Aktualität und Wahrheit – oder: Von Marx zu Hegel. Eine spekulative Anamnesis , Teil I

von Gregor Schäfer (Basel)

Wir bringen diesen zweiteiligen Beitrag verspätet zum Marx Jubiläum, da er uns auf Grund eines technischen Gebrechens erst jetzt erreicht hat, obwohl er schon vor einem halben Jahr fertig gestellt wurde. Der zweite Teil erscheint in zwei Wochen.


I.

Die Frage nach der Aktualität des Marxismus fokussiert sich in der öffentlichen Diskussion, die das zufällig-historische Faktum des 200. Geburtstags von Karl Marx zu ihrem Anlass nimmt, in der einen oder anderen Weise zumeist darauf, ob er «uns» «heute» noch etwas zu sagen habe. Spezifischer: welche seiner Theorieteile, Subtheorien oder praktischen Forderungen und Programme noch aktuell seien. Je nach dem mögen die Antworten hierauf lauten, der Marxismus sei – wie ohnehin längst bekannt – überholt. Oder aber – in einer Einstellung kritischerer Offenheit – er liefere nach wie vor taugliche Instrumente, die es hinsichtlich ihrer deskriptiv-phänomenologischen Adäquatheit, ihrer analytisch-explanativen Fruchtbarkeit oder ihres kritischen Potentials im Blick auf Erscheinungen und Symptome der späten Moderne neu zu entdecken und zu würdigen gälte. Die Aktualität der Marxschen Kapital-Analyse vermag zumal angesichts der seit 2007 jäh ins allgemeine Bewusstsein eingebrochenen Entwicklung der Finanzmärkte, über engere orthodoxe Zirkel hinaus, in den Feuilletons der großen Zeitungen wieder auf breite öffentliche Resonanz zu stoßen.[i]

Allein, wozu wird diese Diskussion geführt? Welches «Uns» adressiert sie und welches «Heute» nimmt sie in den Blick? Anhand welcher Evidenz lässt sich beurteilen, welcher Anpassungen, welcher «Revision(en)» die Marxsche Theorie (allenfalls) bedürfte, um gegenwärtig – und für welche «Gegenwart» – noch etwas Verbindliches zu sagen zu haben? Aus welcher Subjekt-Position, aus welchem Wahrheitsbezug heraus evidiert eine solche Evidenz? Welche Perspektive nimmt hierbei für sich in Anspruch, das, was wie selbstverständlich als «selbstverständlich» gilt, zu repräsentieren? Nach welchem Maß bemisst sich eine solche Angemessenheit oder Unangemessenheit? Welcher Maßstab bemisst die Zeitgemässheit oder Unzeitgemässheit des Marxismus – und was steht mit dem Un- seiner allfälligen Unzeitgemässheit auf dem Spiel? Wenn Marx – um Terry Eagletons[ii] prägnanten Buchtitel zu zitieren – recht hatte: Aus welcher Perspektive, in welchem Horizont hatte er recht und für wen?

Die Frage nach der Aktualität des Marxismus erweist sich mithin als durchaus problematisch. Eine der impliziten, von ihr nicht eigens thematisierten, doch sie von vornherein tragenden Voraussetzungen lautet, dass der Marxismus eine – in einem damit zugleich vorausgesetzten historisch-chronologischen Kontinuum – abgeschlossene und vergangene Gestalt ist. In Bezug auf diese könnten «wir» dann sinnvoll die Frage stellen, welche Relevanz sie für «uns» allenfalls noch haben möchte. Indem diese Frage nach der Relevanz des Marxismus für «uns» fragt, nimmt sie ohne weitere Besinnung «unsere» Gegenwart zum Kriterium, nach dem ein großes revolutionäres Ereignis der Geschichte – bei dem es sich beim Marxismus zweifelsohne handelt – zu beurteilen ist. Wie Adorno es indes bei Gelegenheit des 125. Todestages Hegels im Blick auf die Aktualität von dessen Philosophie zu bedenken gibt, handelt es sich bei dem Gestus der anlässlich eines Jahrestags vollzogenen Würdigung in Wahrheit um eine Anmaßung. Sie nimmt – sich des fragwürdigen biologischen Privilegs des Spätergeborenseins bedienend – ohne Weiteres ihre eigene unmittelbare Gegenwart zum Maßstab der Beurteilung. In Fragen der Art, so Adorno hiergegen einwendend, «was an […] Hegel der Gegenwart etwas bedeute […], klingt diese Anmaßung mit. Nicht wird die umgekehrte Frage auch nur aufgeworfen, was die Gegenwart vor Hegel bedeutet […]. […] Sie verfehlen vorweg den Ernst und das Verpflichtende von Hegels Philosophie […]. Will man nicht mit dem ersten Wort von ihm abprallen, so muß man, wie unzulänglich auch immer, dem Wahrheitsanspruch seiner Philosophie sich stellen, anstatt sie bloß von oben und darum von unten her zu bereden.»[iii]

Der damit angesprochene Wahrheitsanspruch der Hegelschen Philosophie nun aber ist für die systematische Konstitution und praktische Vollzugsform des Marxismus schlechthin bestimmend. Dieser innere Zusammenhang vermag aus der programmatischen Einforderung einer «Verwirklichung der Philosophie» im und als der Vollzug der revolutionären Praxis des Proletariats zu erhellen, wie der junge Marx sie formuliert. Demnach gilt: «Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.»[iv] Im Vollzug dieser Verwirklichung werden Theorie und Praxis identisch: Philosophie wird diesem Anspruch nach als Philosophie zur Praxis. Spekulatives Denken muss sich, ohne dass es hierbei «an Reinheit […] und Wahrheit etwas einbüßt»,[v] als reale Kraft, als Handlung vollziehen. In der Konfiguration einer «Verwirklichung der Philosophie» weist der Hegelsche Idealismus – kraft seines eigenen Wahrheitsgehalts – über sich selbst hinaus. Indem der Marxismus den Anspruch erhebt, die Philosophie zu verwirklichen, ersetzt er den Hegelschen Idealismus nicht, wie es in den offiziellen Ideologien der sozialistischen Staaten sich etablierte, durch eine «materialistische Philosophie», die als solche, wie alle Philosophie,[vi] als Philosophie ohnehin Idealismus bleibt – dies in der Gestalt eines «Materialismus» aber unbewusst, mithin unphilosophisch.[vii] Als «Verwirklichung der Philosophie» artikuliert der Marxismus vielmehr «ein Wahrheitsmoment am Idealismus»[viii] selbst, dessen Umschlag in Praxis diesem versagt wird, sofern er bloße Theorie bleibt. «Der verwirklichte Materialismus», so gibt Adorno zu bedenken, «wäre heute das Ende des Materialismus, der blinden und menschenunwürdigen Abhängigkeit der Menschen von den materiellen Verhältnissen.»[ix]

Soll nach der Aktualität des Marxismus gefragt werden, so muss vor diesem Hintergrund, damit in eins, nach dem Wahrheitsanspruch der Hegelschen Philosophie gefragt werden. Im Zusammenhang dieses Wahrheitsanspruchs ist die Frage nach der Aktualität – einer spezifischen Aktualität – des Marxismus diesem nicht äußerlich. Sie erschliesst sich vielmehr als dessen inneres Erfordernis.

II.

Die Hegelsche Philosophie gibt den starken Wahrheitsanspruch der klassischen metaphysisch-theologischen Tradition nicht preis, sondern hält an ihm im geschichtlichen Moment seiner Krisis durchaus gerade fest: Erscheint es Hegel doch als ein «sonderbare[s] Schauspiel […], ein gebildetes Volk ohne Metaphysik zu sehen, – wie einen sonst mannigfaltig ausgeschmückten Tempel ohne Allerheiligstes.»[x] Um an diesem Anspruch in der Moderne aber verbindlich festhalten zu können, muss sie ihn zugleich transformieren – in Hegels Sprache: Sie muss ihn spekulativ aufheben. Und damit gilt zugleich: Nur gerade durch diese spekulative Aufhebung kann für Hegel der spezifische emanzipatorische Anspruch auf Befreiung, wie die Moderne ihn unbedingt geltend macht, wahrhaft eingeholt und begründet werden. Was Hegel als Idee denkt, ist keine bloße Idee: Dem Hegelschen Idealismus ist das Erfordernis seiner eigenen Realisierung immanent; er weist, als Idealismus, über eine theoretische Einkapselung, die ihn zur bloßen Philosophie macht, hinaus. Metaphysik muss in Hegels spekulativer Logik politisch werden, ihre Wahrheit muss sich konkretisieren, um ganze Wahrheit zu sein: «[D]ie Hegelsche Logik ist seine Metaphysik nicht bloß sondern auch seine Politik».[xi] Das «Reich Gottes» muss und soll sich als «Reich der Freiheit» realisieren: «‘Mein Reich ist nicht von dieser Welt’; aber die Realisierung hat weltlich werden müssen und sollen.»[xii] Indem metaphysische Wahrheit sich aber als politische Freiheit realisiert, schreibt sie, damit in eins, in die bestehende Wirklichkeit eine Sprengkraft ein, die diese revolutioniert. Die «erste ewige Idee selbst» wird hiermit zur politischen Gegenwart, wie sie sich im Ereignis der Französischen Revolution als einer singulären Universalität[xiii] manifestiert. In der Revolution schlägt die Allgemeinheit des Begriffs, die sich selbst überlassen ohnmächtiges abstraktes Ideal bliebe, in die Singularität der Tathandlung um, in der, «was als Tun des Ganzen auftritt, das unmittelbare und bewußte Tun eines Jeden ist.»[xiv] Sie macht sich hier als der emanzipatorische Anspruch auf die Begründung einer Sittlichkeit geltend, in der sich die «Konstituierung des Allgemeinen in der Vermittlung des Einzelnen mit den anderen Einzelnen, in der Vermittlung des ‘Ich’ zum ‘Wir’ und in der Reflexion-in-sich, die das Einzelne als Allgemeines zum Begriff bringt»,[xv] vollzieht. «Alle denkenden Wesen», so bemerkt Hegel im Blick auf die universelle Strahlkraft der Revolution, deren Ereignis die geistige Signatur der Moderne markiert, emphatisch, «haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Wirklichkeit durchschauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen.»[xvi]

Der damit infrage stehende spekulative Wahrheitsgehalt trägt in sich konstitutiv einen «Zeitkern». Dieser löst Wahrheit weder, im Sinne der Position irgendeines Relativismus (wie derjenigen eines Historismus, eines wissenssoziologischen oder ökonomistischen Reduktionismus), einfach widerstandslos auf. Noch auch stellt er sie, im Sinne vormaliger Metaphysik, abstrakt über die Zeit und den gesellschaftlich-geschichtlichen Gesamtzusammenhang. «Die Hegelsche Wahrheit», so Adorno entsprechend, «ist weder mehr, wie die nominalistische […], in der Zeit, noch nach ontologischer Manier über der Zeit: Zeit wird für Hegel ein Moment von ihr selber. Wahrheit, als Prozeß, ist ein ‘Durchlaufen aller Momente’ im Gegensatz zum ‘widerspruchslosen Satz’ und hat als solche einen Zeitkern.»[xvii] Das spekulative Denken, wie es sich hiermit vom ‘widerspruchslosen’ der Verstandeslogik abhebt, bestimmt sich durch eine Bewegung, die in sich Immanenz und Transzendenz verschränkt. Nach seinem Anspruch lässt sich die Wahrheit auf keine endliche – als solche abstrakt bleibende – Bestimmung reduzieren und an ihr festmachen: «Die Denkbestimmungen, so wie sie sich unmittelbar, vereinzelt vorfinden, sind endliche Bestimmungen. Das Wahre aber ist das in sich Unendliche, welches durch Endliches sich nicht ausdrücken und zum Bewußtsein bringen läßt.»[xviii] Das Wahre, das nach der bekannten Formel aus der Phänomenologie des Geistes das Ganze ist – «das Ganze der Bewegung», in dem allein erst alle einzelnen Bestimmungen «Halt und Unterscheidung haben» –,[xix] muss durch alle endlichen Bestimmungen hindurchgehen. Erst so erlangt es seine Konkretion. Seine Transzendenz über das Endliche ist mithin zugleich eine immanente: Sie übersteigt das Endliche nicht als eine «äußerliche Erhebung», sondern als «immanente[s] Hinausgehen».[xx]    Wahrheit und Zeit, Absolutes und Geschichte erfahren in dieser Konstellation eine komplexe innere Verschränkung. Die Geschichte, die sich damit eröffnet, ist eine intrinsisch revolutionäre: Sie kann, nach dem Maßstab ihrer systematischen Grundlegung, bei keiner einzelnen partikularen Stufe (wie etwa dem Preussischen Staat) stehenbleiben. Alles Endliche muss in ihr untergehen, um dem Aufgang von etwas Neuem Platz zu machen. Doch sie ist damit zugleich auch nicht – nach «der gewöhnlichen Vorstellung» eines «Hinaus und Immer-weiter-Hinaus» –[xxi] als die schlechte Unendlichkeit, ein historistischer Relativismus, wonach alles Einzelne – gleichgültig – einfach so untergeht, aufzufassen. In ihr ereignen sich, in den entscheidenden revolutionären Augenblicken, Sprünge, Durchbrüche zur Parusie des Ewigen in der Zeit – «diskontinuierliche[] ‘Seinsaugenblicke’», «epochale[] Epiphanien»[xxii] des absoluten Geistes. In diesen Augenblicken findet die Geschichte zwar kein eschatologisches Ende. Doch in ihnen haben die in der Geschichte Handelnden und Denkenden am Absoluten teil – nicht so sehr, indem sie die Wahrheit besitzen (was Hegel für endliche geschichtliche Wesen mit Bedacht gerade ausschließt),[xxiii] sondern indem sie an deren Schwelle stehen, die als solche jenen «Aufgang» ankündigt, «der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt.»[xxiv] Die Zeit dieser Schwelle ist die Zeit der Revolution: In ihr erfahren die geschichtlich Handelnden und Denkenden die Gegenwart des Ewigen inmitten der Zeit. Die Stimmung der Subjekte, die an diesem Augenblick teilhaben, ist – wie Maurice Merleau Ponty es für den Marxismus geltend macht – «die Überzeugung, nicht in der Wahrheit zu sein, aber an der Schwelle der Wahrheit, die zugleich ganz nahe ist, angekündigt durch die ganze Vergangenheit und die ganze Gegenwart, und in der unendlichen Distanz einer Zukunft, die hergestellt werden muß.»[xxv] Hegel nennt diese Zeit «konkrete Gegenwart»; sie ist, «das Resultat der Vergangenheit» und «trächtig von der Zukunft», als «wahrhafte Gegenwart […] die Ewigkeit».[xxvi] Diese Ewigkeit kann nicht «als die Abstraktion von der Zeit» aufgefasst werden – so als ob «sie außerhalb derselben gleichsam existiere» oder «als ob die Ewigkeit nach der Zeit komme».[xxvii] Indem sie in die Zeit einsteht, unterbricht sie den Fluss, die Evolution einer bloß natürlichen Zeit, in der nichts wahrhaft Neues geschieht. Indem sie das quantitative Kontinuum chronologischer Zeit qualitativ durchbricht, bringt sie jenen wahrhaft revolutionären καιρός hervor, dessen «Gunst» die in ihm Denkenden und Handelnden diese am «Moment der Entscheidung», am «Moment der Geburt des Neuen» teilhaben lässt.[xxviii] Im «konkreten Hier und Jetzt» dieses seltenen Augenblicks erst wird die Gegenwart für den Menschen «zu seiner Gegenwart» und kann er «die konkrete Wahrheit der Gegenwart sehen».[xxix] In diesem Augenblick ist «die Welt oder die zukünftige Ewigkeit nicht etwas […], auf das man zu warten hat, sondern vielmehr etwas, das realisiert, erfüllt werden muß».[xxx]

In dieser Gegenwart partizipieren «wir» am Absoluten, ohne hierbei indes den Anspruch erheben zu können, es sei je schon ganz erfüllt. Dies meint offenkundig nicht, dass «wir» hier – abstrakt – aus «unserer» partikularen, unmittelbar gegebenen Gegenwart einfach hinaussprängen. Eine solche bloße Utopie lehnt Hegel entschieden ab. Der Sprung zum Neuen ereignet sich hier vielmehr gerade aus einer innerweltlichen Perspektive heraus – aus einer Perspektive des Denkens und Handelns heraus, die über ihre Zeit nicht deshalb hinaus ist, weil sie mit ihr – in einem abstrakten Sinne – nichts zu tun hätte, sondern weil sie sich aus der Immanenz dieser Zeit heraus eröffnet; aus einer Perspektive des Denkens und Handelns heraus, die, indem sie inmitten ihrer Zeit situiert ist, in den bestehenden Verhältnissen dieser Zeit konstitutiv keinen Platz hat; aus einer Perspektive des Denkens und Handelns heraus, die, indem sie immanent ist, transzendent ist. Hegels Philosophie kann und will nicht den Anspruch erheben, sich über ihre Zeit abstrakt zu erheben. Ihr obliegt es vielmehr gerade emphatisch, ihre eigene Zeit in Gedanken zu erfassen: Denn nur indem sie «ihre Zeit in Gedanken erfaßt»,[xxxi] kann sie zu mehr werden als einer unverbindlichen abstrakten Utopie, einem leeren Sollen, das angesichts der Objektivität der bestehenden Realität spurlos verpuffte. Zur wirklichen Gegenwart – zur konkreten Aktualität – kann die damit infrage stehende Revolution nur werden, indem sie, nach Maßgabe spekulativen Denkens, immanent und transzendent in eins ist: Indem spekulatives Denken seine Zeit in Gedanken erfasst, erkennt es «in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist».[xxxii] Spekulatives Denken lässt damit jenen – unsichtbaren, verschwindenden – Punkt aus seiner Gegenwart heraustreten und sich manifestieren, aus dem heraus sich in dieser Gegenwart der Sprung, der das Bestehende wirklich zu transzendieren vermag, vollzieht: «Hic Rhodus, hic saltus».[xxxiii] Indem sich jener unsichtbare, verschwindende Punkt artikuliert, vollzieht er – aus der Immanenz seiner Zeit heraus – einen Sprung, der seine partikulare Gegenwart und ihre (sozio-ökonomischen, historischen) Bedingungen zu überspringen vermag. Dieser Punkt ist inmitten seiner Zeit per se ein unsichtbarer und verschwindender: Er steht im Zeichen nicht der Fülle, sondern der Leere – im Zeichen absoluter Negativität, die als solche in keinem bloß Bestehenden ihren Platz finden kann und die, inmitten dieses Bestehenden, eben deshalb revolutionär – d.h. Subjekt – ist. Im Vollzug seiner Artikulation macht dieser Punkt im Bestehenden einen in diesem unversöhnbaren, unheilbaren Riss sichtbar.

Mit dieser Unversöhnbarkeit steht spekulatives Denken – das als solches seine Versöhnung paradox gerade nur darin findet, die Rose im Kreuze [Hervorhebung G.S.] der Gegenwart zu erkennen» –,[xxxiv] noch vor jeder oberflächlichen Parteinahme, innerlich im Bunde.


Gregor Schäfer arbeitet zurzeit an der Universität Basel an der Fertigstellung seiner Dissertation zu Hegels Konzept der absoluten Idee in ihrem Zusammenhang mit der Philosophie des Geistes. Er forscht und publiziert insbesondere zum Deutschen Idealismus (Hegel, Fichte, Schelling), zu Fragestellungen der Metaphysik, politischen Philosophie, Religionsphilosophie und Ästhetik. Zu Marx und zum Marxismus ist von ihm zuletzt erschienen: «Das Proletariat gibt es nicht… Prolegomena zu einer Wahrheitspolitik nach Marx». In: Matthias Bohlender/Anna-Sophie Schönfelder/Matthias Spekker (Hgg.): «Kritik im Handgemenge». Die Marx’sche Gesellschaftskritik als politischer Einsatz. Bielefeld 2018, 303-331; «Von der Revolution zur neuen Ordnung. Aspekte eines Problemzusammenhangs bei Hegel, Lukács und Hacks». In: Hacks Jahrbuch 2018. Berlin 2018, 17-67. Die hier skizzierten Überlegungen entstammen systematischen Zusammenhängen, wie der Autor sie in verschiedenen Arbeiten zu Hegel und dessen Wirkungsgeschichte publiziert hat oder zur Publikation vorbereitet.


[i] Siehe, anstelle vieler Beispiele, etwa den Kommentar in der FAZ von Rainer Hank «Marx hat recht» oder «Marx Rises Again» von Ross Douthat in der NYT.

[ii] Vgl. Terry Eagleton: Why Marx Was Right. New Haven/London 2011.

[iii] Theodor W. Adorno: DreiStudien zu Hegel. In: Gesammelte Schriften. Bd. 5. Frankfurt a.M. 1970, 251.

[iv] Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: MEW, Bd. 1, 391.

[v] Georg Lukács: Taktik und Ethik. In: Georg Lukács Werke. Bd. 2. Neuwied 1968, 57.

[vi] Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik I. In: Werke in zwanzig Bänden. Bd. 5. Frankfurt a.M. 1969, 172: «Jede Philosophie ist wesentlich Idealismus oder hat denselben wenigstens zu ihrem Prinzip, und die Frage ist dann nur, inwiefern dasselbe wirklich durchgeführt ist. Die Philosophie ist es sosehr als die Religion; denn die Religion anerkennt die Endlichkeit ebensowenig als ein wahrhaftes Sein, als ein Letztes, Absolutes, oder als ein Nicht-Gesetztes, Unerschaffenes, Ewiges. Der Gegensatz von idealistischer und realistischer Philosophie ist daher ohne Bedeutung. Eine Philosophie, welche dem endlichen Dasein als solchem wahrhaftes, letztes, absolutes Sein zuschriebe, verdiente den Namen Philosophie nicht […].»

[vii] Ein – angesichts seiner ungebrochen marxistischen Grundhaltung – auffälliges, ja überraschendes Gegenbeispiel hierzu findet man in Hans Heinz Holz: Weltentwurf und Reflexion. Versucheiner Grundlegung der Dialektik. Stuttgart/Weimar 2005. Holz konzediert, dass, sofern der Marxismus die Begründungsfrage ernst nimmt, er sich notwendig der spekulativ-metaphysischen und (objektiv-)idealistischen Tradition annehmen muss. Der von Holz vertretene «Materialismus» versteht sich angesichts dessen – konstitutiv – als eine spekulative «Umkehrung» des Idealismus; seine Begründung vollzieht sich – notwendig – intentione obliqua. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich überhaupt, dass gehaltvolle marxistische Konzeptionen, wie diejenigen Lukács’ oder Gramscis, in Wahrheit von einer objektiv-idealistischen Substanz zehren – zugespitzt: Was an ihnen geistvoll ist, ist ein Abglanz Platons und Hegels, des unsterblichen metaphysischen Erbes, das in ihnen überwintert und aus ihnen, inmitten «nachmetaphysischer» Zeiten, entziffert werden muss.

[viii] Theodor W. Adorno: «Wozu noch Philosophie». In: Gesammelte Schriften. Bd. 10.2. Frankfurt a.M. 1977, 459-473, hier: 471.

[ix] Ebd.

[x] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik I. A.a.O., 14.

[xi] Theodor W. Adorno: Drei Studien zu Hegel. A.a.O., 330.

[xii] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II. In: Werke in zwanzig Bänden. Bd. 19. Frankfurt a.M. 1971, 501.

[xiii] Vgl. zur Bewandtnis dieser Bestimmung im Blick auf den Begriff der Moderne Fredric Jameson: A Singular Modernity. Essay on the Ontology of the Present. London/New York 2002.

[xiv] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. In: Werke in zwanzig Bänden. Bd. 3. Frankfurt a.M. 1970, 433.

[xv] Hans Heinz Holz: «Hegels Begriff der Freiheit als logische Vermittlung von Einzelnem und Allgemeinem und als reale historische Vermittlung von Individuum und Gemeinschaft im System der Bedürfnisse.» In: ders.: Die Algebra der Revolution. Von Hegel zu Marx (= Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie. Bd. 1). Berlin 2010, 157.

[xvi] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. In: Werke in zwanzig Bänden. Bd. 12. Frankfurt a.M. 1970, 529.

[xvii] Theodor W. Adorno: DreiStudien zu Hegel. A.a.O., 284.

[xviii] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I. In: Werke in zwanzig Bänden. Bd. 8. Frankfurt a.M. 1970, §28, Zus.

[xix] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. A.a.O., 424.

[xx] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I. A.a.O., §81.

[xxi] Ebd., §28, Zus.

[xxii] Remo Bodei: Dekompositionen. Formen des modernen Individuums. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, 332.

[xxiii] Im Blick auf die totalitäre Erfahrung des 20. Jahrhunderts erweist sich Hegels Realphilosophie auch insofern als durchaus wegweisend. Eine «Avantgarde», wie sie mit Hegel weiterzudenken wäre, zeichnet sich konstitutiv nicht durch die Anmaßung eines substantiellen Wissens aus. Wie in Pasolinis Parabel vom Raben läge ihr Sinn – lakonisch – einzig in ihrer absoluten Negativität, im Vollzug ihres Verschwindens, ihrer Absorption. Wie der späte Lukács es zu bedenken gibt, ist die Annahme, die Wahrheit falle in das zufällige Individuum eines Generalsekretärs, verheerend. Hegels – gewiss historische – rechtsphilosophische Lehre des Monarchen zeichnet sich einer solchen Anmaßung gegenüber nachgerade durch ihre Bescheidenheit aus: Der per se kontingenten Figur des Hegelschen Monarchen kommt es bekanntlich lediglich zu, den Punk auf das I zu setzen.

[xxiv] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. A.a.O., 19.

[xxv] Maurice Merleau-Ponty: Die Abenteuer der Dialektik. Frankfurt a.M. 1974, 66.

[xxvi] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II. In: Werke in zwanzig Bänden. Bd. 9. Frankfurt a.M. 1978, §259, Zus.

[xxvii] Ebd., §258 A.

[xxviii] Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik. In: Georg Lukács Werke. Bd. 2. Neuwied 1968, 502, 392.

[xxix] Ebd., 392,

[xxx] Remo Bodei: Dekompositionen. Formen des modernen Individuums. A.a.O., 302.

[xxxi] Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts. In: Werke in zwanzig Bänden. Bd. 7. Frankfurt a.M., 26.

[xxxii] Ebd., 25.

[xxxiii] Ebd., 26.

[xxxiv] Ebd.