12 Dez

Ob es besser wird, wenn alle weniger machen. Vereinbarkeit und Leistungsdruck in der Wissenschaft

Von Gottfried Schweiger (Salzburg)


“Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen.” Pippi Langstrumpf

Vereinbarkeitsprobleme entstehen auch dadurch, dass die Anforderungen im System Wissenschaft sehr hoch sind, dennoch sehr viele hier tätig sein wollen, weshalb es zu großem Konkurrenzdruck kommt und die Verhandlungsmacht derjenigen, die Schwierigkeiten haben, diese Anforderungen zu erfüllen, gering ist. Vielleicht wäre es eine Lösung, wenn alle einfach weniger machen würden. Dem will ich hier nachgehen.

Über individuelle wie strukturelle Vereinbarkeitsprobleme von Wissenschaft und Fürsorgearbeit wurde auch auf diesem Blog schon einiges geschrieben. Menschen – es betrifft vor allem Frauen – die Fürsorgearbeit leisten, haben weniger Ressourcen wie Raum, Zeit und Ruhe für wissenschaftliche Tätigkeiten, dafür mehr Stress und Druck. Kurz gesagt: sie werden benachteiligt.

Das bringt mich zur Frage, wie das Problem denn gelöst werden könnte. Angenommen der Leistungsdruck wird im System Wissenschaft nicht nur extern erzeugt, sondern auch intern und zwar durch alle, die darin tätig sind, dann ist es sinnvoll, zu überlegen, ob man nicht hier einen Ansatz für Verbesserung findet. Es spricht einiges für die Annahme, dass die Universität als Institution und Organisation nicht nur extern gesteuert wird und auch intern nicht nur hierarchisch Leistungsvorgaben von oben nach unten erfolgen. Das liegt in der Natur der Wissenschaft, deren Produkt auch in Zeiten des New Public Management an Universitäten nicht einfach zu fassen und zu bewerten ist. Es entspricht auch meiner eigenen bescheidenen Erfahrung, die in vielen Gesprächen mit Kolleg:innen verschiedener Universitäten großteils bestätigt wurde, dass es nicht direkte Vorgaben von oben oder außen sind, die festlegen, wie viel an Wissenschaft produziert werden muss. Das „Produkt“, das am häufigsten gesteuert und in seinem Umfang – nicht seiner Qualität – festgelegt wird, ist die Lehre. Dazu kommen Aufgaben der universitären Selbstverwaltung, die durchaus viel Zeit kosten können und oft gar nicht als Leistung wahrgenommen werden. Andere „Produkte“ wie Publikationen, Konferenzteilnahmen, Konferenzorganisationen, Projektanträge oder Third Mission Aktivitäten sind weitgehend ungesteuert, sowohl was die Anzahl als auch die Kriterien der Qualität, Verbreitung oder Reputation angeht. Sicherlich, die Freiheitsgrade sind je nach Position, Institutionskultur, universitärer Vorgaben oder vertraglicher Regelungen sehr unterschiedlich. Aber spätestens ab Postdoc-Niveau habe ich sehr wenige Kolleg:innen getroffen, die hier nicht relativ viel Spielraum hatten.

Es ist also, so meine These, ein durch die Wissenschaftler:innen kollektiv erzeugter Druck, der zumindest teilweise Vereinbarkeitsprobleme erzeugt und verstärkt. Wenn es nicht so viele Dinge zu tun gäbe, weil sie zu tun als normal gilt, dann hätte man auch weniger Druck und Stress, sie zu erledigen. Dass alle so viel tun, also immer mehr – wobei dieses „mehr“ hier nicht nur Quantität, sondern auch andere Kriterien wie Rankings oder Prestige meinen kann – Publikationen, Projektanträge, Konferenzteilnahmen usw. als normal angesehen werden, hat verschiedene Ursachen.

Eine davon ist wahrscheinlich, dass man sich durch die eigene Leistung einen Vorteil gegenüber anderen verschaffen will, weil sie einem bessere Jobchancen, bessere Chancen beim nächsten Projektantrag oder einen höheren Status einbringen. Die Konkurrenz, vor allem um die wenigen entfristeten Jobs als Professor:in, ist enorm und wer sich durchsetzen will, sollte besser mehr leisten als die anderen, wobei Leistung in der Wissenschaft nicht in der aufgewendeten Zeit, sondern in den oben genannten Produkten gemessen wird.

Viele wollen aber auch viel leisten und sie wollen dafür Anerkennung. Das hat, so eine andere Ursache, auch etwas mit der hohen intrinsischen Motivation zu tun, die die meisten an der Universität mitbringen und bei sich und bei anderen für selbstverständlich halten, ja sogar einfordern. Wer erklärt – und ich habe es selbst ausprobiert –, für ihn oder sie wäre Wissenschaft halt nur ein Job wie viele andere und es sei eigentlich wenig Unterschied, ob man philosophische Aufsätze schreibt oder Fahrräder repariert oder im Kindergarten arbeitet, erntet viele ungläubige Blicke. Und es wird einem manchmal sogar nahegelegt, man sollte sich dann doch lieber einen anderen Job außerhalb der Universität suchen.

Eine dritte Ursache für das Hamsterrad ist das, was man als Verschmelzung von Wissenschaft und Leben oder die Lebensform Wissenschaftler:in beschreiben könnte. Viele kennen es gar nicht anders, als für die Wissenschaft zu leben – leider, möchte man bei manchen sagen. Und wer in seinem Leben wenig anderes für wertvoll hält oder für wenig anderes Zeit aufwendet, hat dann auch tatsächlich viel Zeit dafür, Wissenschaft zu produzieren. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung unterstützt hier ein männliches Modell des akademischen Leistungsdenken, das Familie und Betreuung in den Hintergrund drängt.

Was könnte man dagegen tun? Die Lösung, die auf der Hand liegt, wäre weniger zu machen. Wenn wir alle weniger machen, dann wird das über kurz oder lang zur neuen Normalität. Niemand hält dann eine (zu) hohe Anzahl an Aufsätzen (in prestigereichen Zeitschriften mit 5% Annahmequote) oder Büchern oder Konferenzteilnahmen oder Projektanträgen oder Radioauftritten für normal, weil (fast) niemand so viel leistet. Nachdem sehr viele wichtige Entscheidungen von Wissenschaftler:innen selbst gefällt werden – zum Beispiel in Berufungskommissionen, Bewerbungsgesprächen oder Projektvergabesitzungen –, setzt sich die neue Normalität der geringeren Leistung durch.  Es ist nicht zu erwarten, dass externe Kräfte gegensteuern werden, sofern ein gewisses Niveau an Output weiterhin gehalten wird.

Einwände gegen meinen Vorschlag liegen natürlich ebenso auf der Hand. Der erste Einwand wird lauten, dass man dadurch die Wissenschaft selbst schädigt. Schließlich tragen viele gute Aufsätze, Projekte, Konferenzen usw. zum Wissenschaftsfortschritt bei. Und dem sind wir alle und ist vor allem die Universität als Institution und Organisation verpflichtet (und dafür werden wir auch mit Steuergeldern finanziert). Der zweite Einwand wird auf die Autonomie der Wissenschaftler:innen abstellen. Man dürfe und könne ihnen nicht vorschreiben, wie viel sie produzieren. Das wäre geradezu absurd, einem:einer produktiven Wissenschaftler:in (die vielleicht nun einmal für die Wissenschaft lebt) vorzuschreiben, dass sie z.B. nur eine bestimmte Anzahl an Aufsätzen schreiben darf. Der dritte Einwand wird darauf abzielen, dass das derzeitige System meritokratisch ist. Die besten Köpfe sollen sich durchsetzen und ein Kriterium, ob man dazu gehört, ist eben die Leistung gemessen am Output. Ein vierter Einwand wird pragmatisch darauf hinweisen, dass wir es hier mit einem Koordinationsproblem zu tun haben. Keiner wird damit anfangen, weniger zu machen, weil er:sie nicht weiß, ob die anderen mitmachen und niemand einen Nachteil in Kauf nehmen will (gerade prekär beschäftigte Wissenschaftler:innen haben zu viel zu verlieren, wenn sie weniger machen).

Mich überzeugen diese Einwände vor allem dahingehend, dass die Vorstellung, wir alle würden bald weniger machen und daher auch weniger machen müssen, (leider) utopisch ist. Und dass, obwohl ich die Verluste, die mit einem Umstieg auf eine weniger leistungsorientierte Wissenschaft mit sich bringen würde, für nicht gravierend halte. Der Preis, den wir dafür zahlen, so weiterzumachen wie bisher, ist, dass manche, die eigentlich sehr gute Wissenschaft machen, nicht mitkommen oder nicht mehr mitkommen wollen (beides halten manche mit Verweis auf die akademische Meritokratie für gerecht). Dass wir das System so akzeptieren, hat Auswirkungen darauf, welche politischen, organisatorischen und individuellen Lösungen wir anstreben.

Primär zwei Lösungen stehen dann im Raum: Die erste ist, allen mit Vereinbarkeitsproblemen so zu helfen, dass sie, egal, was sie sonst für Verpflichtungen in ihrem Leben haben, sich wie alle anderen im Hamsterrad der Wissenschaft die Füße wund laufen können. Die zweite ist, dass man für Menschen mit bestimmten Vereinbarkeitsproblemen etwas geringere Anforderungen aufstellt (zum Beispiel ist es dann in Ordnung, dass während Karenzzeiten keine Publikationen geschrieben wurden) oder sie bei gleicher Leistung bevorzugt.

Beide Lösungen halte ich für wenig befriedigend, auch wenn ich leider keine bessere anzubieten habe. Wer den Luxus hat, nicht mehr so viel leisten zu müssen (z.B. um einen Job zu bekommen oder abzusichern), scheint mir dennoch gut darin beraten, einfach einmal weniger zu machen und von sich selbst und von anderen weniger zu erwarten. Dann bleibt auch mehr Zeit für andere wertvolle persönliche Projekte. Oder einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen.


Ich danke Katharina Naumann für Verbesserungsvorschläge und den Herausgeberinnen dieses Themenblocks, dass sie meinen Beitrag aufgenommen haben.


Gottfried Schweiger arbeitet an der Universität Salzburg und lebt manchmal in Widerspruch zu dem, wofür er in seinen Texten argumentiert. Jedes Jahr im Herbst ist er auf der Tagung für Praktische Philosophie anzutreffen. Im Philosophie Magazin ist vor kurzem sein Text zu einer feministischen Ethik des Vaterseins erschienen.

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