugänglichmachung der weiteren Fachdiskussion, sondern auch die Darlegung der eigenen Position kann als Popularisierung von Moralphilosophie gelten: es wird dann eben das eigene Argument für eine moralphilosophische Position allgemeinverständlich erläutert.
Dafür, sich auf die Darstellung des Fachdiskurses zu verlegen, könnte das demütige Eingeständnis sprechen, dass die eigene moralphilosophische Expertise den Philosophen noch nicht zum moralischen Experten in dem Sinne macht, dass er auch tatsächlich die richtige oder zustimmungsfähigste Position vertritt. Es ist schließlich nicht offensichtlich, dass Moralphilosophen qua Kenner ethischer Theorien – oder allgemeiner: praktische Philosophen qua Kenner normativer Theorien – sich ipso facto als moralische Experten oder Autoritäten empfehlen. Denn ein verbindlicher, unumstrittener Rahmen erstens für moralische Bewertungen selbst und deshalb zweitens für die Identifizierung moralischer Experten existiert nicht. Hinzu kommt das Problem, dass der Besitz von akademischem Wissen über Theorien der Moral, Argumente und musterhafte Antworten auf moralische Fragen einerseits und die Disposition zum moralisch guten Handeln andererseits prinzipiell auseinanderfallen können, beispielsweise aufgrund von Willensschwäche, mangelnder Integrität und – aus Sicht der Tugendethik – unzureichender Einsicht und Verinnerlichung. Die praktische Dimension moralischer Expertise wird in der akademischen Philosophie nicht relevant – moralphilosophische Fachausbildung produziert nicht unbedingt bessere Menschen.
Moderatoren oder Diskutanten?
Sollten sich deshalb moralphilosophische Experten hauptsächlich als Wegweiser durch die ethische Theorienlandschaft oder doch als Verfechter spezifischer Positionen in öffentliche Debatten einbringen? Allgemeine Probleme der Popularisierung – wie die Verkürzung und Übervereinfachung komplexer philosophischer Probleme – stellen sich in jedem Fall und weisen deshalb in keine bestimmte Richtung.
Unterschiedliche Auffassungen zur Rolle des moralphilosophischen Experten zeigen sich beispielhaft in einem Interview aus der ZEIT über Tierrechte und Fleischkonsum mit Herwig Grimm und Friederike Schmitz. Nachdem Schmitz die Eingangsfrage des Interviewers, ob der Verzehr eines Schinkenbrots unmoralisch sei, bereitwillig und begründet bejaht, äußert Grimm: „Ethiker sind keine Schiedsrichter. Meine Aufgabe ist es nicht, zu urteilen, sondern zur selbstständigen Urteilsfindung beizutragen.“ Unmittelbar danach hält er jedoch fest: „Die Art, wie wir Nutztiere züchten, behandeln und schlachten, ist ethisch hoch problematisch. Aber einfach ihr Ende zu fordern ist etwas zu einfach.“ Hier werden also sehr wohl Urteile gefällt, nämlich über die Problemhaftigkeit der gängigen Praxis und vor allem eine falsche, weil „zu einfache“ praktische Forderung in Anbetracht des Problems. Worin deren vermeintliche Unterkomplexität besteht, wird allerdings nicht erläutert, und ob sie der wirkliche Grund für die Ablehnung der kritisierten Forderung ist, bleibt somit fraglich. Grimms Äußerung verdeutlicht eine dritte Auffassung von moralphilosophischer Expertise, die nämlich weder in der Darstellung des moralphilosophischen Diskurses, noch der Darlegung eines eigenen Arguments besteht, sondern in der Hilfestellung bei der moralischen Urteilsfindung. Offensichtlich problematisch ist dann, wenn entgegen eines solchen Bekenntnisses zur Neutralität doch eine eigene moralische Position forciert wird.
Ist nicht darüber hinaus die Behauptung, dass Ethiker „keine Schiedsrichter“ in moralischen Fragen seien, ohnehin fragwürdig? De facto treten Philosophen in der normativen und angewandten Ethik nicht als neutrale Diskursmoderatoren auf, sondern verteidigen ihre Standpunkte. Die Ausklammerung von Urteilspraxis karikiert die akademische Moralphilosophie. Trotzdem könnte es eine legitime Option sein, sich zumindest bei ihrer Popularisierung auf einen neutraleren Standpunkt zurückzuziehen und zu versuchen, dem Publikum lediglich philosophisches Rüstzeug an die Hand zu geben, um zu eigenen moralischen Bewertungen zu kommen. Aber nicht einmal das kann Grimms Anliegen sein, da er glaubt: „Die Moralisierung von Debatten führt nur zur Zementierung der Fronten“. Die vermeintliche Zurückhaltung eines Urteils mündet in diesem Fall also darin, die Berechtigung einer moralischen Bewertung überhaupt infrage zu stellen – obwohl zuvor eingestanden wurde, dass das Phänomen ethisch hoch problematisch ist. Anstatt Moralphilosophie zu popularisieren wird letzten Endes für die Vermeidung von Philosophie plädiert.
Im starken Kontrast zu dieser Herangehensweise stehen Versuche, den Ergebnissen der eigenen akademischen Auseinandersetzung mit einem als ethisch problematisch identifizierten Phänomen Breitenwirkung zu verleihen. Wenn beispielsweise der politische Philosoph Will Kymlicka anlässlich des Erscheinens der deutschen Übersetzung von Zoopolis (Donaldson & Kymlicka 2013) in der Süddeutschen Zeitung von der Anwendbarkeit des kategorischen Imperativs auf das Verhalten gegenüber Tieren spricht, so liegt gerade der Fall vor, dass mit dem öffentlichen Auftreten der eigenen philosophischen Position entsprechend gehandelt wird: Die philosophische Arbeit an Lösungen für ein Gerechtigkeitsproblem generiert den Auftrag, auch im nichtakademischen Bereich für diese Lösungsansätze zu werben. Auch wenn dabei – in einem kurzen Zeitungsinterview – nicht der philosophische Argumentationsgang eines 600-Seiten-Buches aufgerollt werden kann, ist doch bei Kymlicka zu jeder Zeit transparent, dass moralisch geurteilt und für einen spezifischen Standpunkt argumentiert wird. Er tritt nicht als neutraler Diskussionsleiter, sondern als Teilnehmer einer akademischen Diskussion auf, deren Inhalte nach Popularisierung verlangen.
Grundregeln
Eine solche Popularisierung von Moralphilosophie kann quasi zwangsläufig in Aktivismus übergehen. Für politischen Aktivismus jedoch ist dann nicht mehr unbedingt redliches philosophisches Argumentieren das Mittel der Wahl. Wer in öffentlichen Diskussionen das Publikum überzeugen möchte, hat ggf. mit suggestiver bildlicher Sprache, dem Unterschlagen von Hintergrundannahmen, Autoritätsargumenten etc. bessere Karten. Insofern kann sich aus einer philosophisch begründeten Position der Auftrag ergeben, über die Popularisierung dieser Position hinauszugehen und in der Überzeugungsarbeit die Mittel der Philosophie hinter sich zu lassen.
Solange aber gegenüber der Philosophin die berechtigte Erwartung einer Popularisierungsleistung besteht, es also um die Zugänglichmachung philosophischer Inhalte geht, wäre eigentlich eine gewisse Qualitätssicherung wünschenswert. Philosophen, die öffentlich als Experten für moralische Fragen auftreten, …
- sollten zum Thema tatsächlich geforscht und publiziert haben,
- sollten ihre Argumentation transparent machen, d.h. die Argumentationsstruktur und die normativen und deskriptiven Prämissen in ihrer Argumentation offenlegen,
- sollten das zur Disposition stehende moralische Problem korrekt darstellen, d.h. Schadensnehmer, konkrete Schäden, Handlungsoptionen, Wahrscheinlichkeitseinschätzungen und ggf. eine Einschätzung der Rechtslage angeben,
- sollten darauf hinweisen, falls für die Entscheidungsfindung dienliche Informationen fehlen,
- sollten den bestehenden moralischen Diskurs zum Thema angemessen darstellen, insbesondere sollte darauf hingewiesen werden, wenn die eigene Position eine Sonderstellung im moralischen Diskurs einnimmt oder ein überwältigender Konsens in bestimmten moralischen Fragen zu konstatieren ist, und
- sollten den eigenen moralischen Standpunkt kenntlich machen und gegebenenfalls vorhandene Interessenkonflikte offenlegen.
Diese Grundregeln könnten helfen, die Popularisierung von Moralphilosophie in öffentlich geführten Diskussionen über moralische Probleme in konstruktive Bahnen zu lenken, Missverständnissen vorzubeugen und moralische Experten kritisch einzuordnen. Alle Regeln könnten so verstanden werden, dass sich die popularisierende Moralphilosophin durch ihre Befolgung als Expertin (für zukünftige Stellungnahmen) empfiehlt – am direktesten ist die Funktion, die künftige Auswahl von Experten anzuleiten, aber in der ersten Grundregel enthalten. Sie behandelt Forschungs- und Publikationstätigkeit als Indikator für die gesuchte Expertise. Dass sie stattdessen nicht schon Lehrtätigkeit als Anzeiger für die entsprechende Fachkunde heranzieht, ist der Überlegung geschuldet, dass sich die Moralphilosophin erst mit Veröffentlichungen fachlicher Kritik als elementarem Bestandteil der wissenschaftsinternen Qualitätssicherung aussetzt. Diesbezüglich sollten sich die Ansprüche für die Wahl von Experten in öffentlichen Diskussionen zumindest im Ansatz an jenen orientieren, die bei der Besetzung von akademischen Positionen und der Tätigkeit in Ethikkommissionen relevant sind. Bezogen auf das konkrete Beispiel würden die genannten Grundregeln außer einschlägigen Publikationen u.a. fordern, dass Verfechter der Nutzung von Tieren in der Lebensmittelindustrie, falls sie als Experten in moralischen Diskursen über diese Praxis auftreten, von idealisierten Annahmen (etwa über angst- und schmerzfreie Tötungen ohne problematische Vorgeschichte) absehen oder diese als idealisiert kenntlich machen und ihre Relevanz für die Praxis erläutern. In jedem Fall sollten sie auch über das faktische Leiden der betroffenen Tiere in allen Lebensstadien informieren. Eine unbegründete einseitige Fokussierung auf bestimmte Handlungsoptionen (Reduzierung von Tierverbrauch) und die Ausblendung nicht-menschlicher Schadensnehmer sind hingegen vor diesem Hintergrund problematisch. Außerdem ist es auch in diesem Kontext sinnvoll, von einem Werkzeug zur wissenschaftlichen Qualitätssicherung Gebrauch zu machen, das in anderen Zusammenhängen längst etabliert wurde, nämlich der Offenlegung von Interessenkonflikten. In der Wissenschaftsethik und der Publikationsethik der Wissenschaft hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass sich die Anwesenheit sog. sekundärer Interessen, die etwa in finanziellen Anreizen bestehen können, auf die Einhaltung von professionellen Sorgfaltspflichten (sog. primäre Interessen) negativ auswirken kann. Es ist also von Bedeutung zu wissen, ob ein moralischer Experte durch Forschungsfinanzierung oder andere wirtschaftliche Verflechtungen mit Vorteilsnehmern z.B. der Nutzung von nichtmenschlichen Tieren zu Ernährungszwecken Anreizen ausgesetzt ist, gegen professionelle Sorgfaltspflichten in der Popularisierung von Philosophie zu verstoßen.
Das erhebliche grundsätzliche Problem mit Bezug auf eine „Qualitätssicherung“ populärer Philosophie besteht allerdings darin, dass mit dem Verlassen des akademischen Diskurses und dem Eintritt in den öffentlichen Diskurs nicht mehr klar ist, wer Verantwortung für die Einhaltung solcher Grundregeln übernehmen sollte. Bestenfalls können dann diejenigen, die sie zu befolgen bereit sind, als korrektive Kraft ebenfalls in den öffentlichen Diskurs eintreten – und damit soziale Verantwortung übernehmen.
Frauke Albersmeier ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Voraussetzungen der Frametheorie in der Geschichte der Philosophie“ im DFG-Sonderforschungsbereich 991, „Die Struktur von Repräsentationen in Sprache, Kognition und Wissenschaft“ an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, wo sie sich mit philosophischer Methodologie und Begriffstheorien beschäftigt. Sie arbeitet an ihrer Dissertation zum Konzept des moralischen Fortschritts. Sie publizierte unter anderem zu Abolitionismus als Position in der Tierethik sowie zur Repräsentation nichtmenschlicher Tiere in Fachsprache.
Alexander Christian ist stellvertretender Direktor des Düsseldorf Center for Logic and Philosophy of Science (DCLPS) und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für theoretische Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit allgemeiner Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik. Er publizierte unter anderem über Wertneutralität in der Wissenschaft, wissenschaftliches Fehlverhalten, fragwürdige Forschungspraktiken und Datenunterdrückung in der medizinischen Forschung.