Mensch-Natur-Verhältnis revisited. Eine Replik auf Giulia Valpione
Von Kira Meyer (Kiel)
Giulia Valpione plädiert für die Wiederaufnahme romantischer Motive, um die Mensch-Natur-Beziehung neu zu konzeptualisieren. In ihrer Forderung nach einer notwendigen Überarbeitung dieses Verhältnisses möchte ich Valpione beipflichten, jedoch auf einen weiteren wichtigen Diskussionsstrang verweisen, der mir dafür unerlässlich erscheint: Die Berücksichtigung der Leiblichkeit des Menschen, wie sie in der (Neuen) Phänomenologie entwickelt wurde, und die darin begründete Zugehörigkeit zur Natur. Somit könnte dargelegt werden, was bei Valpione beziehungsweise den RomantikerInnen im Vagen verbleibt: Die behauptete Nähe des Menschen zur Natur ist in seiner Leiblichkeit begründet, den Leib als Natur zu verstehen würde zudem wichtige normative Implikationen sowie ein modifiziertes Freiheits-Verständnis mit sich bringen.
Die RomantikerInnen kritisieren laut Valpione drei bis dahin verbreitete Ansichten: Erstens die Reduzierung der Natur auf eine quantitativ gänzlich bestimmbare Materie und die damit einhergehende Verobjektivierung ebendieser; zweitens die strikte Trennung zwischen dem Bereich des Menschen als demjenigen der Freiheit und dem Bereich der Natur als demjenigen der Heternomie beziehungsweise Naturgesetzmäßigkeit; sowie drittens die Dichotomie zwischen Mensch und Natur. Auch die moralische Abwertung der Natur gegenüber dem Menschen, der dahingegen als vernunftbegabtes freies Wesen einen intrinsischen Wert besitzt, welche sich als Konsequenz der drei Aspekte ergibt, wird von den romantischen VordenkerInnen angefochten.
Gegen diese, maßgeblich von Descartes und Kant geprägte, neuzeitliche Sichtweise auf Natur stellen die romantischen VordenkerInnen (Valpione konzentriert sich auf Schlegel und Novalis) die Idee einer Natur, die nicht bloß passive Materie ist, sondern selbst schöpferische Kraft enthält und daher auch nicht auf ein bloßes mechanisches Objekt reduziert werden kann. Eben diese schöpferische Lebenskraft sei es, die im romantischen Denken den Kern des Freiheitsverständnisses ausmacht. Sie kann graduell abgestuft werden, ist aber grundsätzlich, wie Valpione pointiert formuliert, „vom Mineral bis zum Menschen“ allen natürlichen Wesen zu eigen. Damit wird auch hinsichtlich des dritten Aspekts eine Veränderung vorgenommen: Wenn bereits Mineralien, Pflanzen und Tieren Freiheit zugeschrieben werden muss, dann kann keine dichotome Trennung von Mensch und Natur mehr vorgenommen werden. Die Entdeckung der „galvanischen Kette“ untermauerte diese Perspektive auf die Zusammengehörigkeit von Mensch und Natur nochmals, so Valpione. Die zentrale Neuerung der Romantik liegt demnach in der Aufdeckung der Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Natur sowie der Verfolgung der daraus erwachsenden Einsicht, dass „unsere Handlungen gegen die anderen Elemente, aus denen wir dieses Ganze zusammensetzen, (…) auf das Ganze selbst zurück[fallen]“.
Die Zugehörigkeit des Menschen zur Natur hervorgehoben zu haben, kann zu Recht als wichtiger Beitrag der RomantikerInnen bezeichnet werden. Allerdings bleibt bei Ihnen noch unklar, worin genau die behauptete Nähe des Menschen zur Natur begründet ist beziehungsweise wie sich der Mensch dieser Nähe gewahr wird. Es müsste ergänzt werden: Das Selbst-Natur-Sein des Menschen wird ihm am eigenen Leib bewusst. Mit anderen Worten: Es ist die Leiblichkeit des Menschen, auf der die Zugehörigkeit des Menschen basiert. Weiterführend für ein adäquates Verständnis der romantischen These von der Zugehörigkeit des Menschen zur Natur sind daher phänomenologische Ansätze, welche die Leiblichkeit des Menschen in den Blick nehmen, und konkreter die Neue Phänomenologie sowie Ökophänomenologie, die den Stellenwert der Leiblichkeit für die Naturphilosophie oder Umweltethik ausloten. Besonders vielversprechend erscheinen mir die Arbeiten von Gernot Böhme, der wiederum an Hermann Schmitz‘ Leibphilosophie anschließt, diese jedoch ausweitet und mit dem Natur-Begriff zusammendenkt.
Die Berücksichtigung der Leiblichkeit hat meines Erachtens den konzeptuellen Vorteil, dass dadurch nicht nur erklärt werden kann, wie der Mensch seine Naturzugehörigkeit erkennt, sondern damit zugleich ein alternatives Freiheits-Verständnis einhergeht, das der berechtigten romantischen Kritik daran, die Freiheit bloß beim vernunftbegabten Menschen zu verorten, gerecht wird. Unter Leib können wir den Bereich dessen verstehen, als was sich eine Person selbst spürt. Es kommt beim Leib also auf die Innenperspektive, auf die individuelle affektive Erfahrung an – damit unterscheidet er sich vom Körper, der dahingegen als von außen wahrgenommenes und objektiv vermessbares Etwas aufgefasst werden kann.
Diese Unterscheidung von Leib und Körper wurde bereits von klassischen Autoren wie Edmund Husserl, Maurice Merlau-Ponty, Helmut Plessner und weiteren analysiert. Was bei diesen traditionellen Ansätzen jedoch übersehen wurde, so wendet Gernot Böhme ein, ist, dass dem Menschen gerade am eigenen Leib seine Naturzugehörigkeit aufgeht. Der Leib wurde bislang nicht als Natur betrachtet. Dies stellt die zentrale Neuerung von Böhmes Ansatz dar: Er versteht den Leib als „die Natur, die wir selbst sind, auf das Moment abhebend, dass wir uns leiblich selbst gegeben sind. Im leiblichen Spüren erfahren wir zugleich, dass wir unserer selbst nie vollständig mächtig sind, dass uns etwas, das wir qua Ich gerade nicht sind, ausmacht.“ Natur versteht Böhme als das selbsttätig Gegebene und insbesondere der erste Teil dieses Verständnisses – die Selbsttätigkeit – weist Überschneidungen mit der romantischen Idee der aktiven, kreativen Kraft, die allen natürlichen Entitäten zu eigen ist, auf. Der Leib des Menschen ist ebenfalls etwas selbsttätig Gegebenes, insofern wir unserer leiblichen Regungen nicht mächtig sind und jeder Mensch sich mit gewissen leiblichen Dispositionen zurechtfinden muss, die er an sich selbst vorfindet.
In der Idee vom Leib als die Natur, die der Mensch selbst ist, liegt meines Erachtens nach ein Schlüssel, um das romantische Gedankengut anschlussfähig zu machen und die Forderung nach einer Neukonzeptualisierung des Mensch-Natur-Verhältnisses fundierter zu begründen. Valpione hebt hervor, dass es dank der Einsichten der romantischen Philosophie „möglich [ist], die Nähe und Zugehörigkeit des Menschen zur Natur zu verstehen – indem man beide nicht auf Maschinen reduziert, sondern indem man die Kreativität beider betont“. Die Kreativität oder wie ich mit Böhme sagen würde: die Selbsttätigkeit der Natur geht dem Menschen aber gerade durch seine Leiblichkeit auf. Etwa, wenn man ganz ausgeatmet hat und die Einatmung wie von selbst wieder einsetzt; beim Liegen auf einer Wiese in der warmen Sonne, wenn sich eine leibliche Weitung und das Gefühl des Verströmens einstellt; beim Genuss des frisch-stechenden Duftes der Pfefferminze, der einen mit belebender Frische erfüllt. Leibliche Regungen wie die Einatmung, Weitung, Frische (und unzählige weitere) sind, wie das Wort Regungen bereits anklingen lässt, selbsttätige Äußerungen des Leibes, die sich unabhängig vom Subjekt und seinen Absichten einstellen – hier zeigt sich die Selbsttätigkeit der Natur, die der Mensch selbst ist. Und auch mit Blick auf die ‚äußere’ Natur, die die Person in den angeführten Beispielen jeweils (auch) wahrnimmt, kann eine Selbsttätigkeit der Natur festgestellt werden: So kann man mit Böhme davon sprechen, dass beispielsweise die Pfefferminz-Pflanze mit ihrem Duft ekstatisch aus sich heraustritt und eine bestimmte Atmosphäre verströmt.
Der Vorteil dieser ökophänomenologischen Perspektive liegt gegenüber einem bloßen Anschluss an romantisches Gedankengut meines Erachtens darin, dass erklärt werden kann, wie beziehungsweise wodurch sich der Mensch seiner Zugehörigkeit zur Natur bewusst wird. Zudem ist man dabei nicht mit dem Dualismus zwischen Körper („Materie“) und Seele und den damit stets verknüpften Problemen (z.B.: Wie hängen beide zusammen? Was genau soll eine Seele sein?) konfrontiert, der zumindest dieser Formulierung von Valpione nach bei der Übernahme romantischer Ideen droht: „Mensch und Natur sind das Ergebnis derselben Kräfte, die sowohl in der Materie als auch in unserer Seele wohnen.“
Darüber hinaus würde ein ökophänomenologisches Naturverständnis, nach welchem die Natur als selbsttätig Gegebenes aufgefasst werden und der Mensch qua Leib ebenfalls Natur sein würde, ein modifiziertes Freiheits-Verständnis und wichtige normative Implikationen mit sich bringen. Versteht man den Menschen aufgrund seiner Leiblichkeit selbst auch als Natur, dann bedeutet dies zugleich anzuerkennen, dass der Mensch mit der Natur verbunden und von dieser abhängig ist. Er erlangt seine Freiheit nicht nur durch die Natur, sondern realisiert diese auch in und mit der Natur: Als Kinder erlernen wir nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit der Natur Autonomie und unabhängig vom Alter stellt eine intakte Natur die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit dar. Zudem leben wir unsere Freiheit ‚draußen‘ in der Natur aus – sei es nun beim Wandern im Wald oder Schwimmen im Meer – und tun dies mit der Natur – wie beim Surfen mit dem Wind oder beim Gärtnern mit Pflanzensamen. Freiheit kann dann nicht länger als bloße Willkürfreiheit oder ungebundene Autonomie, sondern sollte – so möchte ich vorschlagen – als relationale Freiheit verstanden werden.
Die Berücksichtigung der Leiblichkeit und die damit korrelierende relationale Freiheit würden zudem mindestens bis zu einer „tiefen“ Anthropozentrik führen und könnten somit Argumente gegen eine flach anthropozentrische Position, wie sie zu Recht auch von Valpione (und den RomantikerInnen) kritisiert wird, liefern. Denn zum einen könnte die Berücksichtigung der Leiblichkeit zu einem sentientistischen Argument der moralischen Berücksichtigung derjenigen Wesen ausgebaut werden, die als leibliche Wesen empfindsam sind. Zum anderen könnte ausgehend von leiblich vermittelten aisthetischen Naturerfahrungen, zu denen unter anderem die symbolische Bedeutung der Natur, Natur als Heimat, Freizeit und Erholung, Spiritualität und Transformation zählen, der eudaimonistische Wert der Natur verteidigt werden.
Die in Zeiten der ökologischen Krise meines Erachtens nach wichtigste Einsicht, die sich im romantischen Denken bereits ankündigt und mithilfe ökophänomenologischer Ideen präzisiert und ausgebaut werden kann, ist die Erkenntnis, dass Freiheit und Natur keine dichotom voneinander getrennte Sphären darstellen. Was genau eine solche, wie sie genannt habe, relationale Freiheitskonzeption im Detail auszeichnet und was diese für die Vereinbarkeit von Nachhaltigkeit und Freiheit bedeutet sind dabei zwei zentrale Fragen, die uns auch in Zukunft weiter beschäftigen werden.
Kira Meyer ist Doktorandin am Philosophischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.