
Kindererziehung: eine Frage der politischen Philosophie?
von Clara Riedenstein (University of Oxford)
Viele Eltern versuchen, ihren Kindern demokratische, liberale Werte wie Gleichberechtigung und kritisches Denken zu übermitteln. Das Hindernis dabei lautet oft: man kann Kinder entweder in Form oder Inhalt liberal erziehen. Diese Spannung spiegelt sich im Paradox des Liberalismus in der politischen Philosophie wider.
In einer progressiven Grundschule in Kreuzberg kommt es zu einem Vorfall. Der neunjährige Oskar kommt mit einem Kleid in die Schule, worüber sich zwei andere Kinder, Lennart und Kay, lustig machen. „Jungs tragen keine Kleider!“ schreit Lennart. „Pfui, du bist so hässlich!“ ruft Kay nach. Daraufhin werden die Eltern beider Kinder einberufen und entsetzt hören Lennarts Vater und Kays Mutter, was ihre Kinder angestellt haben. Beide erwidern, sie würden ihre Kinder tolerant erziehen; sie verstehen nicht, woher so ein Verhalten kommt. Nach Nachfrage stimmen beide zu: Liberalismus ist Ihnen politisch wichtig, man muss ihn gerade heute verteidigen, und auch ihre Erziehung soll zum Ziel haben, dass die Kinder Werte wie Toleranz und Gleichberechtigung lernen sollten.
Dass jeder von beiden eine eigene Vorstellung von „liberaler Erziehung“ hat, das jedoch wird deutlich, als sie zuhause ein ernsthaftes Gespräch mit ihren Kindern führen. Lennarts Vater setzt sich mit seinem Sohn zusammen hin, und bittet: „Erzähle mir, wieso du das gemacht hast. Man könnte es doch auch so sehen, dass jeder sich so anziehen darf, wie sie mögen.“ Kays Mutter hingegen nimmt sich ihren Sohn vor und verkündet laut: „Das macht man nicht! Alle können sich genauso anziehen, wie sie wollen. Verstanden? Kein iPad für eine Woche als Strafe“.
Kann es sein, dass tatsächlich beide ihre Kinder liberal erziehen, oder ist nur eine der beiden Erziehungsstile tatsächlich liberal? Die Eltern wissen es (noch) nicht, aber sie sind auf einen prominenten Widerspruch in der politischen Philosophie des Liberalismus gestoßen. Das könnte ihnen vielleicht gleichgültig sein, aber womöglich lernen sie aus der philosophischen Debatte sogar etwas über Kindererziehung.
Das Paradox ist Folgendes: Als überzeugte liberale Staatsbürger*in kann man seine Kinder entweder in der Form oder im Inhalt liberal erziehen, man muss sich aber zwischen diesen beiden Möglichkeiten entscheiden, weil beides zugleich nicht immer möglich sein wird.
Eine liberale Form ist heutzutage beliebt bei Großstadt-Eltern, die ihre Kinder auf Montessori-Schulen schicken. Für Lennarts Eltern, die zu dieser Gruppe gehören, heißt „liberal“, den Kindern Freiheit und Autonomie zu lassen. Die Kinder hören von ihren Eltern selten ein konsequentes „nein!“. Stattdessen dürfen Kinder bei jedem Thema mitreden, von Religion bis Bildschirmzeit. Nur so können Kinder den kritischen Geist entwickeln, den sie als verantwortliche Staatsbürger*innen brauchen. „Akzeptiere dein Kind so, wie es ist!“, lautet das Mantra.
Die Kehrseite: Wer auf diese Weise liberal erzieht, muss die Folgen aushalten. Wenn sich herausstellt, dass Lennart seine Mitschüler homophob beschimpft, darf die Reaktion nämlich nicht lauten: „Das ist falsch“. Höchstens dürfte es dann heißen: „Hier sind ein paar andere Meinungen zum Thema“.
Die Erziehung von Kays Mutter ist ebenfalls liberal, jedoch auf andere Weise. Sie ist dem Inhalt nach liberal: Hier werden den Kindern liberale Werte kommuniziert, und zwar selbst dann, wenn die Kommunikationsform nicht sehr liberal ist. Das aber nimmt man hier in Kauf als notwendiges Übel. Ob Demokratie gut ist, steht bei Kays Eltern nicht zur Debatte. Ebenfalls nicht zur Debatte steht, wie viel Bildschirmzeit es gibt: eine Stunde. Die Begründung? „Mehr wäre schlecht für dich.” Kays Mutter glaubt: Damit die Kinder später gute liberale Staatsbürger*innen werden, müssen sie an liberale Werte glauben. Wie genau man diese Überzeugungen in sie hinein kriegt, das ist zweitrangig.
Hier gibt es ebenfalls eine Kehrseite, wie meine eigenen Eltern, aufgewachsen in den Fünfzigerjahren, gerne und häufig berichten. Wenn man seine ganze Kindheit lang vorgesagt bekommt, was man zu tun („brav sein!“), zu denken („das Richtige“), und zu sagen („das Höfliche“) hat, dann ist es wohl nicht weiter verwunderlich, wenn Menschen sich später nur mit Mühe die Fähigkeit erarbeiten können, tatsächlich individuell zu denken, zu handeln, zu empfinden.
Dieser Konflikt könnte vielen Eltern bekannt vorkommen. Überraschen dürfte manche Väter und Mütter allerdings, dass in der liberalen politischen Philosophie seit langem eine Debatte ausgefochten wird, in der es um ganz ähnliche Fragen geht.
Nicht die Neutralität der Eltern, sondern die Neutralität des Staates wird auf hier diskutiert. Liberale Denker sind sich erst einmal einig: Neutralität bedeutet der liberale Staat ist verpflichtet, Staatsbürger*innen so viel Autonomie wie möglich zu erlauben. Es scheiden sich aber die Geister, sobald diese Neutralität ausbuchstabiert werden soll und es dazu kommt, was das bedeutet. Ähnlich wie die Eltern in unserem Beispiel ist das Ziel eines liberalen Staates immer, dass ihre Staatsbürger*innen tolerant sind und an die Gleichberechtigung aller glauben. Eine Seite betrachtet Neutralität als passiv, die andere als aktiv.
Mit den Montessori-Eltern verbündet wäre „political Liberalism“ am prominentesten vertreten von Philosoph*innen wie etwa John Rawls oder Martha Nussbaum. Es lautet: Neutralität bedeutet, dass der Staat keine Interpretation des guten Lebens bevorzugen oder fördern sollte. Er soll es lediglich, allen Staatsbürger*innen in gleicher Weise ermöglichen, ihre bevorzugte Lebensform zu verfolgen, solange diese nicht gegen dasselbe Recht anderer verstößt. Ob das nun katholischer Extremismus, progressive Polygamie oder eine normale vierköpfige Familie ist, spielt keine Rolle. Toleriert werden muss alles – von rassistischer Hassrede (solange sie keinen Aufruf zu Gewalt darstellt), bis zu Verschwörungstheorien. Wichtige ist nur, dass der Staat allen Staatsbürger*innen dieselben Chancen im politischen Raum ermöglicht, und ihnen keine Doktrinen selbst aufzwingt (selbst wenn es die richtigen Doktrinen sind).
Im Gegensatz zum politischen Liberalismus steht der Perfektionismus. Man bezieht sich dabei nicht auf das pathologische Verhalten jener Mitarbeiterin, die auch nach der fünfzehnten Überarbeitung die verfluchte E-Mail nicht abschicken können. Perfektionismus wird die aristotelische Zusammenführung von Ethik und Politik genannt, wie sie von Joseph Raz prominent vertreten ist. Liberale Werte sind für Perfektionisten objektiv „gut“ und sollten daher vom Staat auch aktiv gefördert werden. Autonomie ist wertvoll nur wenn sie von anderen liberalen Werten, wie Gleichheit, begrenzt wird.
Der Perfektionist fragt: Wenn etwas tatsächlich gut ist, wieso darf der Staat es nicht fördern? Wie kann es sein, dass ein Staat Rechtsextremismus tolerieren muss, wenn der im genauen Gegensatz steht zu den neutralen Prinzipien des Liberalismus? Der Staat sollte also nicht passiv sein und einfach die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn Unwahrheiten und Hass verbreitet werden.
Perfektionismus wird oft Paternalismus vorgeworfen. Selbst wenn man Recht hat, muss es möglich sein, Gründe zu nennen, wieso etwas gefördert wird. Es besteht eine starke Gefahr, dass sich der Staat übergreift. Wieder treffen wir also auf die Dichotomie zwischen liberaler Form und liberalem Inhalt.
Eltern sind der Staat, Kinder die Staatsbürger*innen, und das Haus ihr Territorium. So geht also die Metapher. Können Eltern irgendetwas nützliches davon lernen? Es wäre vielleicht absurd, Lennart and Kays Eltern zu sagen, sie sollen sich doch am Abend hinsetzen und Rawls oder Raz lesen. Aber es könnte ihnen ein neues Vokabular verleihen, um ihre Unterschiede zu formulieren. Lennarts Vater könnte lernen, dass Neutralität nicht gleich „passiv“ ist. Neutral sein hat einen Inhalt, nämlich (mindestens) Gleichberechtigung. Es ist also eventuell sehr angebracht manchmal zu sagen: das ist falsch. Kays Mutter hingegen kann lernen, dass selbst wenn man recht hat, Begründungen wichtig sind um kritische, liberale Personen heranzuziehen.
Obwohl Erziehungstipps nachvollziehbarerweise ein Tabu sind, kann man sich an dieser Stelle vielleicht einen erlauben. Eine bessere Reaktion beider Eltern wäre vielleicht gewesen: „Oskar sieht aus wie ein Mädchen. Das war auch die Absicht. Die Frage ist, na und?“
Dieser Text wurde im Rahmen eines Workshops zum philosophischen Blogging von der Politischen Akademie in Bayern, Tutzing, gemeinsam mit PhilPublica organisiert wurde, geschrieben.
Clara Riedenstein ist eine Forscherin im Center for European Policy Analysis (CEPA), wo sie sich mit Digitalpolitik befasst und regelmäßig für das Online Journal Bandwidth schreibt. Ihre Arbeit wurde schon unter anderem von der DW, Tech Policy Press, und European View veröffentlicht. Sie hat einen MSc in Politischer Theories von Universität Oxford, wo sie als C. Douglas Dillon Scholar studierte und sich auf die Auswirkungen von KI auf Staatstheorien konzentrierte. Zudem erwarb sie einen BA in Oxford, wo sie mit den Henry Wilde Prize in Philosophie (proxime accessit) ausgezeichnet wurde.



