Konkretes zur Frage, warum ein Netzwerk Wissenschaftsfreiheit gebraucht wird

Von Maria-Sibylla Lotter (Bochum)


Auf Praefaktisch.de sind zwei kritische Artikel zum Netzwerk Wissenschaftsfreiheit erschienen, die zeigen, dass Philosophen und Philosophinnen auch dann rein spekulativ arbeiten können, wenn sie es nicht mit Metaphysik, sondern Wissenschaftspolitik zu tun haben. Gibt es Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit? Bevor wir uns erneut in ideologische Scheingefechte begeben, möchte ich diese Frage ganz unspekulativ mit der Darstellung eines unserer aktuellen Fälle beantworten. Betroffen davon ist ausgerechnet der wohl unter deutschen Philosophen konsequenteste Verfechter der Wissenschaftsfreiheit Georg Meggle, der sich schon in den Achtzigern für eine freie Diskussion von Peter Singers Thesen eingesetzt und damals die Gesellschaft für Analytische Philosophie gegründet hatte, um die freie Diskussion auch heikler Themen zu ermöglichen.

An der Universität Salzburg wurde in diesem Sommersemester Meggles Seminar zum Thema Ethische Interventionen: Boykott-Strategien – Pro & Contra abgesagt. Thema des Seminars wäre die hochumstrittene internationale politische Kampagne „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“ (BDS) gewesen, die den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will, um eine Verbesserung der Lebenssituation der Palästinenser zu erreichen. Der Vorwurf, der von der Österreichischen Hochschüler:innenschaft in Salzburg – der gesetzlichen Vertretung aller Studierenden – und der Jüdischen Hochschüler:innenschaft Österreichs erhoben und dann auch sofort in den Medien verbreitet wurde, lautete schlicht: Antisemitismus. Wird dieses Wort einmal mit einer Person in Verbindung gebracht, dann rücken viele sofort von ihr ab. Das ging im Salzburger Rektorat offenbar ziemlich schnell, obgleich niemand im Fachbereich, in dem Meggle seit Jahren lehrt und in all seinen Ansichten bekannt ist, ihn für einen Antisemiten hält. Aber sogar im Netzwerk Wissenschaftsfreiheit fragten manche, warum er denn um Gottes Willen auch solche Seminare veranstalten muss. Muss das nicht als politische Propaganda für „Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“ (BDS) verstanden werden?

Georg Meggle gehört zu den praktischen Philosophen, die Philosophie nicht nur als akademische Gedankenspielerei betreiben. Er ist davon überzeugt, dass sie mit der Analyse von moralischen Begriffen, die er als eine Art Steuerungs-Software betrachtet, über die geeignete Methodik verfügt – und daher auch die Pflicht hat -, politische Konflikte verständlich zu machen und zu ihrer Lösung beizutragen. In Meggles Augen gehören die moralischen Vorstellungen, die Menschen davon haben, was gut und richtig ist, zu den allergefährlichsten Dingen überhaupt. Er drückt das so aus: Tödliche Explosionsstoffe tragende Marschflugkörper und andere Vernichtungsapparate kann man zurückrufen und stoppen; Menschen und Institutionen hingegen, die felsenfest davon überzeugt sind, dass das, was sie vorhaben, alternativlos das einzig moralisch Richtige ist, kaum. Hier kommt die Analytische Philosophie ins Spiel: Analytische Philosophen, die dazu ausgebildet sind, Begriffe zu untersuchen und präzisieren, die im politischen Treiben als geistige Steuerungssoftware dienen, sind aufgrund dieser Kompetenz in Meggles Augen die Experten par excellence, um moralische Irrtümer aufzuklären, die mit dem Verständnis oder der Anwendung der Begriffe verbunden sind. So sehen es allerdings nicht unbedingt diejenigen, die diese Steuerungssoftware propagandistisch einsetzen. Wenn Philosophen sich mit konkreten politischen Konflikten befassen, werden sie fast unvermeidbar auch als Parteien im Minenfeld der politischen Auseinandersetzungen wahrgenommen. Meggle glaubt, dieses Problem durch größtmögliche Präzision lösen zu können: Wie er es ausdrückt, braucht die Philosophie hier die Präzision eines Bombenentschärfers.

Gerät man einmal ins Minenfeld der politischen Auseinandersetzungen, dann kann der Bombenentschärfer allerdings leicht mit dem Bombenleger verwechselt werden. Besonders wenn er sich auch selbst kritisch zu tagespolitischen Fragen äußert. Auch präzise Definitionen und Argumente wecken hier mit einer gewissen Unvermeidlichkeit den Verdacht, Züge im politischen Machtspiel der Besetzung von Begriffen zu werden und nicht das rein vernünftige Ergebnis eines herrschaftsfreien Diskurses, der allein der Schärfung der Begriffe und Argumente dient. Niemand wird misstrauisch, wenn eine Philosophin eine neue Definition von moralischer Tugend vorlegt. Ganz anders ist es bei der Frage, was unter Antisemitismus zu verstehen ist. Der Begriff steht seit dem Holocaust für eine außerordentlich verwerfliche Einstellung, die unter keinen Umständen moralisch akzeptabel ist. Daher bietet er sich als politische Waffe an. Und wer sich mit seiner Definition befasst, gerät zwangläufig in den Verdacht, damit einen Angriff oder ein Verteidigungsmanöver vorzubereiten. Daran ändert es auch nichts, wenn er sich an die Kriterien der Wissenschaftlichkeit hält, d. h. den neuesten wissenschaftlichen Forschungsstand sowie die Argumente aller Seiten berücksichtigt und die Begriffe mit Blick auf ihre Tauglichkeit, die Argumente mit Blick auf ihre empirischen Grundlagen und logische Folgerichtigkeit prüft.

Niemand, der Georg Meggles Seminare kennt – und auch niemand an der Uni Salzburg -befürchtet ernsthaft, dass er in seinen Seminaren politische Propaganda statt begrifflicher Analyse betreiben würde. Schon gar nicht würde ihn jemand für einen Antisemiten halten – jedenfalls nicht wer wie Meggle und viele andere unter Antisemitismus eine abwertende Diskriminierung von Juden als Juden versteht. Die Frage, wie Antisemitismus vernünftigerweise zu verstehen ist, steht jedoch gerade im Zentrum des Konflikts.

Diejenigen, die ihn des Antisemitismus bezichtigen, verwenden den Begriff sehr viel umfassender als er. Sie verstehen darunter auch die kritische Thematisierung der israelischen Politik, mit Ausnahme von Kritik, die sich gleichermaßen auch gegen andere Länder richtet. Für sie steht Meggle allein schon deswegen unter Antisemitismusverdacht, weil er schon bei früheren Gelegenheiten die Vertreibung der Palästinenser im Kontext der Entstehung des israelischen Staates als ein Unrecht thematisiert hat. (Als weiterer Beleg wird angeführt, dass er 2011 einmal einen Boykottaufruf des BDS unterzeichnet hat – das Netz vergißt und verzeiht nichts.) Dieses sehr weite Verständnis von Antisemitismus stützt sich auf die Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance, (IHRA) die auch von der deutschen Bundesregierung empfohlen wird. Gegen sie wurde schon oft eingewendet, dass sie zu vage ist, um eine überzogene Kritik an Israel von einer Kritik zu unterscheiden, die sich auf israelische Besonderheiten bezieht und deswegen nicht auf andere Länder anwendbar ist. In der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus von 2016 haben daher 200 Gelehrte eine engere Definition von Antisemitismus vorgeschlagen, die sich allein auf feindliche Einstellungen gegenüber Juden als Juden bezieht. Viele fürchten, dass der Kampf gegen den weltweiten Antisemitismus eher untergraben wird, wenn die Antisemitismusdefinition dazu missbraucht werden kann, auch berechtigte Kritik gegenüber der Politik Israels als antisemitisch zu bezeichnen. Die Dehnung von Begriffen bringt es ja nicht nur mit sich, dass die negative Wertung und damit verbundene Emotionalisierung von dem Bereich der alten Definition auf den neuen übertragen wird, sondern kann auch umgekehrt dazu führen, dass ein Begriff wie Antisemitismus in manchen Kreisen wieder akzeptabel erscheint.

Präzision ist mit Blick auf reale politische Konflikte und Parteiungen allerdings kein hinreichendes Kriterium bei der Beurteilung der Tauglichkeit von Begriffen. Gerade mit Blick auf die Frage, wie berechtigte Israelkritik von unscharfen Phänomenen wie der seit je in der deutschen Linken gepflegten heftigen Israelkritik in Verbindung mit einer gewissen Idealisierung der palästinensischen Seite zu unterscheiden ist, stellt sich auch die Frage der Adäquatheit von Begriffen. Engere Definitionen des Antisemitismus wie die von Meggle und die der Jerusalemer Erklärung haben ganz klar den Vorteil, Antisemitismus deutlich von berechtigter Kritik an der israelischen Politik unterscheiden zu können. Sie erfassen jedoch im Unterschied zu der IHRA-Definition nicht die in die Zeiten des kalten Krieges zurückreichende Neigung von Teilen der deutschen Linken und auch vieler arabischer Einwanderer zur unverhältnismäßig heftigen Anklage israelischer Menschenrechtsverletzungen im Vergleich zu den Menschenrechtsverletzungen unter Palästinensern und in den arabischen Ländern. Beweist diese mangelnde Anwendbarkeit der engeren Definition, dass es sich hier nicht um Antisemitismus handeln kann? Wer diese Einstellung als judenfeindlich betrachtet – was sie zumindest im Ergebnis ja auch ist -, wird durch die Unanwendbarkeit der engen Definition nicht vom Gegenteil überzeugt werden, sondern die Definition für unzureichend halten. Und wer eine Diskussion von Boykottmassnahmen, auch wenn sie pro & contra geführt wird, schon als Parteiergreifung für die BDS-Bewegung versteht, wird ebenfalls die enge Definition hier nur für eine Waffe zur Abwehr des Antisemitismusverdachts halten.

Dass es vielleicht schwieriger ist als Georg Meggle es sich wünschen würde, auf rein begriffsanalytischem Wege ein politisch-moralisches Problem unparteilich zu klären, ist jedoch kein Grund, die dringend nötige Auseinandersetzung über die begrifflichen Instrumente zu verhindern, die in diesen Konflikten eingesetzt werden. Hier sollte nicht nur das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, hier sollten sich in meinen Augen alle Kollegen dafür einsetzen, dass solche Seminare stattfinden können. Der Fachbereich Philosophie an der Uni Salzburg hat die Entscheidung erst einmal vertagt. Das philosophische Seminar möchte im Wintersemester erst einmal unter Einbeziehung der Konfliktparteien und weiterer Experten eine Diskussion über die Grenzen der Wissenschaftsfreiheit führen. Es wäre fatal, wenn Philosophinnen aus Ängstlichkeit, sich in der Presse einem von interessierter politischer Seite lancierten Verdacht des Antisemitismus auszusetzen, auf die akademische Diskussion auch solcher politisch heikler Themen verzichten und damit einen Präzendenzfall schaffen würden. Denn dies hieße nicht nur der Wissenschaftsfreiheit, sondern auch der weltweiten jüdischen Gemeinschaft, in der die israelische Politik seit je auch sehr kritisch diskutiert wird, einen Bärendienst zu erweisen.


Maria-Sibylla Lotter ist Professorin und Inhaberin des Lehrstuhls für Ethik und Ästhetik am Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum.