Weniger ist mehr (und vor allem fair)! Wie eine Obergrenze bei Bewerbungen mehr Vereinbarkeit herstellen könnte
Von Christine Bratu (Göttingen)
In dieser Reihe konnte man bereits einiges dazu nachlesen, wie es wirklich um die Vereinbarkeit von Sorgearbeit und wissenschaftlicher Arbeit in Deutschland bestellt ist. Als wichtiges Problem für Vereinbarkeit haben sich dabei die Anforderungen herauskristallisiert, die Wissenschaftler:innen erfüllen müssen, um aktuell zu reüssieren – wobei dies im akademischen Betrieb vor allem heißt: um einen unbefristeten Vertrag zu erhalten und also nicht mehr ständig um ihren Lebensunterhalt bangen zu müssen. Denn wer unter den Bedingungen von „publish or perish“ Lehre und Gremienarbeit meistern und zudem eben vor allem publizieren und Drittmittel einwerben muss, hat schlicht kaum mehr Zeit dafür, kranke Angehörige zu pflegen, selbst krank zu werden oder die Anforderungen einer Behinderung zu managen, Kinder zu kriegen oder sich um Kinder zu kümmern, wenn diese nicht schon selbstgenügsam wie die Pilze aus dem Boden sprießen, oder gar philosophische Inspiration draußen in der Welt zu suchen. Wenn wir Vereinbarkeit in einem substantiellen Sinne schaffen wollen, wird es also nicht ausreichen, Institutskolloquien statt in den Abendstunden zur Kernarbeitszeit abzuhalten, Eltern-Kind-Räume in der Uni einzurichten oder auf Konferenzen für ein paar Stunden Kinderbetreuung bereitzustellen; stattdessen müssen wir, wie Gottfried Schweiger anmahnt, die Anforderungen des Wissenschaftsbetriebs substantiell überdenken.
Schweiger zufolge sollten alle Personen, die bereits unbefristete Stellen haben, freiwillig weniger machen, um dadurch längerfristig die verbreitete Vorstellung zu verändern, wie viele Publikationen und Drittmittel einen akzeptablen Output darstellen. Schweiger hofft dabei, dass dieser neue Standard auch für Menschen mit Sorgeverantwortung erfüllbar sein wird. Im Hintergrund seines Vorschlags steht eine Annahme, die wir meiner Ansicht nach ruhig explizit machen sollten, weil sie nicht etwas Peinliches, sondern Unvermeidliches benennt: Wissenschaftler:innen mit Sorgeverantwortung können oft weniger Zeit und Energie in ihre akademische Arbeit investieren als ihre Kolleg:innen ohne. Denn auch wenn sie auf reguläre 40 Stunden Wochenarbeitszeit kommen (was im Falle von Eltern mit Kindern im KiTa- und also besten Dauerinfekt-Alter oder von Menschen, die sich um chronisch erkrankte Angehörige kümmern müssen, oft eine reichlich optimistische Annahme ist), arbeiten ihre Kolleg:innen ohne Sorgeverantwortung oft genug auch noch spätnachmittags und abends (also nach Kita- und Schulschluss) und am Wochenende. Zudem wirkt sich der zusätzliche mental load, den Sorgeverantwortung mit sich bringt, auf die Arbeits- und vor allem auf die Konzentrationsfähigkeit von Wissenschaftler:innen aus, die solche leisten. Vor diesem Hintergrund wäre es nur fair, das akademische Anforderungsprofil gerade an der Leistungsfähigkeit von Wissenschaftler:innen mit Sorgeverantwortung auszurichten.
Die Grundidee hinter Schweigers Vorschlag überzeugt mich, nicht aber seine konkrete Umsetzung. Denn statt einzelne Wissenschaftler:innen dafür verantwortlich zu machen, durch ihr individuelles Handeln neue institutionelle Praktiken zu etablieren, könnten wir auch einfach die institutionellen Praktiken selbst verändern. Konkret plädiere ich dafür, dass wir ein Vorgehen radikalisieren, das bereits von DFG und ERC praktiziert wird. Diese prestigeträchtigen Förderwerke erlauben es Bewerber:innen nicht, all ihre akademischen Leistungen – insbesondere all ihre Veröffentlichungen und eingeworbenen Drittmittel – in ihren Bewerbungsunterlagen aufzuführen, sondern erzwingen eine Auswahl (im Falle der DFG bspw. von 10 peer-review Veröffentlichungen), wobei die Bewerber:innen die Auswahl selbst treffen dürfen. Eine solche Obergrenze soll sicherstellen, dass die Vergabe von Fördermitteln aufgrund der Qualität und nicht der bloßen Quantität der vorgelegten akademischen Leistungen erfolgt; ein positiver Nebeneffekt dieses Vorgehens kann aber auch sein, dass es Beweber:innen, die wegen Sorgeverantwortung phasenweise nicht all ihre Lebenszeit und Energie in ihre akademische Arbeit investieren können, eine faire Wettbewerbschance verschafft. Dies wäre allerdings nur dann der Fall, wenn die Obergrenze so festgelegt würde, dass sie für Menschen mit Sorgeverantwortung realistischerweise zu erreichen ist.
Damit wäre schon ein Punkt benannt, den es meiner Ansicht nach zu radikalisieren gilt: Die aktuell geltenden Obergrenzen erscheinen mir – jedenfalls für Wissenschaftler:innen in den ersten Jahren nach der Promotion – deutlich zu hoch. Vor allem aber reicht es nicht, wenn einige wenige Förderwerke mit einer solchen Obergrenze arbeiten. Um flächendeckend Vereinbarkeit herzustellen, müsste eine Obergrenze bei der Vergabe jedes akademischen Stipendiums, jeder akademischen Auszeichnung und vor allem jeder akademischen Stelle (WiMi- oder Projektstelle genauso wie Professur) zum Tragen kommen. Hiervon sind wir aktuell weit entfernt. Zwar gibt es manche Verfahren, in denen Bewerber:innen ab einem bestimmten Punkt nur noch auf der Grundlage ausgewählter Leistungen miteinander verglichen werden (bei Professuren etwa, sobald Schriften angefordert werden); doch um an diesen Punkt zu gelangen, müssen die Kandidat:innen ihren Bewerbungen zuerst ihre vollständigen CVs anfügen, in dem sie alle ihre akademischen Leistungen minutiös aufzulisten haben.
Warum wäre es besser, die Leistungsanforderungen im akademischen Betrieb durch eine flächendeckende Obergrenze bei Bewerbungen als durch neue Vorbilder zu verändern? Zum einen könnten wir so ein Koordinationsproblem lösen, das Schweiger selbst in seinem Beitrag anspricht: Unter den aktuellen Bedingungen bringt es für Wissenschaftler:innen einen Reputationsverlust, wenn sie ihren Output reduzieren, und es stellt sich die Frage, wer in einem kompetitiven Umfeld wie dem akademischen dieses Risiko freiwillig auf sich nehmen wird. Die Einführung einer Obergrenze würde dieses Problem lösen, da es – zumindest im Rahmen von Bewerbungen – für niemanden mehr Anreiz gäbe, mehr zu publizieren bzw. mehr Drittmittel einzuwerben als die Obergrenze erfordert. Ein solches Vorgehen wäre darüber hinaus auch verlässlicher, als den bitter notwendigen Strukturwandel des akademischen Betriebs davon abhängig zu machen (LINK Bohle), dass diejenigen, die jetzt schon auf unbefristeten Stellen sitzen und sich Verhaltensänderungen also leisten könnten, diese auch wirklich vornehmen. Zum anderen ist mein Vorschlag besser als Schweigers mit dem Ideal der Wissenschaftsfreiheit vereinbar. Denn natürlich stünde es jeder einzelnen Wissenschaftler:in weiterhin frei, all ihre Zeit und Energie in ihre Arbeit zu investieren, selbst wenn der dadurch mögliche größere Output kein Wettbewerbsvorteil mehr im Vergleich zu Kolleg:innen wäre, die nicht vergleichbar viel Zeit investieren können oder wollen. Schließlich verstößt mein Vorschlag auch nicht gegen das Prinzip der Bestenauswahl, das (zumindest pro forma) in Akademia gilt. Denn eine Obergrenze würde zwar die Datenmenge beschränken, auf deren Grundlage Auswahlkommissionen Stipendien, Preise oder Stellen vergeben – aber die Vergabe könnte nach wie vor als Bestenauslese erfolgen. DFG und ERC scheinen jedenfalls nicht darüber besorgt zu sein, dass ihre Obergrenzen dazu führen, dass sie weniger exzellente Wissenschaftler:innen fördern.
Doch selbst wenn mein Vorschlag dem Prinzip der Bestenauswahl nicht widerspricht, zielt er doch auf eine Entschleunigung des Wissenschaftsbetriebs ab, die man kritisch hinterfragen kann. Die vorgeschlagene Obergrenze würde ja nur dadurch zu mehr Vereinbarkeit beitragen, dass sie die Menge des notwendigen Outputs begrenzt. Können wir es uns als Gesellschaft wirklich leisten, die Anreize des Wissenschaftsbetriebs so zu verändern, dass dieser weniger Output produziert? Brauchen wir in diesen wissenschaftsfeindlichen Zeiten nicht mehr Wissenschaft als weniger? Dieser mögliche Einwand verfehlt in meinen Augen gleich in zweifacher Hinsicht sein Ziel: Zum einen heiligen auch gute Ziele nicht alle Mittel, und auch viel mehr gute Wissenschaft würde es nicht rechtfertigen, wenn der Betrieb, in dem sie produziert wird, für Wissenschaftler:innen mit Sorgeverantwortung unfair gestaltet ist. Vor allem aber geht es bei Wissenschaft immer schon primär um Qualität. Und dass Entschleunigung zu schlechterer Wissenschaft führt – dass es bspw. zu schlechterer Philosophie führt, wenn wir unsere Ideen erst fertig denken und ein paar Mal ausprobieren und gegebenenfalls auch komplett umschreiben können, bevor wir versuchen sie zu veröffentlichen –, müsste erst einmal gezeigt werden.
Christine Bratu ist seit 2020 Professorin für Philosophie mit einem Schwerpunkt in der Genderforschung an der Georg-August-Universität Göttingen, gefördert durch das Maria-Goeppert-Mayer-Programm für internationale Genderforschung des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur.