Demokratisierung und Dekommodifizierung der Arbeit. Überlegungen zum Manifest #DemocratizingWork

von Gottfried Schweiger (Salzburg)


Vor einigen Tagen wurde das Manifest „ARBEIT: DEMOKRATISIEREN, DEKOMMODIFIZIEREN, NACHHALTIG GESTALTEN“ in Zeitungen und Zeitschriften in über dreißig Ländern veröffentlicht, das mittlerweile von über 3000 ForscherInnen, darunter auch viele PhilosophInnen, aus der ganzen Welt unterzeichnet wurde. Der Aufruf bezieht sich auf die COVID-19 Pandemie als Chance und Anlass für eine nachhaltige Veränderung des Erwerbsarbeitslebens. Wie aus dem Titel des Manifests hervorgeht, stehen drei Anliegen im Vordergrund: Arbeit soll demokratisiert werden, also Angestellte sollen in ihren Betrieben umfangreiche Mitspracherechte über Unternehmensentscheidungen erhalten. Arbeit soll dekommodifiziert werden, also jeder Mensch soll Anspruch auf einen würdigen Arbeitsplatz haben, der vom Staat garantiert wird. Arbeit soll nachhaltig gestaltet werden, also so verändert werden, um nicht mehr primär Profitinteressen zu dienen, sondern der Klimakrise entgegenzutreten. Das Manifest bietet vielerlei wichtige Anknüpfungspunkte für eine weiterführende (philosophische) Diskussion, welche sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen mittel- und langfristig erstrebenswert sind und wie der Weg dorthin gestaltet werden kann.

Auf der Metaebene können verschiedene Stoßrichtungen des weiterführenden Diskurs unterschieden werden. Erstens sind die vorgeschlagenen Maßnahmen und die dahinter stehenden sozialen, wirtschaftlichen und normativen Problemdiagnosen zu diskutieren. Wem soll durch die Demokratisierung vor allem geholfen werden, welche Ungerechtigkeiten würden dadurch beseitigt? Welche negativen Folgen hat die Vermarktlichung von Berufen im Gesundheitssektor? Aus meiner Perspektive gelingt das dem Manifest am überzeugendsten in der Frage der Dekommodifizierung, vor allem vor dem Hintergrund der COVID-19 Pandemie. Diese hat zu immensen sozialen Verwerfungen geführt, zu Massenarbeitslosigkeit und Armut, die sich über Jahre verfestigen werden, wenn es keine nachhaltigen und radikalen politischen Gegenmaßnahmen gibt (was leider in vielen Ländern nicht zu erwarten ist). Die Abhängigkeit des eigenen Wohlstands von Erwerbsarbeit betrifft viele Menschen wohl deutlich unmittelbarer und existenzieller als Mitspracherechte und die Klimakrise, die erst in Jahren deutliche Auswirkungen zeigen wird. Die Dekommodifizierung ist also eine nötige Antwort auf das unmittelbare Geschehen der letzten Wochen. Ob diese Dekommodifizierung mittels einer Arbeitsplatzgarantie, wie im Manifest vorgeschlagen, oder mittels anderer sozialstaatlicher Interventionen wie einem Grundeinkommen besser und effizienter geleistet werden kann, ist dadurch noch nicht entschieden. Im Hintergrund des Manifests steht jedenfalls die Überzeugung, dass Arbeit nicht eine Tätigkeit unter anderen ist, sondern einen zentralen Stellenwert für das private und öffentliche Leben und Glück hat. Das kann man teilen, muss man aber nicht und eine Post-Arbeitsgesellschaft, in der Erwerbsarbeit prinzipiell abgewertet ist, ist eine denkbare Alternative.

Aus Sicht der Menschen, die von Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind, ist eine Arbeitsplatzgarantie vielleicht weniger attraktiv als man denken könnte. Schließlich ist davon auszugehen, dass solche Versorgungsjobs nicht dasselbe Prestige und denselben Status haben werden wie Jobs in der „freien“ Wirtschaft. Die „Würde“ eines Arbeitsplatzes kann schließlich nicht von oben verordnet werden, sondern ist in soziale Prozesse und Hierarchien der Bewertung von unterschiedlichen Tätigkeiten eingelassen. Man kann und sollte prekäre Arbeitsformen, also zu lange Arbeitszeiten, schlechte Schutzausrüstung, geringe Bezahlung oder befristete Arbeitsverträge aushebeln – manche dieser Jobs werden trotzdem als „würdelos“ wahrgenommen werden. Dazu kommt, dass Exklusionsmechanismen sehr viel früher ansetzen als beim Verlust des Arbeitsplatzes und ihre Ursachen in ungleichen Lebens- und Bildungschancen haben, also in prekären Familienverhältnissen.

Zweitens ist schließlich der Weg von vorgeschlagenen Maßnahmen zu ihrer politischen Umsetzung zu klären. Ich vermute, dass dies eine Hauptrichtung der Kritik am Manifest sein wird. Ja, schön und gut, aber wie soll das gelingen? Viele werden das Manifest als Utopie oder linke Spinnerei abtun. Aber auch alle, die das Anliegen ernsthaft teilen und unterstützen, müssen sich nun überlegen, was nun eigentlich geschehen soll (und wer was zu tun hat). Dafür sind auch die nationalen Kontexte zu berücksichtigen. Einige Aspekte wirken in kontinentaleuropäischen Ländern, in Deutschland oder Österreich, weitaus weniger radikal als in den USA, Brasilien oder China. Es ist ja nichts Neues, sich in der politischen Philosophie mit Abwägungen zwischen Utopie und Realismus unter herrschenden Bedingungen zu beschäftigen. Ob man sich am Ende mit Kompromissen und langen Übergangsfristen abfinden will oder ob nur ein radikaler Schnitt (den ich persönlich unter den gegebenen politischen und sozialen Verhältnissen für unwahrscheinlich halte) zum Ziel führen kann, wird kontrovers diskutiert werden müssen.

Obwohl das Manifest eminent politische Themen anspricht, die schon seit langem Gegenstand  sozialer Kämpfe sind, bleibt der angesprochene politische Akteur ungenannt. Das wird wohl vor allem aus Sicht traditioneller sozialistischer oder sozialdemokratischer Gewerkschaften und Parteien kritisch zu sehen sein: Wer soll denn die Demokratisierung und Dekommodifizierung und Nachhaltigkeit von Arbeit einfordern und gegen den Willen aller, die vom Status quo profitieren, durchsetzen? Es ist ja nicht zu erwarten, dass die Unternehmen, ihre Besitzer und Manager von sich aus Rechte und Macht abgegeben werden. Und es ist auch nicht zu erwarten, dass sich konservative und neoliberale PolitikerInnen für eine Arbeitsplatzgarantie (oder andere Formen der Dekommodifizierung) stark machen werden. Das Manifest steht also nur am Anfang der intellektuellen, öffentlichen und praktischen Auseinandersetzung, wie aus der COVID-19 Krise eine bessere Zukunft wachsen kann. Bindungskraft und Mobilisierungsstärke der klassischen ArbeiterInnenorganisationen liegen ja nicht erst seit gestern am Boden, sondern wurden sukzessive – und unter eigener Mithilfe – ausgehöhlt und zerstört. Diese wieder aufzubauen, wird eine notwendige Voraussetzung sein, um die Forderungen des Manifests umzusetzen, sofern man nicht – was man nicht tun sollte – auf einen gütigen Staat hoffen will. Dafür muss es gelingen, breite Schichten der arbeitenden Bevölkerung und auch derjenigen, die keine Erwerbsarbeit haben, zu überzeugen, dass die Forderungen des Manifests, die Demokratisierung, Dekommodifizierung und Nachhaltigkeit von Erwerbsarbeit, in ihrem Interesse wären und dass es lohnen würde, dafür zu kämpfen und Risiken auf sich zu nehmen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen, die sich jetzt in ihren Betrieben oder politisch radikal für die Forderungen des Manifests einsetzen, scheitern und dafür – etwa mit Entlassung – bestraft werden, ist schließlich wesentlich höher als die eines Erfolgs. (Ich will hier nicht ausführlich darauf eingehen, dass das Manifest offensichtlich darunter leiden könnte, dass es aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft kommt und es daher besonders schwer haben wird, in den Betrieben und der Gesellschaft abseits des Bildungsbürgertums Gehör zu finden.)

Drittens wäre es relativ leicht, Auslassungen zu benennen, die in diesem Manifest nicht vorkommen, wohl aber vielen der VerfasserInnen und UnterzeichnerInnen bewusst sind. Auffällig wäre hier zum Beispiel die Nichterwähnung von Fürsorgearbeit in privaten Haushalten und wie diese im Zusammenhang von Demokratisierung und Dekommodifizierung gedacht werden sollte. Neben den „systemrelevanten“ ArbeiterInnen, die während der Krise in den Mittelpunkt des Interesses kamen wie VerkäuferInnen, ÄrztInnen, StraßenkehrerInnen etc. sind es ja vor allem Frauen, die zu Hause Kinder und Angehörige betreuen, die die größte Last der Arbeit während der COVID-19 Pandemie zu schultern hatten. Wie die in die Verschränkung von Erwerbsarbeit und privater Fürsorgearbeit eingelassenen Ungerechtigkeiten durch die vorgeschlagenen Maßnahmen ausgehebelt werden könnten, bleibt ungewiss. Eine solche Diskussion über blinde Flecken des Manifests ist sicherlich nötig, da sie darauf abzielt, zu fragen, was gerade wirklich wichtig ist und welche Ungerechtigkeiten und Maßnahmen Priorität haben sollten. Der Platz in den Medien und die Aufmerksamkeitskapazität der Öffentlichkeit sind ja begrenzt.

Abschließend sei noch gesagt, dass ich hoffe, dass das Manifest eine breite akademische und öffentliche Diskussion erfährt. Aus philosophischer Sicht wollen wir sie hier auf praefaktisch ermöglichen und laden daher interessierte KollegInnen ein, uns ihre weiterführenden Gedanken, ihre Kritik oder ihre Analysen zu den Themen von Demokratisierung, Dekommodifizierung und Nachhaltigkeit von Erwerbsarbeit angesichts der Klimakrise zu schicken.


Gottfried Schweiger arbeit am Zentrum für Ethik und Armutsforschung an der Universität Salzburg. Dort forscht er hauptsächlich im Bereich der politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Er hat einige Texte zur COVID-19 Pandemie für Blogs und Zeitungen verfasst. Gottfried ist Ko-Gründungsherausgeber der Zeitschrift für Praktische Philosophie, der Buchreihe Philosophy and Poverty bei Springer, der Buchreihe Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven bei J.B. Metzler. Seit 2013 organisiert er gemeinsam mit Michael Zichy, und Martina Schmidhuber an der Universität Salzburg die Tagung für Praktische Philosophie. Mit Johannes Drerup koordiniert er das Netzwerk Philosophie der Kindheit und hat das Handbuch Philosophie der Kindheit bei J.B. Metzler herausgegeben.