02 Mrz

Politik der Bedürfnisse. Eine Replik

von Christoph Henning (Erfurt)


Die menschlichen Bedürfnisse sind von Seiten eines Teams von AutorInnen in die Diskussion geworfen worden. Obwohl durch die „11 Thesen“ dabei ein Bezug auf Marx suggeriert wird, kommen die Bedürfnisse allerdings schlecht weg. Der Ball wird an dieser Stelle aufgenommen und in rettender Absicht werden einige Gegenthesen formuliert.[1]

1. Materiale Kritik oder pauschale Ablehnung des Konzepts natürlicher Bedürfnisse?

Der Rückbezug auf unerfüllte Bedürfnisse ist bei Protesten ein beliebtes Argument. Das Team moniert, dass sich nicht nur emanzipatorische, sondern auch konservative und populistische Bewegungen auf eine naturalistisch klingende Definition menschlicher Bedürfnisse stützen. Darauf ist in der Tat zu reagieren. Zwei Reaktionen sind denkbar: Entweder wir kritisieren problematische Verkürzungen des Bedürfnis-Begriffs und schlagen Alternativen vor. So drückt die Gelbwesten-Forderung nach subventioniertem Benzin kein Bedürfnis nach Öl, sondern nach Bewegungsfreiheit aus, und dem lässt sich auch besser mit einem funktionierenden öffentlichen Verkehr nachkommen. Oder man zieht den Schluss, jeden naturalistisch aussehenden Bedürfnis-Begriff abzulehnen. Damit kritisiert man aber nicht nur problematische Phänomene, sondern verliert auch den Anschluss an eine breite Palette emanzipatorischer sozialer Bewegungen – ein hoher Preis.

2. Ein entschiedener Anti-Naturalismus

Das Team wählt ohne Abwägung den zweiten Weg: sie möchten jeden Bezug auf Natur oder menschliche Grundbedürfnisse in die Schranken weisen – aus epistemischen Gründen (es gäbe keinen Zugang dazu, da Bedürfnisse stets sozial vermittelt seinen, These 5) wie aus politischen (es führe zum Paternalismus, These 3). Das ist entschiedener Antinaturalismus, denn eine menschliche Natur, die man nicht erkennen und nicht benennen kann („impossible to define“), ist keine. Versuche, es dennoch zu tun, führten nur in den Autoritarismus („authoritarian imposition of needs as defined by experts”, These 3). Doch Natur ist für das Team nicht nur nichts. In einem zur Skepsis etwas quer liegenden Argumentationsgang wird unsere Bedürfnisnatur wie einst im Christentum dämonisiert: zumindest im Kapitalismus sei Bedürfnisbefriedigung per se problematisch („distorted“, These 8), da sie an den Status quo kette und stets auf Kosten anderer gehe (These 6). Daher ist der Gegenvorschlag des Teams zur Kritik der Zukunft weitgehend dematerialisiert. Überspitzt gesagt: nicht mehr der Körper (die Bedürfnisse) solle im Mittelpunkt stehen, sondern der Geist: als Forderung nach freier und gleicher Teilannahme an Diskursen über Bedürfnisformierung (These 7). Würde diese transzendentale Operation nicht vielen Protesten die Luft aus den Segeln nehmen?

3. Ungereimtheit a) Wozu die unentschiedene Zurücknahme in Sachen Natur?

Unabhängig davon, ob man diese Konzeption teilen mag, fallen an ihr drei Ungereimtheiten auf. Zunächst fragt man sich, warum sich die AutorInnen trotz ihres entschiedenen Antinaturalismus auf Natur berufen – es gäbe, sagt These 5 eigenen Einwänden zum Trotz, eine irreduzible natürliche Seite (Bedürfnisse scheinen also zusammengesetzt zu sein aus Natur und Gegennatur). Wie hat man das zu deuten – will man auch dann auf der richtigen Seiten stehen, wenn sich der Geschmack des Publikums doch zugunsten der Natur wenden sollte? Allerdings hilft der angedeutete Sozialkonstruktivismus der Natur nicht weiter – wenn „Natur“ in der Kultur immer schon enthalten sei („contained“, These 5), dann ermöglicht das auch die eingangs problematisierten Naturbezüge von populistischer Seite. Ihnen könnte dann gerade nichts mehr entgegengesetzt werden und die Thesen drehen sich im Kreis.

4. Ungereimtheit b) Offenheit oder Exklusivität der geforderten Diskurse

Die AutorInnen schreiben sich im Sinne der radikalen deliberativen Demokratie auf die Fahnen, dass überall Diskurse zu führen seien über die Legitimität des Zustandekommens von Bedürfnissen. Das klingt gut. Diese Diskurse sollen frei und gleich sein – aber es gibt eine große Gruppe, die in diesem Diskurs nicht gern gesehen ist. Nach Möglichkeit vermieden werden sollen nämlich naturalistische Theorien („they stand in the way“, These 9). Ihre Argumente werden nicht gehört, man lehnt die breite Familie historisch einflussreicher und systematisch ausdifferenzierter Ansätze als Irrtum ab („distorted vocabularies“). Doch zu ihren Anhängern gehört, These 6 zur allgegenwärtigen Verbreitung „falscher“ Bedürfnistheorien zufolge, eine große Gruppe sozialer Bewegungen, ja der Bevölkerung generell, sofern sie eine Erfüllung ihrer empfundenen Bedürfnisse einklagt. Wollte man diese wirklich ausgrenzen, dann wäre der Autoritarismus-Vorwurf an das Diskursmodell zurückzugeben.

5. Ungereimtheit c) Bedürfniserziehung: Ein verdeckter Elitismus?

Wenn Politik mit Bedürfnissen erst dann gemacht werden darf, wenn über Zustandekommen und Wünschbarkeit dieser Bedürfnisse in offenen Verfahren debattiert worden ist, dann steht zu befürchten, dass eine Mehrheit der Bevölkerung diesen Test aus der Sicht der AutorInnen nicht bestehen wird – das Urteil über die Bedürfnisverfasstheit im Kapitalismus ist ja harsch (Thesen 6 & 8). Die emanzipatorisch klingende Forderung nach freier und gleicher Diskussion zeigt hier einen Pferdefuß: elitär wirkt einmal die Anforderung an die Menschen, vor einem möglichen Protest bitte ihre Bedürfnisse zu reflektieren. Erinnert das nicht an eine intellektualistische Missachtung allzu direkter Artikulation von Bedürfnissen? Elitär klingt zudem der herauszulesende Anspruch, die progressive Avantgarde habe diesen Prozess bereits durchlaufen – Bedürfnisse im eigenen Lager tragen aufwertende Beiworte wie „radikal“, „queer“ oder „solidarisch“. So wird der unterstellte Diskurs zum gesuchten Kriterium zwischen legitimen (progressiven) und illegitimen (konservativen) Bezugnahmen auf Bedürfnisse in der Politik. Die Guten ins Tröpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Doch dieses Kriterium verschiebt das Problem nur: an die Stelle der konkret geführten Debatte um die ‚richtigen‘ Bezugnahmen auf Natur tritt eine prozedurale Testinstanz, die überprüft, ob genug diskutiert wurde. Aber wie gehen diese Diskussionen denn aus, was wären in dieser verdoppelten Diskussion triftige Argumente? Nach beiden Seiten hin sind die Unterstellungen vorschnell: Weder macht institutionalisierte Dauerreflexion progressive Bewegungen stets stärker (sie kann auch zu Abspaltungen und Erlahmung führen), noch kann man unterstellen, dass Konservative niemals debattiert hätten. Diese Unterstellung überspringt den Diskurs der anderen und vergisst das Wichtigste: wann und warum nämlich sind eingeklagte Bedürfnisse denn ernst zu nehmen?

6. Ein zu hoher politischer Preis

Diese Ansatz erscheint nicht nur wegen seiner internen Ungereimtheiten problematisch. Er hätte auch praktisch-politisch hohe Kosten: Dem eigenen Lager, etwa der Umwelt-, Frauen- oder  queeren Bewegung, die nicht selten (und durchaus zurecht) mit Bedürfnissen argumentieren, wird signalisiert, dass sie die falschen Forderungen stellen: statt direkte Forderungen zu erheben, müsse man zunächst für die Bedingungen der Möglichkeit der Debatte über diese Forderungen streiten. Das wäre nicht nur für die Beteiligten womöglich befremdlich, es hätte womöglich auch die unangenehme Tendenz, Bewegungen jenseits des Westens oder außerhalb der Universitäten als unaufgeklärte Vorform zu entwerten. An die Richtung populistisch erregter Menschen hingegen ergeht nicht die Botschaft, dass wir ihre Befindlichkeiten und Gefühlen auch dann respektieren, wenn wir nicht ihrer Meinung sind, und gemeinsam versuchen wollen, nach besseren Lösungen zu suchen; sondern vielmehr die, dass sie ja noch gar nicht befugt seien, sich in dieser Sache zu äußern, da ihnen die entsprechende Debatte fehle. Das ist Wasser auf die Mühlen des populistischen Standard-Vorwurfs, man „dürfe“ über bestimmte Dinge nicht sprechen, und wird den Populismus kaum einhegen.

7. Wie dann?

Wenn dieser Weg wenig hilfreich aussieht, um auf die Herausforderung populistischen Protestes im Namen der Bedürfnisse zu reagieren („wir fordern ein Recht auf billiges Öl, billigen Diesel, billiges Fleisch, weil wir es brauchen““, „wir fordern Sicherheit vor Kriminalität und daher mehr Abschiebungen“ usw.), welches wäre dann eine angemessenere Reaktion? Eine solche verläuft über die eingangs beschriebene andere Kritikstrategie: nicht jeder Bezug auf natürliche Bedürfnisse wird problematisiert, sondern die konkrete Bezugnahme auf Bedürfnisse wird im Detail kritisiert, indem eine fallbezogene Alternative aufgewiesen wird. Hierfür ist genau diejenige Unterscheidung zwischen Natur und Kultur, zwischen fundamentalem Bedürfnis und historisch spezifischer Präferenz wichtig, die im kritisierten Ansatz eingezogen wird. Das gilt es kurz zu erläutern.

8. Bedürfnisse sind sozial geformt und natürlich bedingt

Die AutorInnen bezweifeln, dass ein Bedürfnis zugleich sozial geformt und natürlich sein kann – weil es sozial überformt sei, könne es nicht natürlich sein (es als „natürlich“, „faktisch“ oder „gegeben“ hinzustellen sei der Grundfehler, Thesen 1, 2, 4 etc., obwohl es gleichwohl eine natürliche Seite habe). Doch hier werden Abstraktionsebenen vermengt: die grundlegende Dimension der Rede über Bedürfnisse (These 3) liegt auf allgemeiner Ebene, es geht um Bedürfnisse nach Nahrung, Kleidung, Schutz vor Gewalt, Bewegungsfreiheit, Freundschaft, sinnvoller Betätigung, Kommunikation, Zugang zur Natur usw. Das gilt dem Anspruch nach für alle Menschen: solche Bedürfnisse sind langfristig unaufschiebbar und können nur unter großen Schäden an Leib und Seele vorenthalten werden. Sie können allerdings auf ganz unterschiedliche Weise ausgedrückt, erfüllt und damit „geformt“ werden. Diese führt zu großer empirischer Vielfalt: Verschiedene Gerichte können zubereitet und das Essen so oder so zelebriert werden, Freundschaften und sexuelle Beziehungen können so oder anders gelebt werden, das Sprechen mit dem Handy ist ebenso Kommunikation wie das Briefschreiben oder Flurfunk, das Autofahren ebenso Bewegung wie die Zugfahrt oder die Fahrradtour. Die sich stets wandelnde Bandbreite an Möglichkeiten der Erfüllung ändert nichts daran, dass es sich dabei – zumindest wo es um einklagbare Bedürfnisse geht – um fundamentale Bedürfnisse handelt. Deren Liste ist ja nicht in Stein gemeißelt: Warum sollte es nicht möglich sein, sich über solch basale Bedürfnisse zu verständigen? Gibt es denn Geist-Menschen, die nicht atmen, essen und begehren müssen?

9. Debatten drehen sich um die angemessenste Weise der Erfüllung von Bedürfnissen

Diese anthropologischen Annahmen sind auch für die Rechte vorausgesetzt, die wir uns bei allen kulturellen Differenzen wechselseitig zugestehen. Einen Diskurs darüber gibt es seit langem. Warum sollten wir die diversen Theorien, die hierzu artikuliert wurden, beiseite wischen? Gestritten werden kann und muss, welche Weise der Bedürfnisbefriedigung unter gegebenen historischen und sozialen Umständen die angemessene ist. Aber deswegen muss man das Recht auf Erfüllung von Grundbedürfnissen nicht in Abrede stellen. Das ist keineswegs inhaltlich dünn oder politisch bedeutungslos (wie These 3 unterstellt). Es sicherzustellen bedeutet vielmehr eine grundlegende Anerkennung („ich sehe deine Bedürfnisse und möchte ihnen entgegenkommen“). Erst auf dieser Grundlage beginnt der Streit, welches der angemessene Weg ist, dieses Bedürfnis zu erfüllen und damit zu „formen“. Eine Debatte über die Weisen unserer Bedürfniserfüllung und Möglichkeiten der Veränderung konkreter Präferenzen macht viel Sinn (deswegen ist der Diskussionsanstoß zu begrüßen); auch darüber, welche Bedürfnisse als grundlegend gelten können (muss man etwa eines nach „religiöser“ Betätigung unterstellen?). Doch eine Anerkenntnis der leibhaften Bedürfnisnatur ist damit keineswegs außer Kraft gesetzt, sondern immer schon vorausgesetzt.

10. Bedürfnisse und Präferenzen

Die Unterscheidung einer veränderbaren und pluralen Gestalt konkreter Präferenzen für bestimmte Dinge (Öl, Gas, Autos, Fleisch, Smartphones usw.) und ihrer naturalen Bedürfnisgrundlage hat einen präzisen kritischen Sinn: Einzelne Präferenzen lassen sich wirkungsvoll kritisieren, wenn man fragt, welches Grundbedürfnis damit gestillt werden soll. Fehlt ein solches Grundbedürfnis, hat die Präferenz (etwa für Privatjets) womöglich wenig Gewicht. Gibt es ein solches Grundbedürfnis, ist Politik nicht stillgestellt, sondern beginnt erst richtig (Politik hört ja keineswegs dort auf, wo Natur beginnt): Auf dieser Grundlage lassen sich nämlich Alternativen denken, die dasselbeBedürfnis erfüllen können, aber womöglich Vorteile aufweisen (statt dem Flieger gibt es die Bahn oder die Zoom-Konferenz; statt dem Faustkampf das Gespräch, statt der heißen Wurst das gefüllte Gemüse usw.). Sie können das Bedürfnis möglicherweise besser erfüllen und dabei weniger Schadenanrichten, bedürfen aber der Gewöhnung. Darüber lohnen sich Diskurse, und in genau diese Richtung gehen die Debatten um die Verkehrswende, Energiewende, Agrarwende usw bereits.

11. Natur und Kritik

Die hier vorgeschlagene „Kritik der Bedürfnisse“ stellt natürliche Bedürfnisse nicht in Abrede, sondern diskutiert die Weisen ihren besten und fairsten Erfüllung. Damit steht sie in einer langen Tradition kritisch-naturalistischen Denkens (von Rousseau und Marx über Marcuse und Dewey bis zu Nussbaum und Vandana Shiva), die man nicht abschneiden muss, um gegenüber drängenden Problemen eine kritische Distanz einzunehmen.


[1] Diese Replik entstand im Zusammenhang mit der gemeinsamen Replik eines Darmstädter Teams (Katharina Liesenberg, Luca Hemmerich, Dirk Jörke), das für hier artikulierte Punkte nicht in Mithaftung zu nehmen ist.