Residuale ›Romantik‹ – im Vermissen des Fehlenden selbst

von Burkhard Liebsch (Bochum)


Der »Verfall« der Romantik, so wie er von Hegel über R. Huch, R. Welleck, O. Pöggeler und K. H. Bohrer bis hin zu R. Safranski beschrieben worden ist, war ihr vielleicht von Anfang an vorgezeichnet und bereits nach wenigen Jahren besiegelt. Ungeachtet dessen (oder vielmehr gerade deshalb) scheint es, als wolle die vorherrschende Trivialisierung des Romantischen nicht zum Ende kommen. Ein schöner Sonnenuntergang genügt, um in der Werbung genauso leicht den Anschein des Romantischen zu erwecken wie durch das notorisch Pittoreske und Idyllische, diese gnadenlosen Klischees, die man um jegliche Ferne gebracht hat. Ironischerweise könnte gerade darin ein tieferer Grund für Renaissancen der Romantik in der Suche nach dem liegen, was fern bleibt und bis auf kümmerliche Reste getilgt erscheint, wo das Romantische gängige Münze geworden ist.

»Sprich aus der Ferne«, fordert ein Gedicht C. v. Brentanos seine Leser  auf, so wie Novalis auf der Spur einer »urpoetischen Natur« einer »Philosophie der Ferne« das Wort geredet hatte. Dämmerungen und beschauliche Szenen sollten demnach allenfalls durch dasjenige romantisch sein, was im Gemälde, im Gedicht oder in literarischer Prosa niemals aufgehen dürfte.

Allerdings hatte Novalis darauf bestanden, das Romantische höchst persönlich zu »romantisieren«, es also seiner subjektiven Verfügungsmacht und poetischen Technik zu unterwerfen, um »fremdes Dasein in eigenem aufzulösen«. So sehr man die Ferne, das Unendliche und im eigenen Unbewussten Fremde beschwor, so sehr konterkarierte man es doch als technischer Willkür Unterworfenes.

Liegt darin nicht bloß Ironie, auf die Romantiker wie F. Schlegel erklärtermaßen selbst hinauswollten, sondern ein ihnen von Anfang an zur Last zu legender »Mangel an innerer Wahrheit«, von dem bei E. T. A. Hoffmann die Rede ist? Und ist hier schon der Keim allen späteren Missbrauchs des Romantischen von der Wagner’schen Mythologie über die an sie anknüpfende Vernichtungspolitik der Nazis bis hin zur heutigen Werbung angelegt?

Ungeachtet dieses Verdachts wird man nicht müde, ›Romantik‹ zu beschwören – als Spur eines immer noch unausgeloteten und vielleicht niemals ganz zu ermessenden Verlusts, der immer neue Renaissancen des Romantischen nach sich zieht, das doch keinen Ort und keinen Raum mehr zu haben scheint. »Liebliche« Gegenden, die ein von Hölderlin beschriebenes »in die Ferne gehendes«, heimatloses, schmerzhaft nomadisches Leben durch­wandern konnte[1], mussten sich in Nichts auflösen, wo heute industrielle Landwirtschaft ihren Ge­stank, Flurbereinigungen ihre Monotonie und Motorsägen ihren Lärm verbreiten, so dass sich keine Pflanzenart, kein Hohlweg und kein Rinnsal mehr findet, das man länger in Frieden ließe.

Weder »ein-« noch »ausziehen« ins Fremde, wovon gleich zu Beginn von Schuberts Winterreise die Rede ist, scheint länger möglich, wo man mit GPS alles noch Unbekannte im Vorhinein vermessen kann. Eine neue, fremde Heimat finden zu wollen, »wo die Seele versinkt in eine Wonne«[2], muss abwegig anmuten, wo es gar keine »Seelen«[3], nur noch psychische »Systeme« und mentale »Strukturen« gibt, die weder an etwas sich erfreuen noch auch Verlorenem nachtrauern können. Und der Orient, einst für J. Görres das romantische Versprechen einer wiederzugewinnenden neuen Kindheit und Menschheit, die sich laut F. Creuzer nur selbst »orientalisieren« müsse, um sich selbst wiederfinden zu können[4], liegt unter dem Schutt und der Asche von V. Putins Bombardierungen, islamistischen Terrors und hausgemachter Tyrannei be­gra­ben.

Wo die Romantiker im Gegensatz zur »Bar­barei des Nordens« schön »zerstörte Kultur, Verwilderung, Auflösung« suchten[5], um sich womöglich nostalgisch daran zu delektieren, würden sie heute nur noch in einer politisierten Topografie des Schreckens umherirren. Aber auch über ihr geht in unseren Tagen noch still der Mond auf und kann alles in ein nächtliches Licht tauchen, das Befreiung von jeglicher sozialen Orientierung bieten mag, die ausnahmslos der Gewalt verfallen zu sein scheint.

Längst hat jedoch der überschwängliche Orientalismus der Romantiker einer pejorativen Bedeutung dieses Begriffs weichen müssen: Orientalismus, lehrte bekannt­­lich E. Said, mit D. Barenboim und B. Kauffmann Gründer des israelisch-palästi­nensi­schen West-Eas­tern-Divan-Orchestra, ist nichts als unilateraler Europäisierungszwang und Unterwerfung unter den ›Westen‹, was fragwürdige Idealisierungen des Nahen Ostens zu keiner Zeit ausgeschlossen hat.

Schon bei Goethe nicht, der meinte, wir müssten uns orientalisieren, denn der Orient werde sicher nicht zu uns herüberkommen. Weit gefehlt. Nun sind die Flüchtlinge da; und wir haben reichlich Gelegenheit, den Nahen Osten nicht nur aus Gewaltnachrichten, sondern in persönlicher Nähe wenigstens ansatzweise kennenzulernen – in einer Praxis der Gastlichkeit, die kein Fremder länger entbehren kann, ob »transzendental obdachlos« wie laut G. Lukács die deutschen Romantiker, gläubig oder nicht.

Migranten und Flüchtlinge können die Beobachtung des französischen Phänomenologen J.-L. Marion durchgängig bestätigen: die Welt sperrt uns immer zuerst ein[6]; längst ist sie aufgeteilt in separierte und an ihren Grenzen mit größtem Aufwand überwachte Machtgebiete. Selbst der Ferne Osten ist unter der Herrschaft Xi Jinpings auf dem besten Wege dahin, mit seinem gegen jeden freien Bewegungsspielraum gehegten Argwohn jeglichen Aufenthalt zu einem in genauen Grenzen identifizierbaren zu machen – was nichts anderes bedeutet, als ihn um alle Dimensionen seiner inneren Ferne zu bringen.

Wäre der Begriff der Verschwörung durch gewisse ›Theoretiker‹, die den alten philosophischen Sinn einer um Einsicht bemühten Lebensform namens theoría besudeln, nicht derart auf den Hund gekommen, man könnte meinen, alles habe sich gegen die Menschen verschworen (auch sie selbst), um sie an Ort und Stelle und in engen, jederzeit erkennbaren Grenzen sichtbar, reidentifizierbar und algorithmisch erfassbar zu machen.

Will man der re­gierungsamtlichen kommunistischen Propaganda glauben, dann ist es freilich nur die absolute Tugend der Chinesen, die sich dem entsprechend in Rongcheng und im »ehrlichen« Shanghai manifestiert.[7] Diese Laboratorien idealiter weltweit vollständiger Überwachung, die längst auch im Westen mit unserer freundlichen bzw. ignoranten Mitwirkung rechnen darf, kündigen möglicherweise ein radikales Verschwinden jener Ferne an, die den Romantikern (wenn sie sie nicht bloß poetisch willkürlich manipulierten) auf eine Weise fremd blieb, dass sich ihnen alle Individualität, aller Schmerz, alle Krankheit daran schien entzünden zu müssen.

Allerdings mit der Konsequenz, all das als von jeglichem »Ganzen« losgelöst zu bejahen[8]: ein individualisiertes Leben in und aus Schmerz, Verlust, Trauer und Krankheit, weil ihnen all dies offenbar immer noch unendlich lebenswerter erschien als ein Leben, dem Ferne und Fremde nicht bloß entzogen wäre, sondern gar nicht fehlen würde.

Weniger die Sehnsucht nach einem Zuhause, nach einer Herberge oder nach einer anderen Bleibe, von der man nicht wusste, wo man sie in Wahrheit je finden sollte, galt ihnen als das, was das menschliche Leben ›unlebbar‹ zu machen droht. Vielmehr legten sie den Lesern ihrer Schriften, den Hörern ihrer Musik und den Betrachtern ihrer Bilder den Gedanken nahe, dass es im Leben schlechterdings nicht mehr auszuhalten wäre, wenn ihm die unendliche Ferne und das unerreichbare Fremde nicht einmal mehr fehlen würden.

In der deutschen Romantik flackerte dieser Gedanke auf[9], kurz nur, um vom kommenden Posi­tivismus, von der katholischen Wiedereinordnung ihrer Vertreter ins ›Gegebene‹ und von purer, pseudo-romantischer, »auf platte Weise rührender und tränenreicher« Sentimentalität (F. Schlegel) alsbald wieder zum Verstummen gebracht zu werden. Paradoxerweise mit dem zwiespältigen Erfolg, dass man romantische ›Motive‹ überall antrifft, aber als trivialisierte, die nichts so sehr vermissen lassen wie das Fehlen des wirklich Fehlenden selbst.


Burkhard Liebsch, Prof. Dr., lehrt Philosophie an der Universität Bochum. Neuere Veröffentlichungen: Einan­der ausgesetzt. Der Andere und das Soziale. 2 Bde. (2018); Europäische Ungastlichkeit und ›identitäre‹ Vorstellungen (2019); Verzeitlichte Welt (22020); Drohung Krieg (2020; mit B. Taureck); Orientierung und Ander(s)heit (i.E.; mit W. Stegmaier); Hg. u. a. von: Der Andere in der Geschichte (22017); Sensibilität der Gegenwart (2018); Emmanuel Levinas: Dialog (2020); Die Grenzen der Einen sind (nicht) die der Anderen (2020).


[1] Vgl. seine Gedichte Die Musse und Die Aussicht (Werke, Tübingen o. J., 223, 568).

[2] R. Huch, Romantik. Blütezeit. Ausbreitung und Verfall, Tübingen 1951, 583.

[3] Vgl. Vf., »Substanz, Un-Ding, Passage. Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Seele«, in: T. Ebke, S. Hoth (Hg.), Die Philosophische Anthropologie und ihr Verhältnis zu den Wissenschaften der Psyche, Berlin 2018, 259‒282

[4] Huch, Romantik, 384.

[5] Ebd., 385.

[6] J.-L. Marion, Das Erotische. Ein Phänomen, Freiburg i. Br., München 2011, 173.

[7] Vgl. zum Kontext der Überwachungsprojekte von Rongcheng und Shanghai Vf., »Desillusioniertes Vertrauen«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 107, Nr. 1 (2021), 90–113.

[8] Huch, Romantik, 402.

[9] Vgl. Vf., »Eine allzu vertraute Vergangenheit? Zur zwiespältigen Aktualität des literarisch-philoso­phi­sch­en Milieus um 1800«, in: E. J. Koehn et al. (Hg.), Andersheit um 1800, Mün­chen 2011, 25‒49.