07 Mai

Wie ist die Frage nach dem Sinn des Lebens zu verstehen?

von Tatjana Visak (Bayreuth)


Man kann sich fragen, warum es überhaupt Leben oder insbesondere menschliches Leben gibt. Was ist der Sinn von (menschlichem) Leben? Man kann sich außerdem die Frage stellen, ob das eigene Leben sinnvoll ist, ob es beispielsweise Sinn hat, das eigene Leben (auf eine bestimmte Weise) weiter zu führen. Letzteres ist die Frage nach dem Sinn des Lebens, oder dem Sinn im Leben, um die es hier gehen soll. In diesem Beitrag möchte ich diese Frage allerdings nicht beantworten. Stattdessen möchte ich einen Vorschlag machen, wie die Frage zu verstehen ist. Wonach fragen wir eigentlich, wenn wir wissen wollen, ob unser Leben sinnvoll ist, oder wenn wir darüber nachdenken, wie wir unserem Leben mehr Sinn verleihen können? Wie ist der Sinnbegriff in diesem Zusammenhang zu verstehen?

Ein gutes Verständnis der Frage scheint mir aus drei Gründen wichtig. Erstens können wir die zahlreichen vorgeschlagenen Antworten so besser verstehen. Zweitens hilft uns Klarheit über die Frage bei der Beurteilung der verschiedenen Antworten: Wie plausibel die einzelnen Antworten sind, lässt sich nun einmal besser ausmachen, wenn wir die zu beantwortende Frage verstehen. Drittens können wir dank Klarheit über die Frage besser erkennen, ob alle vorgeschlagenen Antworten tatsächlich Antworten auf ein und dieselbe Frage sind.

Man sollte meinen, es sei selbstverständlich, eine Frage erst zu verstehen, bevor man Antworten gibt. Wenn mir von vornherein klar ist, dass ich eine Frage nicht verstehe, dann werde ich mich nicht erdreisten, diese Frage zu beantworten. Genau dies tun aber viele Philosophen, wenn es um die Frage nach dem Sinn des Lebens geht. Sie geben zu, die Frage nicht zu verstehen, worauf sie aber trotzdem eine Antwort geben. Sie sagen, die Frage ließe sich auch hinterher noch klären, vielleicht sogar anhand der gegebenen Antworten. Leider lässt eine akzeptable Interpretation der Frage auch nach vielen Antworten noch auf sich warten.

In der philosophischen Literatur wird die Klärung der Sinnfrage bisher auf zwei verschiedene Weisen versucht. Zum einen wird versucht, anhand gegebener Antworten quasi rückwärts zu denken, was die Frage gewesen sein könnte. Dies führt zu zahlreichen Vorschlägen, wie die Frage zu verstehen sei, je nach dem von welcher Antwort man ausgeht. Die Frage wird dann so eng gefasst, dass die jeweilige Antwort, von der man ausging, zwar hervorragend passt; allerlei andere gängige Antworten passen dann aber leider nicht mehr zur so verstandenen Frage. Dies würde bedeuten, dass andere Menschen, die vermeintlich rivalisierende Antworten auf dieselbe Sinnfrage geben, tatsächlich ganz andere Fragen beantworten. Es würde also bedeuten, dass in der Debatte über den Sinn des Lebens völlig aneinander vorbei geredet wird. Prinzipiell ist das nicht auszuschließen. Aber ich finde, wir sollten erst einmal schauen, ob die Frage nicht so verstanden werden kann, dass alle gängigen Antworten zumindest mögliche (wenn auch nicht richtige) Antworten auf diese Frage sind. Der andere Versuch, die Sinnfrage zu verstehen, geht wie folgt: Man versucht, den Begriff des sinnvollen Lebens besser zu verstehen, indem man von den Haltungen ausgeht, die einem solchen Leben gegenüber angemessen sind. Man fragt, was generell die entsprechenden Haltungen angemessen macht. Und schon weiß man, was ein sinnvolles Leben ist, nämlich ein Leben dem gegenüber die Haltungen angemessen sind. Wenn ich zum Beispiel davon ausgehe, dass einem sinnvollen Leben gegenüber Stolz und Bewunderung angemessen sind, und wenn ich weiterhin weiß, dass Stolz und Bewunderung generell bei hervorragenden Leistungen angemessen sind, dann kann ich daraus schließen, dass hervorragende Leistungen ein sinnvolles Leben ausmachen. Ich halte von dieser Vorgehensweise nicht sehr viel, unter anderem weil sie die Welt auf den Kopf stellt. Werte werden nicht durch die ihnen angemessenen Haltungen bestimmt. Im Gegenteil muss man Verständnis der Werte bereits voraussetzen, um zu wissen, welche Haltungen als Reaktion auf diese Werte angemessen sind. Mein Leben ist also zum Beispiel nicht sinnvoll, weil es bewundernswert ist. Es ist, wenn überhaupt, bewundernswert, weil es sinnvoll ist.

Hier ist mein Vorschlag zum Verständnis der Sinnfrage. Wenn wir die Frage nach dem Sinn im Leben stellen, wollen wir wissen, ob wir Grund haben, die Dinge zu tun, die wir tun. Genauer gesagt geht es um normative Handlungsgründe, also um Eigenschaften unserer Handlungen die unsere Handlungen für uns normativ rechtfertigen. Es geht also nicht darum, was uns zu einer Handlung motiviert hat, sondern darum, was die Handlung rechtfertigt. Wenn ein Vater zum Beispiel seiner Tochter sagt, sie habe keinen Grund, ihren Bruder zu schlagen, dann kann die Tochter antworten: „Doch, denn ich wollte ihm weh tun.“ Sie nennt dann ihre Motivation für die Handlung. Der Vater meinte aber mit der Aussage, dass sie keinen Grund habe, den Bruder zu schlagen, dass es nicht gerechtfertigt war, dies zu tun. Er redet von rechtfertigenden, d.h. von normativen Gründen. Genauso reden wir, gemäß meinem Vorschlag, von rechtfertigenden Handlungsgründen, wenn wir die Frage nach dem Sinn in unserem Leben stellen.

Wenn wir also sagen, dass das Leben von Sisyphus – der von den Göttern dazu verdammt ist, einen schweren Felsbrocken einen Berg hoch zu rollen, von wo der Brocken dann wieder runter rollt, worauf Sisyphus ihn wieder hochrollen muss – ein Paradebeispiel der Sinnlosigkeit sei, dann sagen wir, dass Sisyphus einer Handlung nachgeht, die zu tun es keinen rechtfertigenden Grund gibt. Natürlich kann man erklären, warum Sisyphus tut, was er tut. Aber die Tätigkeit an sich hat keinen Sinn: nichts spricht dafür, sie auszuführen. Wenn ich wissen will, ob mein Leben noch einen Sinn ergibt, oder ob ich mich genauso gut gleich umbringen könnte, dann geht es darum, ob irgendetwas dafür spricht, genau die Dinge zu tun, die ich tue. Vielleicht könnte ich meinem Leben mehr Sinn verleihen, indem ich anderen Beschäftigungen nachginge.

Was macht es so attraktiv, die Frage nach dem Sinn des Lebens als eine Frage nach normativen Handlungsgründen zu verstehen? Erstens scheint es intuitiv passend, Aussagen über den Sinn des Lebens auf diese Weise zu „übersetzen“, wie ich bereits angedeutet habe. Zweitens werden im Hinblick auf normative Handlungsgründe subjektive und objektive Theorien unterschieden. Objektive Theorien besagen, dass das Schaffen von objektivem Wert uns normative Handlungsgründe gibt. Zum Beispiel haben wir gemäß diesen Theorien Grund, das allgemeine Wohlergehen oder Gerechtigkeit zu realisieren. Subjektive Theorien sagen, dass unsere eigenen Präferenzen die Grundlage normativer Handlungsgründe sind. Demnach hätten wir Grund, genau das zu tun, was wir wollen. In paralleler Weise werden subjektive und objektive Antworten auf die Sinnfrage unterschieden. Drittens ist mein Verständnis der Sinnfrage kompatibel mit allen üblicherweise darauf gegebenen Antworten. Ich fasse die Frage also nicht so eng auf, dass ich gängige Antworten von vorn herein ausschließe. Viertens stellt meine Begriffsanalyse uns in die Lage zu sehen wie sich der Sinnbegriff zu anderen Begriffen, z.B. zu „Wohlergehen“, „Moral“ und dem „guten Leben“ verhält. Ob ein sinnvolles Leben ein moralisches oder gutes Leben ist, ist nicht bereits in den Begrifflichkeiten enthalten, sondern muss durch die inhaltlichen Theorien, d.h. unter anderem durch die Antworten auf die Sinnfrage, geklärt werden. Fünftens zeigt meine Analyse auf, dass ein Leben nicht nur sinnvoll oder sinnlos sein kann, sondern auch so etwas wie einen negativen Sinn haben kann, etwa wenn wir überwiegend Dinge tun, die wir normativen Grund hätten, nicht zu tun. Gemäß objektiver Theorien wäre dies der Fall, wenn man negativen Wert, also Übel, erschafft. Subjektiven Theorien zufolge träfe es zu, wenn man Dinge tut, die den eigenen Präferenzen widersprechen. Zu guter Letzt führt meine Analyse des Sinnbegriffs zu einigen überraschenden Einsichten. So ist „Sinn des Lebens“ nicht als ein Wert zu verstehen, da (oder insofern wie) Werte konzeptuell von Handlungsgründen zu unterscheiden sind.

Außerdem zeigt sich, dass wir nicht unbedingt Grund haben, unser eigenes Leben, oder das eines anderen, sinnvoller zu machen. Um dies zu sehen, nehmen wir einmal an, dass das Fördern von Wohlergehen uns Grund zum Handeln gebe. Demnach wäre Ihr Leben sinnvoller, je mehr sie die Lebensqualität von ihnen selbst und von anderen fördern. Wenn ich, um mal ein seltsames Beispiel zu nennen, einige Hunde entführe und glaubhaft androhe, diese zu quälen wenn Sie nicht jeden Tag auf einen Knopf drücken, dann gewinnt Ihr Leben durch Ihre täglichen Knopfdrücke mehr Sinn, denn dadurch sichern Sie das Wohl der Hunde. Obwohl ich durch diese seltsame Aktion Ihr Leben sinnvoller machen könnte, habe ich keinen Grund, die Hunde zu kidnappen, denn weder den Hunden, noch sonst wem ginge es dadurch besser. Wenn also, wie wir hier beispielhaft annehmen, das Fördern von Wohlergehen Handlungsgründe schafft, dann habe ich keinen Grund, die Hunde zu kidnappen, obgleich ich Ihr Leben damit sinnvoller machen würde.

Wie ich behaupte, ist das Leben einer Person sinnvoll, insofern wie diese Person Dinge tut, die sie normativen Grund hat zu tun. Das ist nicht als eine Antwort auf die Sinnfrage gemeint, sondern als ein Vorschlag, diese zu verstehen. Wenn Sie meinen Vorschlag kritisieren wollen, dann sollten sie Beispiele nennen, in denen eine Person irgendeiner Theorie von Handlungsgründen zufolge Grund hat, eine bestimmte Tätigkeit auszuführen, die Tätigkeiten das Leben der Person aber gemäß derselben Theorie nicht (auch nur ein kleines bisschen) sinnvoller macht. Man denke zum Beispiel erneut an allgemeines Wohlergehen als Basis für Handlungsgründe und an eine Person, die sich den ganzen Tag hindurch mit einfachen Computerspielen amüsiert. Vorausgesetzt, der Person selbst ginge es dabei gut, müsste dies als ein sinnvolles Leben gelten, was falsch erscheint. Dazu würde ich folgendes sagen: Wenn wir ein Leben im allgemeinen Sprachgebrauch als sinnvoll loben, dann ist das Leben in der Regel sinnvoller als die meisten anderen Leben: es ist besonders sinnvoll. Genauso nennen wir Menschen „groß“, die besonders groß sind, wobei die Vergleichsklasse oft implizit bleibt. Das Leben des Computerspielers wird also als vergleichsweise sinnlos eingestuft, zum Beispiel auch im Vergleich zu den Möglichkeiten die diese Person hätte, ihr Leben sinnvoller zu gestalten. Trotzdem könnte man zugeben, dass das Leben einen minimalen positiven Sinn enthält, wenn man zumindest die hier beispielhaft angenommene Theorie von Handlungsgründen akzeptiert.


Tatjana Visak ist seit Herbst 2018 Postdoc an der Universität Bayreuth. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Ethik, insbesondere im Bereich des Konsequentialismus.

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