Das weiße (Nicht-)Wissen der Philosophie

von Marina Martinez Mateo (Akademie der Bildenden Künste München)

Die Philosophie ist in ihrem institutionellen Funktionieren als Disziplin ein Ort weißen (Nicht-)Wissens. Das heißt nicht – so viel vorweg –, dass sie nur das ist: Kontinuierlich werden dem Weißsein der Philosophie andere Formen des Wissens und Denkens entgegengesetzt, ganze Traditionen und Denkformen, die außerhalb der weißen Begrenzungen der Philosophie stattfinden. Diese anderen Formen des Denkens aber stoßen auch heute noch gegen eine Wand kanonisierter, als „wichtig“ und als philosophisch (im „ernstzunehmenden“ Sinn) geltender Denkbestände, die sie mindestens an die Ränder der Philosophie (wenn nicht ganz aus ihr heraus) drängt. Um diese Wand soll es im Folgenden gehen. Was bedeutet es, vom weißen Nicht-Wissen der Philosophie zu sprechen? Drei Annahmen sind damit verbunden: Erstens die Annahme, dass die Philosophie, historisch wie gegenwärtig, ein weißer Ort ist. Zweitens die Annahme, dass es ein Ort weißen „Wissens“ ist, dass sich also das Weißsein der Philosophie in den Formen des Wissens und Denkens widerspiegelt, die darin stattfinden. Die dritte Annahme lautet, dass es sich bei diesem Wissen um ein „Nichtwissen“ handelt, wie es Charles Mills nennt, das heißt um ein Wissen, das Ausdruck rassialisierter Herrschaft ist und darum ein begrenztes, verblendetes, verfälschendes, verdummendes Wissen (eben ein Nicht-Wissen) darstellt. Diese drei Annahmen werden im Folgenden erläutert und diskutiert.

I           Das Weißsein der Philosophie

Die Annahme, dass das, was für gewöhnlich als philosophischer Kanon gilt, eine weiße und in der Regel europäische oder nordamerikanische (und männliche) Perspektive ins Zentrum stellt, bedarf wohl kaum einer weiteren Ausführung – dazu reicht ein kurzer Blick in die Literaturlisten von Überblickswerken und Philosophieeinführungen. Das, was wir Kanon nennen, beruht auf Ausschlüssen und Ausblendungen. Was ist aber mit der Gegenwart und dem gegenwärtigen institutionellen Funktionieren der Philosophie? Insbesondere für den deutschsprachigen Raum ist die Datenlage dünn: Wir wissen (wenn nicht aus persönlicher Erfahrung oder anekdotischer Evidenz) wenig darüber, wer Philosophie studiert, wer an welchem Punkt abbricht, wer nach der Promotion in welcher Form „weitermacht“ und wie Professuren vergeben werden (in Bezug auf Frauen in der Philosophie ist in den letzten Jahren viel wichtige Recherchearbeit geleistet worden – in Bezug auf andere Diskriminierungskategorien gibt es allerdings noch einiges aufzuholen). Doch die bloße Zählung von rassifizierten und migrantisierten Menschen an philosophischen Instituten hat selbst nur eine begrenzte Aussagekraft. Schließlich werden die Stimmen derjenigen, die – aus jeweils singulären Erfahrungen und Gründen heraus – den institutionellen disziplinären Rahmen der Philosophie bereits verlassen haben, darin strukturell nicht einbezogen; ebenso wenig die ungleiche Verteilung von Kosten, die jemand auf sich nehmen muss, um zu „bleiben“. Die Wirkungsweise von Rassismus und Exklusion zeigt sich schließlich in ganz konkreten und einzelnen Situationen und Erfahrungen an universitären Orten, die Einzelnen das Gefühl der „Andersheit“ und Nichtzugehörigkeit vermitteln – sei es in der Weise, wie man angesprochen wird, wie man gesehen (oder nicht gesehen) oder gehört (oder nicht gehört) wird, sei es in der Frage, ob man zitiert oder ob und zu welchen Themen man wohin eingeladen wird.

Der US-Amerikanische Philosoph George Yancy beschreibt in seinen Arbeiten auf beeindruckende Weise – von ganz konkreten, persönlichen Erfahrungen ausgehend  –verschiedene Dimensionen einer Phänomenologie der Rassifizierung. Im Aufsatz „Whiteness: ‚Unseen‘ Things Seen“ (2008) zeichnet er die Philosophie als einen weißen Raum, indem er eine (scheinbar unbedeutende) Situation auf einer philosophischen Konferenz analysiert. Er erzählt von einer Begegnung mit einem, wie er sagt, „anerkannten, weißen Philosophen“ (Yancy 2008: 35). Yancy hatte kurz zuvor einen Essay veröffentlicht, in dem er in autobiographischer Erzählung von seinem Weg zur Philosophie berichtet. In diesem Text nutzt er, um (wie er erläutert) seinen sozialen Hintergrund zu vermitteln, das Afro-Amerikanisch geprägte Englisch, mit dem er aufgewachsen ist. Der weiße Philosoph spricht ihn auf diesen Text an, lobt ihn zunächst, fragt dann aber irritiert: „Warum haben Sie nur diese Sprache verwendet? Sie sprechen so gut [Standard American English]. Sie müssen doch nicht diese Sprache nutzen, um Ihren Punkt zu machen.“ (Yancy 2008: 35) In „Whiteness Unseen“ analysiert Yancy die „Schichten weißer rassifizierter Bedeutung“, die er in dieser Situation hervortreten sieht. Das erste, was er dabei festhält, ist die Geste der Anerkennung – für Yancys (eigentlich doch) „gutes Englisch“, wobei eben das „richtige“ Englisch hier offenbar dasjenige ist, das in weißen Kontexten und kulturellen Räumen gesprochen wird, sodass sich gleichzeitig damit auch der anerkannte weiße Philosoph selbst als derjenige bestätigt, der in der Lage ist, über das „Gute Sprechen“ zu urteilen (im Gegensatz zu anderen, denen dieses Englisch scheinbar nicht das Heimische ist). Indem Yancys Englisch als „gut“, d.h. als weiß, gelobt wird, wird ihm zugesprochen, die akademischeNorm zu beherrschen. Damit ist im gleichen Zug die Erinnerung verbunden, dass derjenige, der so gelobt wird, immer außerhalb bleiben wird – auch wenn er diese Norm noch so gut beherrscht. „Er erinnerte mich daran, dass ich für einen Schwarzen gut spreche.“ (Yancy 2008: 36) Im Lob liegt die Abwertung einer Sprache, die Yancy als einen Ausdruck Schwarzer Identität und Selbstbestimmung verwendet, und damit die Verfestigung der weißen akademischen Norm (die weiße „Standard“ Sprache, die weiße Anerkennungsinstanz) sowie die Erinnerung, nur deshalb und nur so lange in diesen Raum aufgenommen zu sein, wie man sich ihr anpasst. „Ich werde ermutigt, die Maske des Weißseins zu tragen, aber gleichzeitig daran erinnert, dass ich die Maske nicht zu ernst nehmen sollte.“ (Yancy 2008: 38) Das Lob ist insofern letztlich eine Mahnung: Als Schwarzer Mensch wird jemand nur dann in den akademischen Raum der Philosophie aufgenommen werden, wenn er aufhört, Schwarz zu sein: „‘Werde weiß oder verschwinde‚.“ (Yancy 2008: 39)

Whiteness funktioniert als akademische Norm – als auf keine weitere Bestimmung oder Verortung angewiesene, neutrale und allgemeine, „Standard“-Methodologie oder -Sprache. Wer sie beherrscht und anwendet ist scheinbar immer gern willkommen und anerkannt. Zugleich aber entlarvt sich in Situationen wie derjenigen, die Yancy beschreibt (gerade in ihrer Beiläufigkeit), dass diese Norm gerade nicht neutral ist, sondern von bestimmten sozialen Positionen ausgeht und insofern bestimmte soziale Positionen privilegiert. Auch wenn sich die Anerkennung als „Philosoph“ als eine Aussage präsentiert, die rein inhaltlich begründet ist und nichts mit äußerlichen Zuschreibungen zu tun hat, bleibt die unterschwellige und immer wieder durchscheinende Gewissheit, dass einem als rassifizierter oder migrantisierter Mensch die weiße Maske auch jederzeit wieder vom Gesicht gerissen werden könnte, dass man nie ganz, nie selbstverständlich, nie auf natürliche Weise zu diesem durch die weiße Norm bestimmten Ort gehört.

II          Das weiße (Nicht-)Wissen der Philosophie

Wie aber hängt diese Struktur – diese weiße Norm – mit den Formen des Wissens zusammen, die die Philosophie prägen? In der von Yancy analysierten Situation lag die Bestimmung des weißen Raums darin, dass er sich als neutral ausgibt, als die allgemeine Form, die alle anvisieren sollten, wenn sie „gut“ sein wollen. Die Ausschlüsse, die dieser Form zugrunde liegen, müssen strukturell ausgeblendet werden, weil ein Wissen über diese Ausschlüsse die weiße Position als besondere und damit begrenzte ausweisen und deren Allgemeinheitsanspruch unterwandern würde.

Wenn wir also von weißem Wissen (darin offenbar nicht nur mit whiteness, sondern auch mit Männlichkeit verbunden) in diesem Allgemeinheits- und Unbestimmtheitsanspruch sprechen – als das Wissen, das nicht von konkreten Erfahrungen und Realitäten ausgehen muss, sondern von Nirgendwo und für alle spricht – dann ist dies in besonderer Weise mit der Philosophie verbunden. Die Philosophie ist schließlich – zumindest in der Form, in der sie sich seit der Aufklärung in Europa etabliert hat – die Disziplin par excellence, die aufs Allgemeine zielt, von konkreten Erfahrungen zu abstrahieren meint und sich als universell und un-situiert begreift. So formuliert es die Philosophin Linda Alcoff in einem Interview, das George Yancy 2015 mit ihr führte:

Philosophinnen und Philosophen fast aller Schulen – analytisch, kontinental, pragmatistisch – streben nach allgemeinen und verallgemeinerbaren Theorien, die menschliche Erfahrungen aller Art erklären können. […] Um auf diese Metaebene der Allgemeinheit zu gelangen, müssen einige Aspekte des eigenen Kontextes beiseitegelegt, abgetrennt, aus dem Bild herausgeschnitten werden, und damit ist traditionell die konkrete Materialität der menschlichen Existenz gemeint, wie wir sie in verkörperter menschlicher Form tatsächlich erleben. Dies ist nur eine Weise zu sagen, dass der Körper ignoriert werden musste, es sei denn, man könnte sich vorstellen, dass unsere Körper im Wesentlichen gleich seien. Doch um dieses Kunststück der Vorstellungskraft zu vollbringen – sich nämlich vorzustellen, dass all unsere wilde Vielfalt der Verkörperung irrelevant sei –, war ein Selbstbetrug erforderlich, der sich im gesamten Kanon finden lässt: rassistische Nebenbemerkungen und lächerliche Theorien über Frauen neben allgemeinen Verlautbarungen über Gerechtigkeit und Schönheit und den Weg zur Wahrheit.

Die Philosophie kommt, so Alcoff, zu ihrer Allgemeinheit, indem sie das Spezifische und Vielfältige verkörperter menschlicher Existenz ausblendet. Der Körper kann nur Teil der Philosophie werden, sofern angenommen wird, dass alle Körper gleich seien. Sobald in der Philosophie Körper als Unterschiedene wahrgenommen werden, manifestieren sie sich im Ausschluss: als nicht oder weniger oder nicht selbstverständlich zur Vernunft taugliche Körper. Mit diesem Ausschluss auf Ebene des Denkens hängt der Ausschluss von Personen auf institutioneller Ebene (die Tatsache, dass die Philosophie so „demographisch homogen“ ist) unmittelbar zusammen, wie Alcoff in ihrem Aufsatz „Philosophy’s Civil Wars“ (2013) ausführt. Oder umgekehrt gesagt: Die Erfahrung des Ausschlusses bringt eine kritische Perspektive auf ihre vermeintlichen Allgemeinheiten in die Philosophie, die diese brüchig werden lässt. So zeigt sich etwa in Feministischer Theorie und Critical Race Studies eine Philosophie, die vom Konkreten, von realen Ungleichheiten, von Ausschlüssen aus denkt und diese ins Zentrum stellt. Was passiert, wenn – um auf die Analyse Yancys zurückzukommen – die weiße Maske der Philosophie und ihrer Sprache (der man aus spezifischen Verkörperungen heraus ohnehin scheinbar nie ganz genügen kann) abgelegt wird und die erfahrene Tatsache des Ausschlusses selbst zum Ausgangspunkt philosophischen Nachdenkens gemacht wird? Dann wird nicht nur die weiße Norm partikularisiert, sondern es eröffnet sich darin auch ein anderer Wahrheitsbegriff, eine andere Form der Erkenntnis. Selbstverständlich darf „die“ Philosophie dabei auch nicht monolithisiert werden, schließlich gibt es auch innerhalb des philosophischen Kanons Ressourcen, um die Ausblendungen der Philosophie zu hinterfragen und sie für andere Formen des Denkens in der Verkörperung zu öffnen (es ist ja auch nicht ohne Grund, dass sich rassismuskritische Positionen überhaupt auf die Philosophie berufen, etwa Yancy auf die Tradition der Phänomenologie). Und dennoch bleibt viel zu tun, wenn wir das weiße Nichtwissen der Philosophie tatsächlich überwinden wollen. Wir werden, wie Charles Mills es in seinem Aufsatz „Weißes Nichtwissen“ ausdrückt, mit den „Regeln und Metaregeln“ des Wissens brechen müssen. Nur so „können wir den langen Prozess beginnen, der zur letztendlichen Überwindung dieser weißen Finsternis und zur Erreichung einer Aufklärung führen wird, die wirklich multiracial ist.“ (Mills 2021: 216)

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George Yancy, “Whiteness: ’Unseen’ Things Seen”, in: Ders.: Black Bodies, White Gazes: The Continuing Significance of Race, Lanham 2008, 33–64.

Charles W. Mills, „Weißes Nichtwissen“, in: Kristina Lepold und Marina Martinez Mateo (Hg.), Critical Philosophy of Race. Eine Reader, Berlin 2021, 180–216.

Linda Martín Alcoff, “Philosophy’s Lost Body and Soul”. Interview by George Yancy, in: The New York Times, 4. Februar 2015. https://archive.nytimes.com/opinionator.blogs.nytimes.com/2015/02/04/philosophys-lost-body-and-soul/

Linda Martín Alcoff, “Philosophy’s Civil Wars”, in: Proceedings and Addresses of the American Philosophical Association 87 (2013), 16–43.


Marina Martinez Mateo ist Juniorprofessorin für Medien- und Technikphilosophie an der Akademie der Bildenden Künste in München. Mit einer Arbeit zur Politik der Repräsentation promovierte sie 2016 an der Goethe-Universität Frankfurt und war dort bis 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Philosophie. In ihrer Forschung setzt sie sich unter anderem mit dem Verhältnis von Philosophie und Rassismus auseinander. Gemeinsam mit Kristina Lepold hat sie den Reader Critical Philosophy of Race herausgegeben, der 2021 bei Suhrkamp erschienen ist.