Der Ethikrat über Suizidwünsche und Suizidbeihilfe – Fiktion und Wirklichkeit

Von Olivia Mitscherlich-Schönherr   


Im Herbst 2020 fanden zwei Sitzungen des Deutschen Ethikrats zu Sterbewunsch und Suizidbeihilfe statt. Bundesgesundheitsminister Spahn hatte den Ethikrat um eine Stellungnahme gebeten. Zwischen den beiden Sitzungen des realen Ethikrats hat die ARD Ende November Ferdinands von Schirach Spielfilm „Gott“ über eine fiktive Ethikrat-Anhörung zum selben Thema ausgestrahlt. In dieser zeitlichen Koinzidenz wird deutlich, dass beide voneinander lernen können – und zwar im Interesse sowohl der Kunst als auch der Arbeit als wissenschaftlich-ethisches Beratungsgremium: von Schirach könnte bessere Kunst machen, der Deutsche Ethikrat könnte sich demokratisieren.

Von Schirachs Film ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Er stellt eine Anhörung im Ethikrat vor, in der Suizidwünsche und Suizidbeihilfe mit Bezug auf einen exemplarischen Fall behandelt werden. Von Schirach veranschaulicht nicht nur Idealtypen suizidwilliger Menschen und deren behandelnder Ärzt_innen: in Gestalt des 78-jährigen Richard Gärtner, der bei physischer und psychischer Gesundheit angesichts einer negativen Bilanz der ihm bevorstehenden Zukunft Suizid begehen will; sowie seiner Ärztin Dr. Brandt, die an ihm Suizidbeihilfe leisten möchte, nachdem sie sich davon überzeugt hat, dass sein Suizidbegehren selbstbestimmt und über einen längeren Zeitraum konstant ist. Von Schirach lässt in Gestalt seiner weiteren Protagonist_innen auch Vertret_innen der wichtigen gesellschaftlichen Gruppierungen – den Präsidenten der Ärztekammer, einen Bischof, eine ‚Ethikerin von Profession‘ – auftreten, die mit dem Thema befasst sind. Und er lässt sie viele der zentralen Anliegen darlgen, die die inner- und außerakademischen Debatten über Suizidwünsche und Suizidbeihilfe der letzten Jahre bestimmt haben: die persönliche Selbstbestimmung im Sterben; die Konsequenzen, die ein Suizid für Andere hat; die juristischen und sozio-kulturellen Abhängigkeiten, die Selbstbestimmung im Sterben beschränken können: von Verboten der professionellen Suizidbeihilfe bis zu einem gesellschaftlichen Klima, das alte und erkrankte Menschen in den Suizid treibt; sowie schließlich auf ärztlicher Seite das ärztliche Berufsethos, das Bestreben, ‚harte Suizide‘ zu verhindern, und eine ganzheitliche palliativmedizinische Begleitung im Sterben als Alternative zu ärztlicher Suizidbeihilfe.

Die Agenda, die der reale Ethikrat seinen Sitzungen gibt, ist nicht weniger bemerkenswert. Bundesgesundheitsminister Spahn hat sich mit seiner Bitte um eine Stellungnahme an den Deutschen Ethikrat gewandt, nachdem das Bundesverfassungsgericht das seit 2015 geltende Gesetz über Suizidbeihilfe Anfang des Jahres für verfassungswidrig erklärt hatte. In seiner Arbeit nimmt der Ethikrat nun auf der einen Seite die juristischen Einwände des Bundesverfassungsgerichts gegen das bisherige Gesetz ernst: dass das Verbot einer geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung mit dem Recht der Einzelnen kollidiere, ihrem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen und dafür auch die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen. Auf der anderen Seite nimmt er aber auch die Bedenken der Kritiker_innen des Verfassungsgerichtsurteils ernst: dass das oberste Gericht den Schutz des Lebens vernachlässigt habe (vgl. ebd.). Unter Berücksichtigung der kritischen Bedenken beider Seiten stellt der Ethikrat seine Sitzungen unter die übergeordnete Frage, unter welchen Bedingungen Suizid als freiverantwortlich anzusehen ist, und wie dies operationalisiert werden kann. In seiner ersten Sitzung hat der Ethikrat die unterschiedlichen Auffassungen von Autonomie und Selbstbestimmung miteinander ins Gespräch gebracht, die neben der Rechtswissenschaft in Medizin, Psychologie und philosophischer Ethik präsent sind (vgl. ebd.). In seiner zweiten Sitzung setzt er sich mit der inneren Motivation und den Dynamiken von persönlichen Sterbenswünschen, der Rolle von ethischen und religiösen Deutungsmustern sowie möglichen Zusammenhängen zwischen Suizidwünschen und dem Vorhandensein von legalen Angeboten zur Suizidbeihilfe auseinander. Dafür fasst er das gesamte phänomenale Spektrum des Suizidbegehren in den Blick: neben dem Bilanzsuizid den Suizid bei Kindern und Jugendlichen, im Zusammenhang psychischer Erkrankung und im Kontext palliativer Versorgung.

Im Abgleich mit dem Programm des realen Ethikrats stellt sich von Schirachs Film als engagierte Kunst im schlechten Sinne dar. Mit politischen Intentionen zeichnet der Autor ein verzerrtes Bild der Diskussionen, die im realen Ethikrat über Suizidwünsche und Suizidbeihilfe geführt werden. Während der reale Ethikrat eine plurale Debatte führen will, erzählt von Schirach eine Anhörung, die auf die einfache Endabstimmung pro und contra Suizidbeihilfe zusteuert. Diese Anhörung gestaltet er zu einem Beweisgang für die Rationalität und moralische Pflicht einer Legalisierung der Suizidbeihilfe. Zu diesem Zweck verkürzt er das breit gefächerte Spektrum des Suizidbegehrens auf einen einzigen konstruierten Fall. Er verteilt die Sympathien zwischen seinen Protagonisten ungleich und verkürzt zentrale Argumente der Gegner der Suizidbeihilfe. Aus einem Streit im realen Ethikrat über unterschiedliche Deutungen von Selbstbestimmung im Sterben und deren sozio-kulturellen Ermöglichungsbedingungen wird ein Streit, in dem sich – individuelle, medizinische und juristische – Freiheitskämpfer_innen gegen die Zwänge eines fremdbestimmten Sterbens auflehnen, die von den ‚alten Eliten‘ ausgehen: von der Ärzt_innenschaft, den Kirchen und der ‚professionellen Ethik‘. Mit dieser parteilichen Darstellung macht von Schirach seinen Film zu einem Instrument, um für die Legalisierung von Suizidbeihilfe zu werben. Er verkürzt die Probleme und Ungewissheiten von Selbstbestimmung im Sterben, um mit seiner Erzählung Eindeutigkeiten in Sachen der Suizidwünsche und der Suizidbeihilfe zu stiften – während es dem realen Ethikrat mit seiner Arbeit vielmehr gerade um „Zweideutigkeitssensibilisierung“ geht, wie dessen langjähriger Vorsitzender Peter Dabrock betont hat. Wenn von Schirach am Ende des Films seine fiktive Ethikratsvorsitzende die Zuschauer_innen zur Abstimmung über die Fragen aufrufen lässt: „Muss der Staat selbstbestimmtes Sterben ermöglichen? Soll Herr Gärtner das tödliche Medikament bekommen?“ – dann hat er die große Zustimmung beim Publikum mit seiner Geschichte vorprogrammiert.

Ein genauerer Blick auf die pluralen Debatten, die im realen Ethikrat über selbstbestimmtes Sterben geführt werden, hätte von Schirachs Stück auch in ästhetischer Hinsicht gutgetan. Mit seinem politisch engagierten Film verspielt er nämlich die besonderen Potenziale, über die eine genuin ästhetische Auseinandersetzung mit diesen ethisch-existenziellen Fragen verfügt: uns in weit höherem Maße, als die diskursiv-theoretischen Darstellungsformen der Philosophie und der Wissenschaften dies vermögen, mit den existenziellen Ungewissheiten und Grenzen unseres Wissens zu konfrontieren (vgl. Esser 2019, 48). Hätte er seinen Film weniger populistisch angelegt, dann hätte von Schirach uns mit seiner Darstellung ethisch-existenzieller Streitgespräche im Ethikrat die Erfahrungen machen lassen können, dass es bei all dem um uns geht: dass nicht nur die Anderen, sondern auch wir selbst sterben werden (vgl. ebd.35ff.); dass nicht nur in den Fremden, sondern auch in uns selbst in bestimmten Lebenssituationen der Wunsch nach Suizid aufkommen kann; dass es auch unsere Nächsten sein können, die um Unterstützung beim Suizid bitten – und dass allzu einfache Leitprinzipien uns in der Auseinandersetzung mit diesen Grenzsituationen nicht weiterhelfen werden.

Komplementär dazu hätte von Schirachs fiktiver Ethikrat allerdings auch dem realen Ethikrat etwas zu sagen. Mit seiner mutigen Hinwendung an die Zuschauer_innen kann von Schirach dem realen Ethikrat vor Augen führen, wer dessen eigentliche Auftraggeber_innen in einer Demokratie sind: nämlich nicht das Bundesgesundheitsministerium, sondern wir alle. Dabei ginge es freilich nicht um ein Plebiszit über Hop oder Top der Suizidbeihilfe. Vielmehr wäre an die Funktion zu denken, die wissenschaftliche Beiräte in den Bürger_innenräten und -versammlungen ausüben, die gegenwärtig in verschiedenen europäischen und außereuropäischen Staaten entstehen. In Ergänzung zum Repräsentativsystem werden in den Bürger_innenräten ethisch und politisch hoch kontroverse Themen – in Irland etwa: das Abtreibungsrecht – diskutiert und Gesetzesvorlagen erarbeitet. Die Funktion eines wissenschaftlichen Beirats – wie des Ethikrats – besteht dabei darin, die Teilnehmer_innen auf einen gemeinsamen Wissensstand zu bringen und die Debatten zu moderieren. Sollten die Bundesregierung und der reale Ethikrat diese Belehrung in Sachen Demokratie verstehen, dann hätte uns von Schirach mit seinem Stück einen großen Dienst erwiesen. Er hätte eine wissenschaftlich informierte demokratische Debatte über Suizidwünsche und Suizidbeihilfe ins Rollen gebracht: eine plurale Debatte, in der wir in all unserem Nicht-Wissen und unseren existenziellen Ungewissheiten, mit denen Fragen des Sterbens konfrontieren, voneinander lernen und miteinander Formen der Mündigkeit im Sterben ausbilden können.


Olivia Mitscherlich-Schönherr lehrt Philosophische Anthropologie mit Schwerpunkt auf Grenzfragen des Lebens an der Hochschule für Philosophie in München


Referenzen

Esser, Andrea (2019): „Übrigens sterben immer die Anderen…“ – Kann man die eigene Sterblichkeit verstehen? In: Olivia Mitscherlich-Schönherr (Hg.), Gelingendes Sterben. Zeitgenössische Theorien im interdisziplinären Dialog, Berlin, 33-52.