Glanz und Elend eines philosophischen Autodidakten: Zur Fertigstellung der Gesammelten Werke Karl Poppers

Von Pirmin Stekeler-Weithofer (Leipzig)


0. Ein moderner Philosoph für alle?

Im Jahr 2022 erschien der letzte Band Objektive Erkenntnis (= GW 11) der Gesammelten Werke in deutscher Sprache von Sir Karl Raymund Popper (1902-1994) im Verlag Mohr Siebeck.[1] Die ersten beiden des insgesamt auf 15 Bände angelegten Editionsprojekts sind 2001 erschienen, nämlich Das offene Universum (= GW 8) und Die Quantentheorie und das Schisma der Physik (= GW 9). Die Edition präsentiert den Kern von Poppers Lebenswerk, das später unter den von Hans Albert geprägten Titel eines Kritischen Rationalismus gestellt wird.

Der Glanz dieser Denkschule leuchtet noch bei Nassim Nicholas Taleb in seinem Bestseller The Black Swan aus dem Jahr 2007. Er erklärt Popper „to be about ‚all we‘ve got‘ among modern thinkers – well almost. He writes to us, not to other philosophers“. Das durch das „fast“ eingeschränkte Lob führt uns in bedenkenswürdiger Weise zu unserem Titel. Denn wer seine Überlegungen gleich der allgemeinen Öffentlichkeit präsentiert und von dieser akklamiert werden will, interessiert sich in der Regel zu wenig für das Urteil der immer nur wenigen Kenner der Sache. Das beginnt zumeist damit, dass man als begabter Autodidakt schon in der Ausbildung den Kanon üblicher Lehre verachtet. Schopenhauer und Nietzsche sind illustre Beispiele für Karrieren dieser Art der Popularphilosophie im 19. Jahrhundert, Rabindranath Tagore und Popper im 20. Jahrhundert.

So berichtet Popper in Ausgangspunkte, einem sehr lesbaren Text zu seiner intellektuellen Entwicklung, dass er sich schon als Kind mit dem Problem der „potentiellen und aktuellen Unendlichkeit“ (GW 15, S. 14) und dem des „Essentialismus“ (S. 16ff) „abgeplagt“ habe und spricht vom „Experiment, allein zu lernen“ (S. 51), wobei er zunächst, dem Zeitgeist entsprechend, „zwischen 1921 und 1926 sehr versuchsweise“ eine „psychologische Theorie“ entwickelte (S. 69), aber auch daran dachte, „Musiker zu werden“ (S. 72). Stattdessen hat er über Theorie der Musik und Kunst theoretisiert und am Pädagogischen Institut Wiens seine Ausbildung „zum Lehramt in Mathematik und Physik an Hauptschulen“ mit einer Dissertation „Zur Methodenfrage der Denkpsychologie“ (S 110f) absolviert, nicht ohne selbst gleich Seminare abzuhalten (S. 102). Außerhalb der Hochschule traf er Leute wie Heinrich Gomperz, Julius Kraft, später auch Viktor Kraft und Herbert Feigl, die ihm etwas von Franz Brentano, Ernst Mach, Leonard Nelson und damit über die Fries-Schulen bzw. den Wiener Kreis ‚erzählten‘, wie Popper selbst recht genau über seine ‚Ausbildung‘ schreibt. Ein langes Buchmanuskript aus dieser Zeit wurde erst 1979 unter dem Titel „Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie“ (= GW 2) veröffentlicht, in dem er zwei durchaus richtige Ergebnisse seines Nachdenkens darstellte: Es gibt erstens keine Sinnesdaten. Zweitens werden die Grundsätze unserer Theorien nicht induktiv begründet, sondern hypothetisch gesetzt. Dabei wäre aber dringend hinzuzufügen gewesen, dass Theorien Systeme generischer Sätze sind. Diese bestimmen als differenziell bedingte Normalfallinferenzen, so genannte Dispositionen, materialbegrifflich die Gattungen und Arten der Dinge und Sachen samt ‚wesentlicher‘ Eigenschaften. So lernen wir z.B. als Kinder, dass Hunde Vierbeiner sind und bellen, dann auch, dass sich Sauerstoff in Wasser löst und sich Wasser in Hydrogen und Sauerstoff zerlegen lässt. Die konkreteren Bedingungen für diese Geschehnisse lernen wir aber immer erst später ‒ wozu erlernte Schemata durch praktische Urteilskraft zu modifizieren sind und sich daher nicht einfach durch einzelne Fälle widerlegen lassen.

1. Kritik oder Rechthaberei?

Das Problem von Poppers Liebe zur polemischen Kritik zeigt sich schön in einer berüchtigten Auseinandersetzung im Moral Science Club in Cambridge am 26.10.1946 mit Ludwig Wittgenstein (GW 15, S. 182ff). Popper wendet sich gegen das Urteil Wittgensteins, es gehe der Philosophie nur noch um Puzzles, die sich aus unseren Sprechweisen ergeben und daher einfach durch andere Worte oder weitere Kommentare ‚aufzulösen‘ seien. Zwar bleibe es ein ewiges Projekt, sprachliche Zweideutigkeiten zu klären und implizite Vorurteile explizit zu machen. Aber es gebe auch genuin philosophische Fragen und Probleme. Popper nennt als wichtige Exempel: „Erkennen wir die Dinge durch unsere Sinne? Erlangen wir unsere Erkenntnis durch Induktion?“ Wittgenstein, der offenbar während Poppers Vortrag gedankenverloren oder gelangweilt mit einem Schürhaken spielte, tat die Beispiele mit der Bemerkung ab, „es seien mehr logische als philosophische Probleme“. Die Frage danach, ob es „auch aktuale Unendlichkeiten gibt“ hält Wittgenstein für ein rein „mathematisches Problem“ (a.a.O.). In der damit schon angespannten Atmosphäre nennt Popper noch die Normen der Moralität und antwortet auf Wittgensteins Frage nach einem Fall einer moralischen Regel: „Man soll einen Gastredner nicht mit einem Schürhaken bedrohen“ (a.a.O.).[2] Popper äußert zwar Bedauern darüber, dass er damit Wittgenstein zutiefst verärgert hat. Aber er selbst hat sich nicht an die dialogisch-dialektischen, also kommunikationspraktischen, Bedingungen gehalten, die es erlauben könnten, in einem Gespräch oder Text mit bewussten Zweideutigkeiten humoristisch zu operieren. Die formelle Situation eines Gastvortrags, veranlasst durch Wittgenstein, der wohl nicht weniger als Popper an einer rein sachlichen Diskussion interessiert war und daher das Problem und die Sache sogar äußerst ernst nahm, schließt nämlich Poppers Antwort aus. Die Falschheit der Unterstellung einer ‚Bedrohung‘ erschien ganz offenbar nicht allen glasklar. Sie wird damit zu einem Affront: Man darf sich einen Scherz nie auf Kosten einer anderen Person erlauben. Wäre ihm diese moralische Regel als Replik eingefallen, hätte Wittgenstein wohl nicht wütend aus dem Raum flüchten müssen.

In GW 13 (Erkenntnis und Evolution) findet sich auf S. 34 eine analoge Polemik gegen Jürgen Habermas. Popper findet es „schwierig, mit Professor Habermas über ein ernsthaftes Problem zu diskutieren. Ich bin mir nicht sicher, daß er vollkommen aufrichtig ist. Aber ich glaube, er weiß nicht, wie man die Dinge – statt eindrucksvoll – einfach, klar und bescheiden formuliert. Das meiste von dem, was er sagt, scheint mir trivial zu sein. Und der Rest scheint falsch zu sein.“ Das leicht Aggressive im Zweifel an Habermas‘ Redlichkeit passt nicht so recht zur wiederholten Erklärung Poppers, dass er eigentlich jedem Streit um bloße Worte zugunsten der Inhalte aus dem Weg gehen will. Poppers eigene Position ist immer ein merkwürdig polemischer Extremismus der Mitte: Denn wer wäre nicht für das Wahre, Gute und Schöne, für die Vernunft und für die empirische Realität?

Die Bedeutsamkeit der gerade von Hegel erstmals entwickelten Einsicht in die Dialektik des Gesagten, und das heißt: der zumeist widerspruchsvollen Spannung zwischen der allgemeinen Bedeutung des Satzes an sich und dem besonderen Inhalt der konkreten Äußerung für sich samt all ihrer Implikaturen (wie sie H. P. Grice später analysiert), zeigt sich besonders deutlich an folgendem Beispiel: Popper sagt an mehreren Stellen (z.B. GW 15, S. 187), er sei vermutlich „der glücklichste Philosoph, der mir je begegnet ist“. Der nur an sich nette Satz weist auf ein Problem seiner Selbstbeurteilungen hin. Diese erscheinen dem Leser nämlich als fast schon verzweifelte Reaktionen auf eine reale Marginalisierung seiner Werke. John Passmore, der in seiner für das englischsprachige Publikum zugeschnittenen Darstellung zeitgenössischer Philosophen den Polemiken Russells und Popper kaum nachsteht, erklärt z.B. schon 1966 über dessen Arbeit zur Wahrscheinlichkeit: „in any case it has not been widely influential.“[3] Zuvor schreibt er: „Popper first made his name in English-speaking countries with The Open Society and its Enemies (1945) which created something of a sensation by the violence of its attack on Plato and Hegel“ (S. 406). Kürzer kann ein verdeckter Verriss nicht sein, zumal er die Absicht Poppers durchscheinen lässt, eben diese Sensation künstlich zu erzeugen. Auf S. 410 lesen wir: „In his earlier writings, Popper seemed to be more concerned with whether a theory is interesting (auf S. 406 steht im selben Kontext noch scientific) than with whether it is trueund auf S. 411: „Popper is not the first to criticize essentialism“.

2. Poppers Anfänge in der Wissenschaftstheorie der Physik

Popper kämpft immer sozusagen mit dem Zweihänder, dem Richtschwert, gegen ein Heer von Degen, also praktisch gegen alle akademischen Kollegen, die sich seine Urteilen nicht bedingungslos anschließen. Relevant wird dieser Kampf am Ende besonders für die Methodologie der Geistes- und Sozialwissenschaften, obwohl Popper seine eigene akademische Karriere, wie er in GW 9, S. 113 von sich selbst sagt, als ‚realistischer‘ Meta-Physiker und damit als eine Art „Reaktionär“ in der Wissenschaftstheorie der Physik beginnt. Wie unklar die (Selbst-)Zuschreibungen von Ismen wie „Realismus“ oder die Unterscheidungen zwischen einem ‚reaktionären‘ und einem ‚kritischen‘ Rationalismus sind, zeigt nun aber schon eine Skizze des Projekts schon des jungen Popper, „gewisse Züge des Komplementaritätsproblems aufzuklären“, indem „man die statistische Interpretation der Wellen akzeptiert“ (GW 1, S. 449): Heisenbergs These von der Unbestimmtheit soll durch seine probabilistisch dargestellte Propensität der Streuung (GW 9, S. 166ff) von Teilchen ersetzt werden. Damit positioniert sich Popper, grob gesagt, auf der Seite Einsteins und Schrödingers gegen die Kopenhagener Deutung der Quantenphysik, also gegen Bohr und Heisenberg. Er wird daher sozusagen auch in den zugehörigen Fan-Club aufgenommen. Sein ‚Gedankenexperiment‘ und seine Argumentationen werden aber umgehend durch Heisenberg und Richard von Weizsäcker widerlegt. Sie erkennen nämlich als Physiker sofort den Unterschied zwischen der Schilderung eines möglichen Experiments und einer bloß erst theoretischen Erwägung, in der eine mathematische Rahmenvorstellung wie der von sich relativ zu einander ‚bewegenden‘ punktförmiger ‚Teilchen‘ einfach voraussetzt wird. Heisenbergs Ungleichungen der Form Δp·Δq ≥ h/4π sagen ja, dass je ‚genauer‘ die (empirischen!) Maßzahlen der Orte bestimmt sind, desto mehr verschmieren die (immer ‚prognostischen‘!) Impulse – und umgekehrt. Die Impulse sind als Werte für Richtungsbeschleunigungen ‚praeter hoc‘ zu lesen. Diese müssten, wenn sie etwas mit kausalen Wirkungen zu tun haben sollten, vor dem Wissen um den weiteren Weg des Teilchens bestimmt werden, da sie sonst nur Beschreibungen einer Kurve post hoc wären. Dass auf „‘nichtprognostische‘ Messungen, z.B. Messung des Impulses eines Teilchens beim Eintreffen an einem genau bemessenen Ort“, „die Ungenauigkeitsrelationen nicht ohne weiteres angewendet werden“ können (GW 1, S 393), ist daher eine begrifflich teils triviale, teils irreführende Aussage. Eine Einschränkung der Geltung der Ungleichung, wie Poppers Aussage suggeriert, ergibt sich nämlich keineswegs, sondern eben die Notwendigkeit, Messungen von Ortsdaten bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu unterscheiden von Ortsbestimmungen post hoc, also im Rückblick. Entsprechendes gilt auch für die Bestimmungen von Geschwindigkeiten und Beschleunigungen, also von ‚Impulsen‘, an einer Orts- und Zeitstelle. Außerdem gilt ganz allgemein, dass reellzahlige Größen ohnehin nie ‚ganz exakt‘ messbar sind.

Poppers Ausführungen in GW 9, S. 42ff. behalten freilich darin recht, dass die Rede irreführt, der Beobachter oder die Art der Beobachtung ‚verfälsche‘ das jeweilige Messergebnis. Dennoch vertritt die Kopenhagener Schule keinen idealistischen Subjektivismus. Popper fragt, „ob es möglich ist, eine beliebig genaue Impulsmessung […] vorzunehmen, ohne dadurch die Ortskoordinate des betreffenden Teilchens zu stören“ (GW 1, S. 400, Hervorhebung von mir PSW). Das eigentliche Problem ist hier aber, dass die internen Wahrheitsbedingungen in einem mathematischen (Massen‑)Punktmodell von bewegten subatomaren ‚Teilchen‘ sich fundamental von den realen Wahrheiten der Empirie und des Messens unterscheiden. Alle mathematischen Geometrien liefern als strukturierte Punktmengen ein ‚falsches‘ Bild von den realen räumlichen und zeitlichen Verhältnissen der Körper, Teilchen, Wellen und Impulse. Exakte Punkte sind ideale, rein theoretische, mathematische Entitäten. In der realen Welt entsprechen ihnen immer nur verschmierte ‚Stellen‘ oder vage Angaben von Orten und Zeiten relativ zu anderen Orten und Zeiten. Vorausgesetzt ist ein komplexer Vergleich von gemessenen Relativbewegungen.

Während Popper und Einstein offenbar meinen, dass verbesserte Messungen immer näher an eine ‚wahre‘ Punktbewegungsstruktur führen könnten, erkennen die ‚Kopenhagener‘, dass die mathematischen Strukturen der Analytischen Geometrie und Massenpunktkinematik nach Descartes und Newton schon im Blick auf reale Zeit- und Raumstellen systematisch ‚falsch‘ sind. Es gibt keine Zeit- und Raumpunkte, auch keine punktförmigen Massenzentren in der realen Welt. Für die idealen Zahlen, mit denen man lokale Geschwindigkeiten und Beschleunigungen, die sogenannten Impulse, ‚exakt‘ angeben will, hat Heisenberg das Maß des unvermeidlichen Fehlers sogar allgemein mithilfe der Planck-Konstante h abschätzen können. Am Ende wird nicht etwa die Kopenhagener Interpretation, sondern die Poppers zu einer subjektiven Theorie. Das geschieht dadurch, dass man die Quantenmechanik insgesamt zu einem System probabilistischer Vorhersagen der statistischen ‚Streuung‘ von Quanten in verschiedenen Wiederholungen ‚desselben Experiments‘ (vgl. GW 9, S. 166) degradiert. Damit verstößt man gegen die eigene Methodologie, indem man an dem Satz: „das Teilchen hat immer eine Position und einen Impuls“ (GW 9, S. 169 u. 170), kritiklos festhält, ohne zwischen mathematischem Punktraum und den Stellen im Realraum zu unterscheiden. Auf diese Weise kann man die gesamte Entwicklung der Quantenphysik nicht mehr ausreichend ernst nehmen. Denn sie ist als Einsicht in die Grenzen einer dynamischen Punktbewegungskinematik und ihrer Geometrie zu verstehen. Es ist daher kein Wunder, dass unlängst das berühmte ‚Gedankenexperiment‘ von Einstein, Podolski und Rosen, das Popper u.a. in GW 9, S 171ff als Ersatz für sein eigenes präsentiert, experimentell als unmöglich erwiesen wurde.

3. Kritik an spekulativen Welterklärungen

Wir kommen abschließend nochmals kurz auf Popper wohl berüchtigstes Werk zu sprechen. Gerade an ihm lässt sich eine allgemeine Beobachtung machen, die Poppers außerakademische ‚Popularität‘ und deren Schwachstelle grundsätzlich betrifft. In den beiden Bänden Die offene Gesellschaft und ihre Feinde beginnt Popper eine Art Kreuzzug gegen die Überschätzung von Wissenschaft und Philosophie in Gesellschaft und Politik. Er wirbt für Bescheidenheit in der Soziologie, die er als statistische Hilfswissenschaft für eine Sozialtechnik der kleinen Schritte in Kritik an spekulativen Entwürfen einer vom Staat gesteuerten Gesellschaft begreift. Große Entwürfe werden in der Tat schnell zu Ideologie.

Popper schreibt dabei aber Platon eine ultrakonservative, also reaktionäre, Theorie einer erstarrten Gesellschaft zu. Er spricht von Treulosigkeit gegenüber seinem Lehrer Sokrates (GW 5, S. 231) und kritisiert Platons vermeintliche fixe Idee, dass alles Wahre und Gute unveränderlich sei oder sein müsse. Es könnte aber sein, dass Platon nicht etwa, wie GW 5, S. 25 suggeriert, „jegliche soziale Veränderung“ fürchtete, sondern die Stabilität der Verfassung einer Stadt als Gütesiegel versteht.

Hegel wird im zweiten Band zum Begründer eines angeblichen Historizismus. Der Titel soll besagen, dass man an ein durch Geschichtswissen begründbares Wissen über die Gesetzmäßigkeit der Weltgeschichte und über eine Vorsehung oder einen Fortschritt glaubt. Schon Hayden White hat aber gesehen, dass man Hegels spekulative Geschichte nicht als ‚historicism‘, sondern als ‚metahistory‘ und damit am Ende methodologisch lesen sollte.[4] Hegel hebt dabei nicht anders als Popper selbst in GW 14, S. 321 die unhintergehbare Tatsache hervor, dass alle Geschichte je heute endet und auf dieses Ende als ‚Telos‘ hin erzählt wird [5] und formuliert außerdem leicht ironisch: „Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dies, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.“[6] Bezieht man das auf Poppers eigenen Umgang mit seinen Kollegen und ihre Leistungen im Laufe der Geschichte der Wissenschaften und Philosophie, so lautet am Ende die ‚Moral von der Geschichte‘: Ohne Bemühen um eine sachkundige Unterscheidung zwischen Buchstäblichkeit und Sinn gerade im Umgang mit den Metaphern und Analogien der Wissenschaften und mit der immer leicht ironischen Distanz aller spekulativen Philosophie trifft man wie Popper an fast allem vorbei.


Pirmin Stekeler-Weithofer ist 1952 in Meßkirch geboren und war von 1992 bis 2021 Gründungsprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Leipzig, 2008-2015 Präsident der Sächsischen Akademie Wissenschaften zu Leipzig und ist Herausgeber der Philosophischen Rundschau. Seine Arbeitsschwerpunkte sind systematisch die Logik und Philosophie der Sprache, des Wissens und der mathematischen Wissenschaften, geschichtlich besonders die griechische Philosophie, Kant, Hegel, Heidegger und Wittgenstein.


[1] Karl R. Popper, Gesammelte Werke in deutscher Sprache, Bände 1-15, hrsg. v. William Warren Bartley III, Troels Eggers Hansen, Herbert Keuth, Hubert Kiesewetter, Manfred Lube u. Hans J. Niemann, Tübingen: Mohr Siebeck, 2022. 7983 S. (= GW).

[2] Poppers Darstellung ist übrigens genauer als die von Ray Monk in Ludwig Wittgenstein. The Duty of Genius, London: Vintage, 1991, S. 495.

[3] John Passmore, A Hundred Years of Philosophy, London: Penguin Books, 1968, S. 412.

[4] Hayden White, Tropics of Discourse, Baltimore 1986, S. 52.

[5] G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Bd. I, Die Vernunft in der Geschichte = Phil. Bibl. 171a, Hamburg: Meiner 1994, S. 209f.

[6] A.a.O. S. 19.


Dieser Text ist der Teil einer Kooperation mit der Philosophischen Rundschau. Das aktuelle Heft findet sich hier.