Jargon der Unsachlichkeit. Kriegsmetaphorik im Namen der Wissenschaftsfreiheit
Von Peggy H. Breitenstein (Jena)
Nachdem das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit (NW) im Februar 2021 äußerst aufmerksamkeitserregend in die virtuelle Welt des WWW getreten ist, erfährt es langsamen, aber stetigen Zuwachs: Die Zahl der Mitglieder wuchs von anfänglich 70 auf inzwischen knapp 500. Allerdings findet es nicht nur Zuspruch und es wird zu Recht immer wieder darauf verwiesen, dass für die Behauptung, die Wissenschaftsfreiheit sei in Gefahr, belastbare empirische Daten bisher nicht erbracht wurden.
Neben diesem wackligen Fundament, das im Rahmen gewohnter wissenschaftlicher Diskurse wohl ein Ausschlusskriterium wäre, fallen allerdings auch gravierende immanente Widersprüchlichkeiten ins Auge, die doch sehr an den im Manifest deklarierten Ansprüchen des NW zweifeln lassen.
So ist etwa in dessen einleitender Passage zu lesen, das NW würde sich für ein „freiheitliches Wissenschaftsklima einsetzen“, worunter „eine plurale von Sachargumenten und gegenseitigem Respekt geprägte Debattenkultur“ zu verstehen sei, „und ein institutionelles Umfeld, in dem niemand aus Furcht vor sozialen und beruflichen Kosten Forschungsfragen und Debattenbeiträge meidet“. Auch die Liste der verkündeten Ziele umfasst neben „intellektuelle[r] Freiheit“, „wissenschaftliche[m] Pluralismus in Forschungsfragen, Forschungsansätzen und Forschungsmethoden“ sowie „argumentative[r] Auseinandersetzung mit anderen Ansätzen und Perspektiven […], auch und gerade, wenn sie inhaltlich nicht geteilt werden“, auch die Verpflichtung darauf, „dass Debatten von gegenseitigem Respekt geprägt sind und Ad-hominem-Argumente unterbleiben“ (siehe hier).
All das sind Ziele, denen sicherlich alle Wissenschaftler*innen nahezu bedingungslos zustimmen können. Allerdings scheinen ihnen bereits das Vokabular und der Ton des Manifests selbst zu widersprechen. Und auch bestimmte formelhafte Wendungen und Metaphern bestimmter Debattenbeiträge zeigen ein gänzlich anderes Bild: Sie tragen nicht nur nicht zur Erreichung dieser Ziele bei, sondern verhindern dies sogar ganz offensiv.
Ich möchte dies an einem konkreten Beispiel deutlich machen, das auch daran erinnern kann, dass die Ansicht, die Wissenschaftsfreiheit sei vor allem durch „linke Ideologien“ und „Minderheiten“ gefährdet, von einigen Initiatoren des NW selbst lange schon verbreitet wurden.
Persönlich begegnete mir das NW – oder besser das „Netzwerk vor dem Netzwerk“ – erstmals im Herbst 2019. Ab Oktober nämlich fanden sich in nahezu allen Instituten, Bibliotheken, Mensen der Jenaer Friedrich-Schiller-Universität Plakate, mit denen für den anstehenden „Thüringentag für Philosophie 2019“ geworben wurde. Genauer hatten die Veranstalter – das Ethikzentrum der Universität und die Neue Thüringische Gesellschaft für Philosophie e.V. – eine Tagung organisiert, die den suggestiven Titel trug: FREIHEIT DER WISSENSCHAFT— IN GEFAHR? (Hier das Plakat auch aktuell noch abrufbar.)
Die Frage war aber offensichtlich rhetorisch gemeint. Denn dafür, dass die Antwort nur „Ja!“ sein kann, sprachen sowohl eine das Plakat dominierende Photographie wie auch die Titel der angekündigten Vorträge: Abgebildet war eine Gedenktafel aus dem Universitätshauptgebäude der FSU mit den Schriftzügen „Die Wahrheit wird euch frei machen. Den Opfern politischer Unterdrückung an der FSU Jena 1933-45 und 1945-89.“ Die angekündigten Vorträge – fünf davon von Erstunterzeichnern bzw. Initiatoren des Manifests des NW – trugen beispielsweise so aufschlussreiche Titel, wie „Wissenschaft ohne Freiheit? Gegen die linke Logophobie“, „Die Tyrannei der Werte – Wie sich die Ideologisierung der Bildungselite auf die Wissenschaftsfreiheit auswirkt“ oder auch „Zumutungsfreie Wissenschaft für alle? Wenn der Schutz vor Meinungen mehr zählt als der Schutz von Meinungen“.
Zu einer offenen Debatte über die Frage, ob die Wissenschaftsfreiheit denn in Gefahr sei oder auch was (alles) sie gefährdet oder gefährden könnte, wurde damit gerade nicht eingeladen. Auch fanden sich unter den Referierenden weder skeptische noch gar kritische Stimmen, die hier alternative Perspektiven hätten einbringen oder einfordern können. Zu einer offenen und multiperspektivischen Debatte kam es dann auch während der Tagung nicht. Sie wurde aber auch nicht gecancelt oder auch boykottiert: Vielmehr konnte sie ganz ungestört stattfinden und durfte von Thüringer Lehrerinnen und Lehrern sogar als Fortbildungsveranstaltung abgerechnet werden.
Dabei wurde das Plakat seitens einiger sensibler, engagierter Studierender durchaus als Irritation und Provokation wahrgenommen. Unwohlsein und Widerstand erregte nicht nur der im Bild ausgedrückte Vergleich des derzeitigen Diskursklimas mit der Unterdrückung der Meinungsfreiheit in Zeiten diktatorischer Herrschaft. Moniert wurden vor allem auch das drastische Vokabular und der scharfe Ton, die eine Verständigung von vornherein blockierten (siehe FSR Philosophie: Stellungnahme zum Thüringentag für Philosophie).
Das führt mich zu einem in meinen Augen grundlegenden Problem auch der derzeitigen Debatten: Zur Ausweglosigkeit, die vorherrscht, solange das Gesprächsklima geprägt ist vom Jargon der Unsachlichkeit, genauer von kriegerischer Sprache und Metaphorik, von nicht-verifizierten Unterstellungen und Vermutungen, von fehlenden Unterscheidungen zwischen Tatsachenbehauptungen und Meinungen. In einem solchen Klima ist es unmöglich, einander zuzuhören, zu verstehen, anzuerkennen. Meinungsbildung kann unter diesen Bedingungen nur noch als Clubbildung stattfinden: Im geschützten Raum der Eigeninteressierten, im Bereich der „Idiotes“, wie Platon und Aristoteles sie verstanden.
Von diesem Jargon der Unsachlichkeit zeugt in meinen Augen auch der replizierende Beitrag Dieter Schöneckers auf praefaktisch. Er ist eine Reaktion auf Alexander Reutlingers Stellungnahme zum NW, in der dieser die Ansicht vertritt, dass es dem NW nicht eigentlich um wissenschaftsexterne Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit gehe, sondern um Einzelfälle, in denen Wissenschaftler innerhalb der wissenschaftlichen Community selbst kritisiert wurden. Reutlinger erinnert dabei zudem daran, dass sich diese innerwissenschaftliche Kritik entweder gegen bestimmte eigene Aussagen oder gegen die eingeladener Menschen richtet, und zwar weil diese einer wissenschaftlichen Qualitätskontrolle nicht genügen oder innerwissenschaftlich anerkannte Normen und Werte verletzen.
Damit unterstellt er freilich die Geltung solcher, der „innerwissenschaftlichen Kritik“ dienenden Normen, zu denen in seinen Augen auch Leitlinien einer gemeinwohlorientierten Förderpraxis gehören oder die Orientierung an Gleichstellung und Inklusion. Und er unterstellt damit, dass Wissenschaft gerade kein „moral-, rechts- und politikfreier Raum“ ist. Nur mit diesen Annahmen (Prämissen), lässt sich dafür argumentieren, dass eine wissenschaftsinterne Kritik gerade „keine Einschränkung von Wissenschaftsfreiheit darstellt“.
Über all diese Annahmen könnte (und müsste man sicherlich auch) ins Gespräch kommen bzw. streiten. Stehen doch die Normen selbst und damit auch die Grenzen zwischen interner und externer Kritik keineswegs von vornherein fest, sondern sind in demokratischen Gesellschaften bestenfalls Gegenstand von Aushandlungen und gemeinsamen Entscheidungen.
Doch Dieter Schönecker beginnt seine Replik nicht mit diesen wichtigen Fragen, sondern stürzt sich auf die Gefahren, die Reutlinger ebenfalls benennt: In dessen Augen können die Missachtung der Unterscheidung zwischen wissenschaftsinterner und -externer Kritik und die Konzentration des NW auf Einzelfälle dazu führen, dass Fälle, in denen es tatsächlich zu staatlichen oder auch ökonomisch motivierten Eingriffen in die Wissenschaft komme, relativiert werden. Vor allem aber könnten sie dazu beitragen, dass jede Kritik an den eigenen Forschungen oder Themensetzungen pauschal als Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit diskreditiert und Anschlussdebatten verhindert würden.
Schöneckers Replik kann selbst als Beispiel für eine solche Verhinderung angesehen werden. Schon das militärisch-kriegerische Vokabular spricht dafür: Gleich zu Beginn wird die Freund-Feind-Dichotomie aufgerufen; durch Reutlingers Kommentar werde das NW „attackiert“, allerdings mit „Waffen“, die „stumpf“ sind. Die Replik wird eröffnet wie ein Kriegs- oder Feldzug und führt dann bezeichnenderweise in einen Grabenkampf, der eigentlich jeder Forderung nach Sachlichkeit widerspricht und ironischerweise genau das veranschaulicht, wovor Reutlinger warnt. Reutlingers Warnungen werden zudem zu Beschuldigungen umgemünzt; die Konstruktion „schlechter Argumente“ ersetzt alle Versuche des Zuhörens und Verstehens, die zu den notwendigen Bedingungen echter Debatten zählen.
Zwar macht Schönecker selbst durchaus auch darauf aufmerksam, dass im Zentrum ernsthafter Debatten die „entscheidende Frage“ stehen müsse: „Was ist noch legitime Kritik und was eine Einschränkung von Wissenschaftsfreiheit?“ Doch seine eigene Antwort führt auch gleich wieder aus jeder möglichen Debatte hinaus: Weil die Frage nämlich schon rechtlich unverrückbar und scheinbar eindeutig entschieden ist, und zwar durch Art 5.3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Mit diesem Hinweis wird nicht nur verdeckt, dass auch das GG einer immer wieder neuen Kommentierung bedarf und dass selbst Gerichtsverfahren, erst recht aber politische Entscheidungsprozesse überhaupt auf die Erwägung verschiedener Ansichten angewiesen sind, weil sie durch den Wortlaut des Gesetzestextes gerade nicht von vornherein entschieden sind. Mit diesem Hinweis werden Universitäten zudem zu Institutionen der Unmündigkeit, des privaten Vernunftgebrauchs und Gehorsams im Kantischen Sinne degradiert, in denen Selbstverwaltung, Mitgestaltung, demokratische Entscheidungsverfahren und überhaupt politische Urteilskraft keinen Platz haben.
Aber um genau darum müssten sich die Debatten gerade an Universitäten heute zunächst drehen, in deren Anschluss und Umfeld sich überhaupt erst gemeinsam Fragen nach Formen politischer Willensbekundung im universitären Rahmen, ihrer Legitimität oder Illegitimität im Sinne der Wissenschaftsfreiheit verhandeln lassen. Solange diese Debatten nicht geführt werden, stehen sich zwei Seiten höchstwahrscheinlich unversöhnlich gegenüber: Auf der einen die, welche die Deutungshoheit über den Gesetzestext für sich beanspruchen (mit oder ohne juristische Rückendeckung), auf der anderen Seite die, deren Widerstand sich von dieser Seite aus als Rechtsbruch darstellen muss.
Sicherlich: Solche Debatten sind zeitraubend und anstrengend. Und mit Kritik umgehen, auf sie reagieren, sie vielleicht sogar berücksichtigen, ist sogar noch aufwändiger. Das Ausheben von Schützengräben und Auffahren scharfer Geschütze, das Ausfechten von Grabenkämpfen und nachhaltige Verminen des Gebiets gehen hingegen wesentlich schneller.
Peggy H. Breitenstein lehrt und forscht am Institut für Philosophie der FSU Jena v.a. zu Fragen philosophischer Gesellschaftskritik und versucht sich immer wieder an Vermittlungen zwischen zivilgesellschaftlichen Initiativen und akademischer Philosophie.