28 Jun

Lakatos‘ Synthese von Popper und Kuhn

Von Gerhard Schurz (Düsseldorf)


Als ich die Arbeit von Imre Lakatos „Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme“ (1974) als Student das erste Mal las, war ich beeindruckt. Lakatos schaffte es darin nämlich, zwei wissenschaftstheoretische Perspektiven zu verbinden, die mir bis dahin als unversöhnlich erschienen waren: die von Karl Poppers „Logik der Forschung“ (1935) und die von Thomas Kuhns „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ (1967). Karl Popper vertritt in seiner Wissenschaftstheorie ein rigides Konzept von Theorienfalsifikation. Sobald sich auch nur ein Gegenbeispiel zu einer wissenschaftlichen Theorie findet, gilt diese Theorie als falsifiziert, also durch die Erfahrung widerlegt. Dies liegt daran, dass Popper zufolge alle Theorien die Form von strikten Allhypothesen haben, beispielsweise „Für all x gilt: wenn x ein Metall x, dann leitet x Strom“. Solche Allhypothesen können aus streng logischen Gründen, durch ein einziges Gegenbeispiel (ein Stück Metall, das nicht den Strom leitet) widerlegt werden. Dagegen können sie durch keine endliche Menge von positiven Beispielen verifiziert bzw. bewahrheitet werden; Popper nannte dies die „Asymmetrie von Verifikation und Falsifikation“.

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05 Feb

Sicherheit auf Kosten von Freiheit und Lebensqualität?

Warum richtiges Handeln in der Coronakrise nicht nur von Expertenwissen abhängt

Von Gerhard Schurz (Düsseldorf)


Selten hatten medizinische Experten soviel politische Macht und wurden andererseits so massiv angezweifelt. Dieser Essay möchte zur Klärung dieses Widerspruchs beitragen. Aber nicht, wie bei Gegnern von Corona-Schutzmaßnahmen üblich, indem medizinisches Faktenwissen mit fragwürdigen Argumenten bezweifelt wird. Stattdessen soll der Blick für den Unterschied zwischen den Fakten und Wertentscheidungen geschärft werden. Epidemologie-Experten können uns sagen, welche Verzichtsmaßnahmen die Infektionsraten so-und-so niedrig halten können. Aber ob diese Verzichtsmaßnahmen die damit erreichten Wirkungen wert sind, durch sie legitimiert werden, ist keine medizinische Frage, sondern eine Wertentscheidung. Ohne ethische Prämissen folgen aus Fakten keine Werte oder Normen; in der Philosophie spricht man hier auch von naturalistischen Fehlschluss oder Sein-Sollen Fehlschluss. Für die Wertentscheidungen in der Coronafrage sind Wissenschaften wie Psychologie, Ökonomie und Philosophie ebenso wichtig wie Medizin und Epidemologie. Letztlich aber ist diese Wert­entscheidung von allen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes im Rahmen unserer parlamentarischen Demokratie vorzunehmen. Als ich unlängst in einer Tageszeitung las, „die Mediziner haben ein Urteil gefällt, das wir umsetzen müssen“,[1] schämte mich dafür, für wie unmündig die Medien die Bürger ihres Landes einstufen.

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