Die Frage nach dem Sinn des Lebens
von Joachim Bromand (Bonn/Mannheim)
Hinsichtlich der Frage nach dem Sinn des Lebens sind zunächst zwei Fragestellungen zu unterscheiden: die ‚subjektive‘ Frage danach, ob bzw. wie es möglich ist, sein Leben sinnerfüllt zu gestalten, und die ‚objektive‘ Frage danach, ob unsere Existenz unabhängig von unseren eigenen Wünschen und Zielen einen bestimmten Zweck besitzt. Hinsichtlich der ersten, in der Philosophie zumeist diskutierten ‚subjektiven‘ Frage sind alltägliche Einschätzungen, welche Arten der Lebensführung sinnerfüllter sind als andere, an der Tagesordnung: „Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos.“ (Loriot) Über dasjenige, was ein sinnerfülltes Leben aus- macht (und ob es tatsächlich einen Mops braucht), kann dabei freilich gestritten werden (vgl. den Beitrag von M. Kühler). Wollte man auf der Basis der uns heute bekannten Fakten aber etwa bestreiten, dass Mutter Theresa ein sinnerfülltes Leben geführt hat, verwendete man den Ausdruck sinnerfüllt wohl einfach in einem anderen als dem allgemein üblichen Sinne und redete somit am allgemeinen Sprachgebrauch vorbei. Im Folgenden wollen wir die ‚subjektive‘ Frage nach einem erfüllten Leben beiseitelassen und uns vielmehr der zweiten, ‚objektiven‘ Frage zuwenden. Hier geht es um die Frage(n), warum oder wozu wir existieren, wobei es im Rahmen der warum-Frage nicht um die physikalisch-biologischen Ursachen unseres Daseins, sondern im Sinne einer teleologischen Erklärung um dessen Funktion bzw. Zweck geht. Bei der zweiten Frage geht es dabei weniger um den spezifischen Sinn der Existenz eines einzelnen Individuums, sondern – wie bereits die bestimmten Artikel in „der Sinn des Lebens“ nahelegen – vielmehr um den Sinn der Existenz denkender Individuen wie uns überhaupt.
Diese Fragestellung scheint auf den ersten Blick zunächst einmal nur vor dem Hintergrund theistischer Annahmen verständlich zu sein und einen Schöpfergott vorauszusetzen, der bewusste Wesen zu einem bestimmten Zweck erschaffen hat. Der Sinn unserer Existenz bestünde dann darin, bei der Erreichung dieses Ziels mitzuwirken (ein kurzer Überblick über solche Ansätze findet sich bei Metz 2013b, ausführlicher in Metz 2013a, Teil II). Unter diesen Voraussetzungen ist zwar verhältnismäßig leicht zu erklären, dass unsere Existenz einen Sinn besitzt, seine Identifizierung wäre aber je nach unseren Möglichkeiten, die Absichten des angenommenen göttlichen Wesens zu erkennen, problematisch oder sogar unmöglich. Diese Abhängigkeit von theistischen Annahmen, von deren Wahrheit wir gegebenenfalls wohl kein Wissen erlangen könnten, macht auch eine voraussetzungslose Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Lebens nahezu unmöglich. Im Folgenden wollen wir uns daher darauf beschränken, die Frage von einem atheistischen Standpunkt aus zu betrachten.
Ist von einem solchen säkularen Standpunkt aus ohne göttlichen Sinnstifter die Frage nach der Existenz eines Lebenssinns nicht ohne Weiteres zu verneinen, wie es A. Camus im Mythos des Sisyphos unternimmt? Verlangt unsere Rede vom Sinn des Lebens nach einem Sinnstifter? Dem ist nicht so. Entsprechende Gegenbeispiele finden sich etwa in biologischen Kontexten, in denen auch Biologen nach wie vor vom Zweck bzw. der Funktion etwa bestimmter Organe in ihrem Beitrag zum Gesamtorganismus sprechen. Könnte unsere Existenz nicht in diesem Sinne einem bestimmten Zweck dienen? Eine Möglichkeit, einen Sinn bzw. eine Funktion im menschlichen Dasein auszumachen, bestünde etwa in der Idee: „Die Natur schlägt im Menschen ihre Augen auf und bemerkt, dass sie da ist“, mit der R. Safranski (2003, S. 229) einen zentralen Gedanken von Schellings System des transzendentalen Idealismus auf den Punkt bringen will. In einer sehr vom Kontext Schellings abstrahierenden Lesart könnte man somit den Sinn unserer Existenz bzw. die ‚Funktion‘ des menschlichen Daseins im ‚Organismus‘ bzw. ‚System‘ des Universums darin sehen, sich (zumindest Teilen) dessen (einschließlich seiner selbst) bewusst zu werden und damit einen ‚funktionellen Beitrag‘ zum‚Gesamtsystem‘ des Universums zu leisten, den in diesem Umfang – soweit wir wissen – keine andere Entität beisteuert.
Hier wird nun aber deutlich, wie weit wir uns von unserer alltäglichen Rede vom Sinn bestimmter Tätigkeiten oder Artefakte entfernt haben. Bereits der in der Biologie verbreitete Gebrauch der Ausdrücke „Sinn“ bzw. „Funktion“ stellt eine deutliche Ausweitung der Rede vom Sinn über die paradigmatischen alltäglichen Fälle hinaus dar, in denen eine sinnstiftende Instanz ohne weiteres auszumachen ist. Fasst man wie oben die biologische Rede vom Sinn als funktionellen Beitrag zu einem umfassenden System auf, entfernt man sich zudem noch von den typischen biologischen Fällen, insofern die Rede vom Sinn auch noch auf unbelebte Systeme ausgeweitet wird (die zudem keine technischen Entwicklungen sind). Versuche, den bio- logischen Funktionsbegriff in diesem Sinne präzise zu fassen, sind gerade wegen ihrer Anwendbarkeit auf solche unbelebten, nicht-technischen Systeme umstritten und werden als nicht hinreichend restriktiv kritisiert (vgl. etwa Krohs 2007, 293). Durch die zweimalige Ausweitung der Rede von Sinn und Zweck (Verzicht auf Sinnstifter, Anwendung auf unbelebte Systeme, die keine technischen Artefakte sind) scheinen wir in eine Grauzone gelangt zu sein, in der unklar ist, ob überhaupt noch von Sinn und Zweck gesprochen werden kann. Dies wird noch dadurch unterstrichen, dass die Rede vom Bewusstsein als Beitrag zur Leistung des ‚Gesamtsystems‘ des Universums problematisch ist: So gesteht etwa D. Hume in seinen Dialogues Concerning Natural Religion zwar zu, dass das Universum Züge eines lebenden Organismus besitzt, weist aber auch auf seine Einzigartigkeit in Hinblick auf Größe und Komplexität hin, die Analogien zu anderen Organismen bzw. Systemen fraglich mache (vgl. etwa Bromand/Kreis 2011, 128ff., 181ff.). Selbst wenn wir also das Leisten eines funktionellen Beitrags einer Entität zu einem unbelebten (nicht-technischem) ‚System‘ als deren Sinn bezeichnen können, wäre fraglich, ob diese Redeweise auch auf ein derart außerordentliches‚System‘ wie das Universum übertragen werden könnte.
Auch wenn wir somit einen Anwärter ausgemacht hätten, der zumindest nach einer Möglichkeit, die Rede von Funktionen und Sinn auszubuchstabieren, als Lebenssinn in Frage käme, scheint es sich nach dem zuletzt Gesagten aber doch auch um eine Art Grenzfall zu handeln, bei dem unklar ist, ob im üblichen Sinn des Wortes noch von Sinn oder Funktion gesprochen werden kann. Was oben nur an einem Beispiel gezeigt werden sollte, scheint dabei im Allgemeinen zu gelten: Es ist unklar, was überhaupt unter den Begriff Sinn des Lebens fallen sollte. Dabei wird im Rahmen der Frage nach dem Sinn des Lebens das Problem noch dadurch verschärft, dass zumindest suggeriert wird, es gäbe genau einen solchen Sinn. Im obigen Sinne kämen aber auch andere ‚Beiträge‘ zur Gesamtleistung des ‚Systems‘ als Sinn bzw. Zweck unserer Existenz in Frage (etwa Träger eines bestimmten Typs von Genom zu sein usw.), es wird aber keine Möglichkeit spezifiziert, wie eine dieser Funktionen als der Sinn unseres Da- seins ausgezeichnet werden könnte.
Meine Diagnose des Problems ist, dass der Ausdruck „der Sinn von“ zwar auf viele alltägliche und biologische Fälle anwendbar ist, in denen eine vorrangige Funktion einer Handlung oder eines Artefakts oder ein zentraler Beitrag zu einem biologischen Gesamtsystem ausgemacht werden kann. Bei der Anwendung des Begriffs auf unsere Existenz als ganze ist aber unbestimmt, was überhaupt als entsprechende Funktion in Frage käme und wie eine solche Funktion vor anderen als vorrangig ausgezeichnet werden könnte. Kurz gesagt: Es ist also nicht so, dass es einen Sinn des Lebens gäbe und wir nur nicht herausfinden können, worin er besteht; vielmehr legt die übliche Bedeutung der Worte keinen eindeutigen Bezug des Aus- drucks „der Sinn des Lebens“ fest. Auf die Frage nach dem Sinn des Lebens gibt es daher keine (wahre) Antwort. Der Fall scheint mir vergleichbar etwa mit der Bezeichnung „der bedeutendste Mensch“ zu sein: Wir verstehen den Ausdruck (er ist also nicht ‚sinnlos‘), obwohl er präzisierungsbedürftig ist: Solang nicht geklärt ist, in welchem Sinne „bedeutend“ zu verstehen ist, ist einfach nicht festgelegt, auf wen sich der Ausdruck bezieht.
Hierbei handelt es sich um ein allgemeineres Problem, von dem auch andere philosophische Fragen betroffen sind. So wird etwa von L. Wittgenstein in seinen Phil. Untersuchungen dafür argumentiert, dass einige philosophische Fragen aufgrund nicht hinreichend bestimmter Begriffe unbeantwortbar sind. Ebenfalls D. Parfit tritt dafür ein, dass bestimmte normative Fragen etwa danach, wie viel wir genau von unserem monatlichen Einkommen an Arme zu spenden haben, um nicht moralisch falsch zu handeln, keine Antwort besitzen. Ähnliche Grenzfälle können auftreten, wenn wir Begriffe, die auf alltägliche Fälle problemlos anwend- bar sind, auf weit entlegene Fälle anwenden: Beispielsweise ist unter den üblichen Bedingungen stets eindeutig bestimmt, wer der Vater einer Person ist (auch wenn die Person ihn nicht kennt). Bestünde hingegen die Möglichkeit, Kinder künstlich zu zeugen und dabei das genetische Material zweier ‚Väter‘ zu etwa gleichen Teilen zu verwenden, wäre unbestimmt, wer der Vater eines entsprechend gezeugten Kindes wäre (vgl. Bromand 2009, 104).
Die hier vertretene These, dass es auf die Frage nach dem Sinn des Lebens keine Antwort gibt, ist dabei nicht zu verwechseln mit dem sog. Nihilismus, dem zufolge das Leben keinerlei Sinn hat. Es ging hier vielmehr darum zu erklären, warum die Frage im obigen ‚objektiven‘ Sinne unbeantwortbar ist und eine extensive Beschäftigung mit ihr eine Verschwendung von Zeit darstellte. In diesem Sinne wird hier ein therapeutischer Ansatz im Sinne Wittgensteins verfolgt („Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit“, Phil. Untersuchungen§255). Die Erkenntnis, welche Fragen es zu verfolgen lohnt, ist dabei nicht nur in der Philosophie von Interesse. So bemühte sich etwa der Mathematiker G. Cantor lange Zeit vergebens, die sog. Kontinuumshypothese zu beweisen, von der später gezeigt werden konnte, dass sie auf der Grundlage der mengentheoretischen Axiome unentscheidbar ist – also weder bewiesen noch widerlegt werden kann.
Joachim Bromand ist Privatdozent an der Universität Bonn und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Mannheim. Zu seinen hauptsächlichen Interessensgebieten zählen die Erkenntnistheorie, die Wissenschaftsphilosophie, die Sprachphilosophie und die (Meta-)Metaphysik. Philosophiehistorisch interessiert er sich für die Geschichte der Gottesbeweise und die Anfänge der analytischen Philosophie, insb. bei Frege und Wittgenstein.
Literatur
Bromand, Joachim: Grenzen des Wissens. Paderborn 2009.
Bromand, Joachim & Kreis, Guido (Hg.): Gottesbeweise. Von Anselm bis Gödel. Berlin 2011.
Fehige, Christoph; Meggle, Georg & Wessels, Ulla (Hg.): Der Sinn des Lebens. München 2000.
Krohs, Ulrich: Der Funktionsbegriff in der Biologie. In: Andreas Bartels & Manfred Stöckler (Hg.): Wissenschaftstheorie, Paderborn 2007.
Metz, Thaddeus: Meaning in Life. Oxford 2013(a).
Metz, Thaddeus: The Meaning of Life. In: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2013(b) Edition), URL =<https://plato.stanford.edu/archives/sum2013/entries/life-meaning/>.
Safranski, Rüdiger: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit. München 1994.