11 Mai

Von Pilzen und Wissenschaftler*innen. Gedanken zur „Vereinbarkeit“ von Wissenschaft und Leben

Von Tina Jung (Magdeburg)

In seinem 1642 erschienen Werk „De Cive. Über den Bürger“ schreibt Thomas Hobbes über den Naturzustand: „Wir wollen (…) annehmen, daß die Menschen gleichsam wie Schwämme plötzlich aus der Erde hervorgewachsen und erwachsen wären, ohne daß einer dem andern verpflichtet wäre.“ (Hobbes, 2014 [1642], S. 166) Seyla Benhabib hat diese in der westlichen politischen Ideengeschichte einflussreiche Hobbes’sche Vision von Menschen, die wie Pilze aus der Erde ploppen, bereits in den 1980er Jahren als ultimative männliche (und narzisstische) Fiktion von Autonomie entlarvt, die den basalen Umstand menschlicher Abhängigkeit und Angewiesenheit verleugnet. Kritische Auseinandersetzung mit diesem Menschenbild bleibt gleichwohl nötig, und zwar auch mit Blick auf den Wissenschaftsbetrieb. Das vorherrschende Idealbild der wissenschaftlichen Persönlichkeit ist den Hobbes’schen Pilzen nicht unähnlich. Dabei ist der Anspruch auf ein gutes Leben in- und außerhalb der Wissenschaft mehr ist als „nur“ eine Frage der Vereinbarkeit von Wissenschaft und Familie.

“It’s a strange world“

Alle Menschen sind geboren und brauchen wenigstens lebensabschnittsweise Formen von Fürsorge, Nähe, Zugewandtheit und körperliche Berührung Anderer. Die Hobbes’sche Vision des Naturzustands ist daher eine seltsame, merkwürdig verkehrte Welt: „it is [a world] in which individuals are grown up before they have been born; in which boys are men before they have been children; a world where neither mother, nor sister, nor wife exist.“ schreibt Benhabib (1985, 409ff.). Die gesellschaftliche Position und Erfahrung von Müttern, Schwestern, (Ehe-)Frauen kommt, so Benhabib, in der Konstruktion moderner autonomer Subjekte und Bürger (sic!) nur als das Nicht-Benannte vor, als das Abwesende, als mit dem Gegenteil dessen ausgestattet, was bürgerlichen (weißen, besitzenden) Männern zugeschrieben wird: Sie sind als Nicht-Männer weder autonom noch unabhängig, sind fürsorglich statt aggressiv und konkurrierend, sind im Privaten verortet statt im Öffentlichen. 

Im Denken Hobbes kommen somit die großen herrschaftsförmige Dualismen zum Tragen, die auch über sein Wirken hinaus eine wesentliche Rolle bei der Konstitution von Geschlechter- und Gesellschaftsverhältnissen moderner westlicher Staaten gespielt haben: Kultur/Natur, Geist/Körper, Öffentlichkeit/Privatheit, Freiheit/Unfreiheit, Autonomie/Abhängigkeit, Selbstbestimmung/Notwendigkeit. Dualismen, die zugleich zutiefst vergeschlechtlicht sind und auf deren Grundlage jahrhundertelang zahlreiche Ausschlüsse derjenigen gerechtfertigt wurden, denen ein Übermaß an Natur, Körperlichkeit und Abhängigkeit zugeschrieben wird: Frauen, LGBTIQ+, People of Color, Menschen mit Behinderung, Kinder. Aus dieser Kritik am Menschen- und Gesellschaftsbild androzentrischer Theorieentwürfe (wie dem von Hobbes) ist eine umfassende feministische Auseinandersetzung mit Produktions- und Reproduktionsarbeit, Care-Arbeit und Care-Ethik, Öffentlichkeit und Privatheit, Staat und Demokratie erwachsen.

Wissenschaft als (vergeschlechtlichte) Lebensform

Die androzentrischen Prämissen, die dem Hobbes’schen Menschenbild unterliegen, betreffen darüber hinaus auch das Bild von Wissenschaft und denen, die sie betreiben. Die Humboldt’sche Vorstellung von Universitäten und der „reinen Idee der Wissenschaft“, in der „Einsamkeit und Freiheit“ die „vorwaltenden Principien“ seien (Humboldt 1809/10, S. 229) ist geknüpft an ein Bild von Wissenschaftler*innen, das den Hobbes’schen Pilzen nicht fern ist. Zusammenarbeit zwischen geistig Tätigen ist zwar vorgesehen, jedoch nur als ein „ungezwungenes und absichtsloses“ Zusammenwirken (ebd., 230) jener, die „vom Zwange entbunden“ (ebd., S. 235) sind. Die Konstruktion des neuzeitlichen Typs des (männlichen, weißen, besitzenden) Wissenschaftlers und der bürgerlichen Wissenschaftsproduktion ist seit dem 19. Jahrhundert eng verwoben mit der Vorstellung, dass Wissenschaft etwas ist, was die ganze Person beansprucht und also nur mit vollstem Engagement betrieben werden kann. Max Weber schreibt prägnant: „Persönlichkeit auf wissenschaftlichem Gebiet hat nur der, der rein der Sache dient“ (Weber 2006, S. 15).

Mit dem bis heute wirksamen Konzept der „Wissenschaft als Lebensform“ (vgl. Mittelstraß 1982, Krais 2008) verbinden sich Zuschreibungen und Voraussetzungen. Dazu zählen nicht nur zeitliche und räumliche Verfügbarkeitsanforderungen. Wer sich der Berufung hingibt, kann und muss entsprechend den noch immer „wilden Hasard“ (Weber 2006, S. 11) aushalten, sich auf die Prekarität und Unsicherheit von Karrieren im deutschen Wissenschaftsbetrieb einzulassen. Wissenschaft ist, mit Bourdieu gesprochen, ein ‚ernstes Spiel’, das hohen individuellen Einsatz verlangt. Sie ist eine „lebensverschlingende Tätigkeit“ (Krais 2008, S. 188), die keine ernsthaften Nebenbeschäftigungen erlaubt, „weder die Sorge um Kinder oder pflegebedürftige Familienangehörige noch ein zeitraubendes Hobby oder gar anspruchsvolle politische Ehrenämter“ (ebd.). Genau diese ‚Freiheit‘ wird aber – wie auch beim Hobbes’schen autonomen Pilz-Bürger – von einer unsichtbaren gemachten Voraussetzung vergeschlechtlichter Fürsorgearbeit anderer getragen.  

Die (bürgerliche) Familie dient dabei als welfare agency der (männlichen) wissenschaftlichen Persönlichkeit: Der hohe individuelle Einsatz in der Wissenschaft ist nicht möglich ohne emotionale Ruhezeit, Ausgleich, Privatheit, Unterstützung oder Abnahme alltäglicher Angelegenheiten. Für Wissenschaftlerinnen, das zeigt die Wissenschaftsforschung, ist Familie weniger eine unterstützende Infrastruktur, auf die selbstverständlich zugegriffen werden kann, sondern eine, der zusätzlich Rechnung getragen werden muss. Besonders deutlich hat sich das während der Corona-Pandemie gezeigt, die zu einer dramatischen Zunahme der Belastungen von Familien und insbesondere von Müttern geführt hat (vgl. Hövermann/Kohlrausch 2022). In der Wissenschaft zeigt sich das u.a. durch Karriereeinbrüchen, den sog. gender publication gap und eine sich insgesamt zuspitzende Benachteiligung von Müttern und anderen Sorgearbeitenden (vgl. Czerney/Eckert/Martin 2022).

Die hegemoniale illusio der Wissenschaft als Lebensform schlägt sich in der weitgehenden Abspaltung und Ausblendung des Alltäglichen, Notwendigen, Körperlichen, Emotionalen, Fürsorglichen und Verletzlichen nieder. Zugleich wird dieses als etwas der reinen Wissenschaft Entgegenstehendes konzipiert. Das zeigt sich auch in einer bestimmten Konstruktion von Objektivität, in der kein (wissenschaftliches) Subjekt mehr hervorscheint: Sie ist enthoben von konkreten, verkörperlichten gesellschaftlichen Positionierungen und Erfahrungen unterschiedlicher Personengruppen. Trotz der formalen Öffnung der Institution Wissenschaft für Frauen bleibt diese somit ein nach wie vor hochgradig männlich vergeschlechtlichter sozialer Raum, „weil sie in der Alltagswahrnehmung des wissenschaftlichen Feldes etwas ganz anderes verkörpern als ihre Kollegen, nämlich die Welt der Familie, der Körperlichkeit und der Geschlechtlichkeit, der sorgenden Tätigkeiten“ (Krais 2010, S. 37).

Ausschlüsse und fehlende Anerkennung

Die vergeschlechtlichten Dichotomien von Kopf- und Handarbeit, Vergeistigung und Verkörperung wissenschaftlicher Freiheit und alltäglicher Notwendigkeit, Verletzlichkeit, Abhängigkeit und Fürsorge markieren (mehr oder weniger explizite) Grenzziehungen. Diese schlagen sich nieder in Ausschlüssen und vorenthaltener Anerkennung von Frauen, LGBTIQ+, People of Color und Menschen mit dauerhaften Krankheiten oder Behinderung als vollwertigen Wissenschaftler*innen. Diese Ausschlüsse und Anerkennungsökonomien verdichten sich zur Fiktion entkörperter, pausenlos leistungsfähiger und -williger und von sozialen Beziehungen entbetteter Wissenschaftler*innen – zumindest sofern diese Beziehungen jenseits karriereförderlichen Networkings liegen. Realisiert wird diese Fiktion u.a. durch einen inzwischen riesigen Markt an Wissenschaftskarriere-Coachings, hinter denen vielfach letztlich das Ziel verbesserter Selbstoptimierung und -ausbeutung steht. Und das in einem System, das die meisten Wissenschaftler*innen bis zum Drop-out in prekären Verhältnissen belässt.

Die Konstruktion von reiner Wissenschaft und wissenschaftlicher Persönlichkeit als etwas, in dem das Körperliche, Emotionale, Angewiesene ausgeschlossen ist, hat nicht zuletzt auch Auswirkungen auf die Konstruktion und die Wahl wissenschaftlicher Gegenstände. Themen wie Schwangerschaft Geburt, Mutter- und Elternschaft, Sexualität und Geschlecht, geschlechtsspezifische Gewalt, Macht und Unterwerfung waren lange nicht Gegenstand wissenschaftlicher Befassung. Teils sind sie erst vor wenigen Jahren verstärkt in den Fokus gekommen. Noch immer gerät eine wissenschaftliche Beschäftigung damit leicht in den Verdacht, bloße Befindlichkeitsforschung zu sein: subjektiv eingefärbt, tendenziell parteilich und ‚betroffen‘, allenfalls eine Nischenthema.

Über Gleichstellung und Vereinbarkeitsfragen hinaus

Die illusio, dass Wissenschaft (idealerweise) von Menschen gemacht wird, die den Hobbes’schen Pilze ähneln, ist zurückzuweisen. Sie ist eine androzentrische, entkörperte, aus Selbst- und Weltbeziehung entbettete Fiktion. Eine Fiktion allerdings, deren Ablagerungen in der Struktur des Wissenschaftsbetriebs, in Karriereanforderungen und Arbeitsidealen reale Ausschlüsse und Benachteiligungen von Menschen produzieren, die diese Fiktion nicht aufrechterhalten können oder wollen. Die Auswirkungen dessen sind jedoch nicht allein in Begriffen von (Anti-)Diskriminierung zu fassen. Es reicht nicht, Gleichstellungs- und Förderinstrumente zum Ausgleich von zusätzlichen ‚Belastungen‘ in Form eines Lebens außerhalb der Wissenschaft einzusetzen, wiewohl dies auch nötig ist.

Und selbst angenommen, (Sozial-)Wissenschaftler*innen seien nicht dergestalt ‚betroffen‘ von dem, worüber sie arbeiten: Was wären das eigentlich für wissenschaftliche Persönlichkeiten, bar jeder gesellschaftlicher Erfahrung, sozialer Verantwortung und Beziehung mit Anderen außerhalb der Wissenschaft? Was hätte deren „geistiges Wirken“ (Humboldt) zur Bewältigung der dringlichen gesellschaftlichen Herausforderungen und Vielfach-Krisen von Klima über Demokratie bis hin zur Reproduktion zu bieten?

Es braucht nicht nur aus Gründen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine Neuorientierung von Wissenschaftsleitbildern und -strukturen. Ein ‚gutes‘ Arbeiten und Leben in- und außerhalb der Wissenschaft hat auch etwas mit der Art von Wissenschaft zu tun, die gemacht wird: Ein Wissenschaftssystem, das es seinen Beschäftigten strukturell erschwert bis verunmöglicht, sich selbst als soziale, körperliche, verletzbare und in gesellschaftlicher Verantwortung für andere stehende Wesen zu erfahren, wird nur schwerlich eine tatsächlich zukunftsfähige und nachhaltige Wissenschaft hervorbringen.

Wie sieht demgegenüber Wissenschaft aus, die das Leben außerhalb der Wissenschaft nicht als Verfügbarkeitseinschränkung oder verdächtige Befindlichkeit begreift, sondern als lebendige Selbst- und Weltbeziehung, die Grundlage auch für gute Wissenschaft sein kann? Als Quelle und Ressource für wissenschaftliche Erkenntnis, etwa um relevante und innovative Forschungsfragen stellen zu können? Als potentiell förderlich dafür, unterschiedliche Perspektiven und Positionierungen abzuwägen, Ambivalenzen auszuhalten und Forschungsergebnisse umsichtig einzuordnen? Wie ließen sich Formen der Anerkennung und Absicherung für einen Typus wissenschaftlicher Persönlichkeit finden und praktizieren, der sich nicht von der Wissenschaft verschlingen lässt?

Unerwartet sind es am Ende dann doch die Pilze, die in jüngerer Zeit als Folie des Nachdenkens über ein nachhaltiges, gerechtes und kooperatives Miteinander genutzt worden sind (vgl. Redecker 2020, Lowenhaupt Tsing 2018). Denn über das Wesen der Pilze irrte Hobbes. Pilze, das hat inzwischen die Naturwissenschaft gezeigt, sind nicht allein. Es sind unterirdisch miteinander und mit ihrer Umwelt verwobene Wurzelgeflechte. Wissenschaft kollaborativ zu gestalten und mit einem guten Leben innerhalb wie außerhalb der wissenschaftlichen Einrichtungen zu verbinden, kann z.B. in den Nischen einer sich verändernden Praxis Vieler entstehen. Was die Pilz-Metapher jedoch nicht hergibt, ist eine Antwort auf die Frage, wie eine dergestalte Veränderung des Wissenschaft-Machens auch die epistemologische Dimension nach der Ordnung des Wissens und des Erkenntnisgewinns berührt. Hierüber weiter nachzudenken birgt aus meiner Sicht aber noch ein großes, bisher wenig ausgelotetes Potential.  


Dr. phil. Tina Jung ist Inhaberin der Marianne-Schminder-Gastprofessur mit Teildenomination Geschlechterforschung am Institut für Gesellschaftswissenschaft der Fakultät für Humanwissenschaft der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Sie hat im Fach Politikwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg mit einer Arbeit über feministische Theorie und Kritische Theorie promoviert und anschließend an der Justus-Liebig-Universität zur „Politik der Geburt“ geforscht.


Literatur:

Benhabib, Seyla, 1985: The Generalized and the Concrete Other: The Kohlberg-Gilligan Controvers and Feminist Theory. In: PRAXIS International 4:402-424.

Czerney, Sahra/Eckert, Lena/Martin, Silke (Hg.), 2022: Mutterschaft und Wissenschaft in der Pandemie. (Un)Vereinbarkeit zwischen Kindern, Care und Krise. Opladen und Torona: Barbara Budrich.

Hobbes, Thomas, 2014: Grundzüge der Philosophie. Edition Holzinger, Berliner Ausgabe, 3. Auflage.

Horn, Anna, 2023: Birthing while black. Birthing while black | Red Pepper

Hövermann, Andreas/Kohlrausch, Bettina, 2022: Der Vertrauensverlust der Mütter in der Pandemie. Düsseldorf: WSI Report Nr. 75

Humboldt, Wilhelm von, 1809/10: Über die innere und äussere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin. http://edoc.hu-berlin.de/18452/5305

Krais, Beate, 2008: Wissenschaft als Lebensform: Die alltagspraktische Seite akademischer Karrieren. In: dies./Haffner, Yvonne (Hg.): Arbeit als Lebensform? Beruflicher Erfolg, private Lebensführung und Chancengleichheit in akademischen Berufsfeldern. Frankfurt am Main/New York: Campus, 177-212.

Krais, Beate, 2010: Das Projekt „Gleichstellung in der Wissenschaft“: Anmerkungen zu den Mühen der Ebenen. In: Bauschke-Urban, Carola/Kamphans, Marion/Sagebiel, Felizitas (Hg.): Subversion und Intervention. Wissenschaft und Geschlechter(un)ordnung. Opladen: Barbara Budrich, 23-46.

Lipinsky, A., Schredl, C., Baumann, H., Humbert, A., Tanwar, J., 2022: Gender-based violence and its consequences in European Academia, Summary results from the UniSAFE survey. Report, November 2022. UniSAFE project no.101006261.

Lowenhaupt Tsing, Anna, 2018: Der Pilz am Ende der Welt. Berlin: Matthes & Seitz.

Mittelstraß, Jürgen, 1982: Wissenschaft als Lebensform. Reden über philosophische Orientierungen in Wissenschaft und Universität. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Redecker, Eva von, 2020: Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen. Frankfurt/Main: Fischer.

Schulz, Philipp/Kreft, Anne-Kathrin/Touquet, Heleen/Marin, Sarah, 2022: Self-care for gender-based violence researchers – Beyond bubble baths and chocolate pralines. In: Qualitative Research, Vol. 0(0), pp 1–20

Weber, Max, 2006 [1919]: Wissenschaft als Beruf. Stuttgart: Philipp Reclam.

Print Friendly, PDF & Email