Blogging in Zeiten von COVID-19. Reflexionen auf 2 Jahre praefaktisch

von Gottfried Schweiger (Salzburg)


Wer hätte das gedacht? Seit zwei Jahren gibt es nun schon den Philosophieblog praefaktisch und es läuft besser, als ich es vermutet oder erhofft hätte. Gerade befinden wir uns in einer beispiellosen Situation einer Pandemie, die neben Krankheit, Leid und Tod auch das öffentliche, soziale und ökonomische Leben fast vollständig zum Erliegen gebracht hat. Es sind interessante Zeiten – auch für philosophisches Blogging.

Zur Zeit sitzen die meisten von uns zu Hause und sind BeobachterInnen von Ereignissen, die unser Leben einschneidend verändern und deren Ausgang offen sind. Die Universitäten sind geschlossen und was PhilosophInnen bleibt, ist online Lehre zu machen, Aufsätze und Bücher zu schreiben. Sofern es keine Betreuungspflichten gibt, die alle beruflichen Tätigkeiten um einiges schwerer und mühsamer machen, wenn nicht ganz verunmöglichen, könnte man glauben, dass sich für PhilosophInnen durch die COVID-19-Pandemie also gar nicht sehr viel ändert. Ja, es gibt keine Tagungen mehr und das Jetten von einem Vortrag zum anderen ist nicht mehr möglich. Auch die Umstellung auf die online Lehre ist herausfordernd, aber ist in der Philosophie prinzipiell möglich, anders als bei laborgestützter Lehre. Mein Eindruck aus eigener Erfahrung und Gesprächen mit KollegInnen ist der, dass die Produktivität dennoch sinkt. Einerseits ist es zu Hause halt doch oft nicht so ruhig, andererseits ist die Gesamtsituation aufreibend, belastend, ja für manche ängstigend. Die COVID-19 Isolation daheim ist für die meisten kein schönes writing retreat.

Da wir uns aber alle Gedanken über die aktuelle Lage machen und was da wohl noch auf uns zukommen wird, liegt darin eine Chance für die Philosophie und insbesondere auch das philosophische Blogging. Es wurde von mir schon an anderer Stelle kurz angedeutet, welche philosophischen Fragen sich gerade stellen: Allokation knapper Ressourcen, die Abwägung unterschiedlicher Güter (Gesundheit vs. Ökonomischer Verluste), die Legitimation weitreichender staatlicher Maßnahmen und Überwachung. Auch die vielen schönen Beiträge auf diesem Blog zum Thema COVID-19 sind ein Zeichen dafür. Es braucht jetzt zumindest drei Debatten: Erstens eine öffentliche Debatte, in die sich alle Wissenschaften mit ihren unterschiedlichen Expertisen einbringen sollen. Zweitens fachinterne Debatten, also auch eine Debatte in der Philosophie zu den obigen Fragen. Drittens eine Debatte zur Rolle der Philosophie im interdisziplinären und öffentlichen Austausch und welche Rolle die Philosophie jetzt gerade für die Menschen spielen kann. Die COVID-19-Pandemie hat eine existentielle Dimension, was sich auch an allerlei praktischen Ratschlägen, wie man mit ihr umgehen kann, und Reflexionen auf die Veränderungen unseres Alltags niederschlägt. Sinnfragen stellen sich jetzt für viele. Das sollte auch ein Gebiet für die Philosophie sein.

Aber was hat das mit philosophischen Blogging zu tun? Die Philosophie tendiert dazu eine langsame Wissenschaft zu sein – das merkt man schon alleine daran, wie lange es in unserer Disziplin oft dauert, um Aufsätze zu schreiben, zu begutachten und zu publizieren. In der Medizin gibt es, schon Hunderte begutachtete Aufsätze zu COVID-19. In der Philosophie würde ich schätzen noch keinen. Ja, man soll Disziplinen nicht so einfach vergleichen, das geht nicht. Aber es deutet sich hier für mich doch ein Problem an. Und zwar ein Doppeltes. Auf der einen Seite sind die Fragen, die sich jetzt stellen, jetzt auch zu beantworten. Das gilt zum Beispiel radikal für ethische Empfehlungen, wer in Zeiten überfüllter Intensivbetten behandelt werden soll. Oder auf die Frage, ob die staatlichen Maßnahmen, die nun gesetzt werden, gerechtfertigt sind. Ist ja schön, wenn PhilosophInnen dazu Aufsätze schreiben, die in einem Jahr erscheinen, nur dann können sie maximal einen Einfluss auf kommende Pandemien haben. Vielleicht sind ja auch schon alle Fragen beantwortet und es stellen sich gar keine wirklich neuen. Das mag sein. Dann ist es hauptsächlich ein Vermittlungsproblem, welches uns auch angehen sollte. Ich glaube das aber nicht – es stellen sich schon auf wirklich neue Fragen, die neue Antworten brauchen. Auf der anderen Seite steht die oben angesprochene existenzielle Situation. Viele Menschen suchen jetzt Antworten auf ihre Sinn- und Lebensfragen. Auch hier glaube ich nicht, dass die Philosophie schon alle Antworten hat, die auf die heutige Situation passen. Vielleicht sind sich professionelle PhilosophInnen auch zu schade dafür, da es sie in die Nähe von Ratgeberliteratur rückt. Aber es geht auch um allgemein verständliche Kommunikation schwieriger philosophischer Fragen. Auch die Öffentlichkeit hat ein Interesse daran, zu verstehen, nach welchen ethischen Kriterien entschieden werden sollte, ob sie zu Hause bleiben müssen, selbst wenn das ihren Jobverlust bedeutet.

Für beide Aufgaben kann Blogging wichtig sein und eine Lücke schließen, um rasche philosophische Interventionen und Debatten zu ermöglichen. Die Zeitschriftenaufsätze und Bücher kommen dann später – zum Beispiel hier im Kennedy Institute of Ethics
Journal
oder in der Zeitschrift für Praktische Philosophie (ZfPP), die beide Call for Papers für Schwerpunkte zur COVID-19-Pandemie veröffentlicht haben. Blogposts können keine begutachteten Artikel ersetzen, das nicht, obwohl eine (rasche) Qualitätskontrolle auch bei Blogposts möglich ist. Blogs können aber jedenfalls für die interne Debatte genutzt werden, um schnell unterschiedliche Perspektiven, Argumente und Gegenargumente vorzubringen. Hier ist auch, prinzipiell zumindest, ein interdisziplinärer Austausch möglich. Blogs bieten ja alle Möglichkeiten des Verlinkens, Kommentierens und auch des Adaptierens von Texten mitsamt einer sinnvollen Möglichkeiten, diese Änderungen sichtbar und nachvollziehbar zu machen. Blogs können echte Diskussionsforen sein, die ohne Zugangsbeschränkungen für alle rezipierbar sind. Damit sind wir auch schon bei der zweiten oben angesprochenen Aufgabe, sich gerade auch in Zeiten solcher sozialer Krisen wie der COVID-19-Pandemie an die Öffentlichkeit zu wenden. Blogs sind hier sicherlich nicht der einzige Weg – es gibt Zeitungen, Magazine, Radio und TV. Aber sie sind auch ein Kommunikationskanal, der vermehrt genutzt werden sollten. Es wäre durchaus möglich Philosophie so aufzubereiten, dass sie für (fast) alle interessant ist, gerade wenn es um Themen geht, gerade (fast) alle direkt und unmittelbar betreffen. Blogs sind thematisch offen und durch die Einbindung anderer Medien (Videos, Bilder etc.) könnten sie auch zugänglicher gestaltet werden als bloße Texthaufen (was leider auch bei uns fast nicht geschieht). Blogs müssen ja auch nicht für sich alleine stehen; Texte können geteilt werden, verschickt, verlinkt, sie können auf verschiedenen Plattformen publiziert und verbreitet werden.

Es gibt natürlich auch kritische Stimmen. Blogposts sind von minderer Qualität sagen die einen. Was jetzt über COVID-19 geschrieben wird, kann nur vorläufig und nicht durchdacht sein, da wir noch zu wenig wissen. PhilosophInnen sollten vielleicht lieber nicht aus der Hüfte schießen. Das sind prinzipielle Kritiken, die teils sicher stimmen. Aber was ist die Alternative? Nichts zu sagen? Alles in die Hände anderer ExpertInnen zu legen; den Menschen in dieser Situation mit seinen ethischen und existenziellen Fragen alleine lassen oder diese Lücke durch andere füllen lassen – PsychologInnen, TheologInnen, Coaches, PolitikerInnen etwa? Das scheint mir der falsche Weg zu sein. Es muss jetzt gehandelt werden, es braucht jetzt Antworten und jetzt müssen wir alle, damit umgehen. Vielleicht ist der Einfluss und die Reichweite von PhilosophInnen begrenzt – das mag sein, aber das ist ein generelles und strukturelles Problem unserer Disziplin.

Ein anderer Einwand könnte lauten, dass jetzt viele keine Zeit haben, sich dem zu widmen, und die, die es können, haben wenig gute Gründe es zu tun, weil Blogposts nichts „wert“ sind in der akademischen Welt. Auch das stimmt beides vermutlich. Dafür bräuchte es, wie ich oben schon gesagt habe, einen Kulturwandel, eine neue Anerkennungsstruktur, dass es eben doch etwas wert ist, gerade jetzt und rasch sich zu äußern, Zeit in diese Texte zu investieren und in der Öffentlichkeit präsent zu sein. Das wird sicherlich auch mit Ungerechtigkeiten verbunden sein – es ist unfair, dass die brillante junge Kollegin jetzt weder einen Blogpost schreiben kann, weil sie sich um ihre Kinder kümmern muss, noch dass sie ins Fernsehen oder für eine Kolumne einer größeren Zeitung eingeladen wird, weil sie eben unbekannt ist und dort dann nur die etablierten Professoren (es sind noch immer überwiegend Männer!) Platz für ihre Gedanken finden.

Ein paar profane Einsichten zum Blog praefaktisch möchte ich auch anbringen. Erstens können wir wohl ohne Hochmut sagen, dass sich praefaktisch gut in der philosophischen Community etabliert hat und im letzten Jahr seine Reichweite und Reputation ausgebaut hat. Das freut uns sehr. Zweitens ist es weiterhin so, dass das Betreiben dieses Blogs ziemlich viel Aufwand ist. Vor allem schicken wir noch immer ziemlich viele E-Mails an AutorInnen und laufen oft Beiträgen hinterher. Mittlerweile sind wir hier so routiniert, dass wir mit einem beträchtlichen Teil an späten Absagen, Verspätungen in der Abgabe und einigen KollegInnen, die sich trotz einer Zusage einfach nie wieder melden, rechnen und in unsere Planungen einbeziehen. Das führt manchmal auch zu Frustrationen aufseiten der AutorInnen, wenn es mal gerade besser läuft mit der Rücklaufquote und wir daher manche Beiträge erst Wochen, nachdem wir sie bekommen haben, veröffentlichen können. Eine exaktere Planung ist uns aber leider nicht möglich! Drittens bekommen wir nun zwar mehr Vorschläge für Beiträge, aber das Gros müssen wir noch immer selbst einwerben – daher auch der große Arbeitsaufwand. Es würde uns nicht nur unsere Arbeit erleichtern, sondern prinzipiell freuen, wenn wir mehr Textangebote bekommen würden. Dafür wäre vielleicht auch ein Mentalitätswandel in der philosophischen Community nötig, der das Schreiben von kurzen Texten für verschiedene Medien inklusive Blogs zu einer selbstverständlichen Tätigkeit macht wie es auch das Verfassen von Zeitschriftenaufsätzen oder das Halten von Vorträgen auf Tagungen sind.


Eine kurze englische Version dieses Beitrags ist auf dem Blog Philosophers‘ Cocoon erschienen.


Gottfried Schweiger arbeit am Zentrum für Ethik und Armutsforschung an der Universität Salzburg. Dort forscht er hauptsächlich im Bereich der politischen Philosophie und Sozialphilosophie. 

Gottfried ist Ko-Gründungsherausgeber der Zeitschrift für Praktische Philosophie, der Buchreihe Philosophy and Poverty bei Springer, der Buchreihe Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven bei J.B. Metzler und Associate Editor von Palgrave Communications. Seit 2013 organisiert er gemeinsam mit Michael Zichy, und Martina Schmidhuber an der Universität Salzburg die Tagung für Praktische Philosophie. Mit Johannes Drerup koordiniert er das Netzwerk Philosophie der Kindheit und hat das Handbuch Philosophie der Kindheit bei J.B. Metzler herausgegeben.