Marx’ naturalistischer Materialismus. Eine Replik auf Kurt Bayertz
von Urs Lindner (Erfurt)
In denjenigen Teilen der Sozial- und Kulturwissenschaften, die sich als kritisch verstehen, hat in den letzten Jahren ein erstaunlicher Wandel stattgefunden. Wo Poststrukturalismus und Sozialkonstruktivismus über mehrere Jahrzehnte dominierten, wollen viele Autor*innen nun auf einmal ‚materialistisch’ sein. Das Versprechen, dieses Bedürfnis zu befriedigen, liefern eine Reihe ‚neuer’ Materialismen und Realismen: sei es der ‚agentielle Realismus’ von Karen Barad, der eigentlich ein Phänomenalismus im Gefolge von Berkeley und Mach ist; sei es der deuleuzianische Assemblagen-Realismus von Manuel DeLanda; seien es die feministischen Vitalismen von Jane Bennett und Elizabeth Grosz; sei es Quentin Meillassouxs rationalistisch-materialistische Kritik an Kants ‚Korrelationismus’ oder Graham Harmans Dingontologie etc.pp. Was alle diese ‚neuen’ Ansätze gemeinsam haben, ist zweierlei: 1) Sie übergehen – mit Ausnahme von DeLanda[1] – das humangeschichtlich Soziale als emergente Realitätsebene. 2) Sie wissen nicht so recht, was sie mit Marx uns seinem Materialismus anfangen sollen, der 1845 in den Thesen über Feuerbach ja auch als ‚neuer’ Materialismus angetreten war.
Vor diesem Hintergrund ist es außerordentlich verdienstvoll, dass Kurt Bayertz sowohl auf diesem Blog als auch in Buchlänge[2] den Versuch unternommen hat, die differentia specifica des marxschen Materialismus herauszuarbeiten. Umso erstaunlicher ist es allerdings, dass er die Diskussion um die ‚neuen’ Materialismen/Realismen komplett ignoriert – eine Nichtbeachtung, die sich auch auf seine eigene Position auswirkt. Bayertz Rekonstruktion des marxschen Materialismus lässt sich in drei Thesen zusammenfassen: 1) Marx hat dem humangeschichtlich Sozialen ein derartiges Gewicht beigemessen, dass es angezeigt ist, seinen Materialismus als ‚nicht-naturalistisch’ zu qualifizieren. 2) Marx hat auf dieser Grundlage eine relationale Sozialontologie entwickelt. 3)a) Bei Marx findet sich nach 1845 eine relativ kohärente philosophische Sichtweise, die Sozialontologie, Gesellschaftstheorie und Geschichtsphilosophie umfasst und sinnvollerweise als ‚Historischer Materialismus’ bezeichnet werden kann; b) diesen ‚Historischen Materialismus’ hat Marx – mit kleineren Abwandlungen – in seinen wissenschaftlichen Arbeiten ‚angewandt’, mit der Konsequenz dass „sich die ökonomische Theorie von Marx als eine Fortsetzung des Historischen Materialismus mit anderen, wissenschaftlichen Mitteln [erweist]“ (78). So elaboriert und instruktiv Bayertz’ Ausführungen im Einzelnen sind, ich halte seine drei zentralen Thesen für überaus fragwürdig. Im Folgenden werde ich daher eine andere Lesart des marxschen Materialismus skizzieren, die zugleich andeutet, worin sich dieser Ansatz (von den meisten) ‚neuen’ Materialismen und Realismen wie auch den heute gängigen Sozialontologien unterscheidet.
Naturalismus und Materialismus
Bayertz beginnt sein Buch mit dem sehr sinnvollen Vorschlag, über den Materialismus nicht en bloc zu sprechen, sondern ihn hinsichtlich Ontologie, Epistemologie und Ethik auszudifferenzieren: Je nachdem, welche Perspektive angelegt wird, kann Materialismus sehr Unterschiedliches bedeuten. Dasselbe lässt sich contra Bayertz allerdings auch vom Naturalismus sagen: In der Ontologie meint Naturalismus die Annahme, dass es keine außerhalb oder über der Natur stehenden Entitäten gibt; epistemologisch soll die Philosophie auf eine Orientierung an den Wissenschaften verpflichtet werden; in der Ethik werden mit diesem Term vor allem evolutionstheoretische und neo-aristotelische Ansätze bezeichnet.[3] Schon hier wird deutlich, dass es durchaus plausibel sein könnte, den marxschen Materialismus als ‚naturalistisch’ zu qualifizieren. Während in Ethikdiskussionen Materialismus zumeist nur ein anderes Wort für Utilitarismus ist, hat Marx seit seinem Abituraufsatz dem Neo-Aristotelismus bzw. einer perfektionistisch angelegten normativen Anthropologie gehuldigt. Siehe die ganze Rede von ‚Entfaltung’, die sich wie ein roter Faden durch sein Werk hindurch zieht.
Bayertz’ These vom nicht-naturalistischen Materialismus bei Marx bewegt sich allerdings auf dem Terrain der Ontologie. Zunächst ein terminologischer Vorbehalt. Zumindest nach meinem Verständnis philosophischer Redegewohnheiten ist der Materialismus ontologisch gesehen eine Variante des Naturalismus: Die Annahme, dass es keine übernatürlichen Entitäten gibt, lässt sich entweder spiritualistisch oder eben materialistisch ausbuchstabieren. Sprich, ein ‚nicht-naturalistischer Materialismus’ ist eine contradictio in adjecto. Aber ich will mich hier nicht um Worte zanken oder anderen vorschreiben, wie sie philosophische label zu verwenden haben. Der entscheidende Einsatz der These vom nicht-naturalistischen Materialismus ist ein sachlicher: Für Bayertz scheint die einzig gangbare philosophische Alternative zu einem reduktiven Naturalismus/Materialismus darin zu bestehen, (erneut) einen Dualismus von Natur und Kultur einzuführen: „Philosophisch entscheidend ist […], dass der Naturalismus eine zentrale Differenz zwischen Natur und Gesellschaft unterschlägt: Soziale Phänomene sind von Menschen erzeugt. […] Die Produktionsverhältnisse sind also das Produkt menschlichen Handelns und in diesem Sinne <Kultur> anstatt Natur.“ (110)
Nun ist die Rede von Natur im marxschen Werk einigermaßen vertrackt. Nach 1845 (die Pariser Manuskripte mit ihrem schellingianischen ‚Naturalismus’ sind nochmals ein anderer Fall) lassen sich zwei Vokabulare unterscheiden: Einerseits äußert sich Marx entschieden naturalistisch, wenn er vom Menschen/dem Produzenten als ‚Naturwesen’ spricht, das mit der, wie es in der Deutschen Ideologie heißt, „übrigen Natur“ (MEW 3, 20) interagiert. Andererseits wendet sich Marx vehement gegen Naturalisierungen, die soziale Verhältnisse enthistorisieren, wenn er z.B. im Kapital betont, dass in den Wert „kein Atom Naturstoff“ (MEW 23, 629) eingeht. Teil dieses vermeintlich nicht-naturalistischen Vokabulars ist eine Kritik an ‚Naturwüchsigkeit’, d.h. dass soziale Makrostrukturen ‚blind’ vor sich hin evoluieren, anstatt demokratisch gesteuert zu werden.
Offensichtlich gibt es zwischen beiden Vokabularen eine Spannung, die Bayertz allerdings gar nicht erst thematisiert. Für die Interpretation besteht hier folgende Alternative: Entweder werden Marx grundlegende Inkohärenzen attestiert; oder, was ich für plausibler halte, seine ‚Entnaturalisierungen’ werden als abkürzende Redeweisen für unterschiedliche Zeitlichkeiten verstanden: Die spezifischen sozialen Verhältnisse und Mechanismen des Kapitalismus haben eine deutlich kürzere Dauer als biologische Prozesse. Sie stehen deswegen jedoch keineswegs außerhalb der Natur genauso wenig wie die Menschen, wenn sie anfangen ihre Lebensumstände demokratisch zu gestalten.[4]
In der Materialismus-Diskussion, wie sie außerhalb des philosophischen mainstream geführt wird, sind das alte Hüte. Autoren wie Mario Bunge oder Roy Bhaskar haben schon vor Jahrzehnten gegenüber der Alternative von reduktivem Materialismus und Dualismus einen dritten Weg eingeschlagen, den sie als Emergentismus bzw. Emergenzmaterialismus bezeichnen.[5] Gemeint ist damit, dass höherstufige Entitäten wie menschliche Gesellschaften gegenüber den ihnen zugrundeliegenden biologischen Prozessen ontologisch irreduzible Eigenschaften aufweisen; sie bleiben jedoch von diesen fundamental abhängig und sind in diesem Sinn Teil von Natur. Es ist erstaunlich, dass Bayertz den Emergentismus als Möglichkeit, das Verhältnis der Menschen und ihrer Gesellschaften zur übrigen Natur zu denken, nicht in Betracht zieht – und das obwohl er den Emergenzbegriff verwendet (111f.), um das Verhältnis zwischen Individuen und ökonomischen Strukturen zu fassen! Meiner Meinung nach liegt das Neuartige des marxschen Materialismus gerade nicht darin, angesichts der reduktiven materialistischen Tradition in einen Dualismus von Natur und Kultur zu verfallen, sondern die Sozialität von Menschen emergentistisch als irreduzible Ebene von Natur zu profilieren. Sein naturalistischer Emergenzmaterialismus ist damit auch ein interessanter Gegenpol zu den gegenwärtigen ‚neuen’ Materialismen/Realismen, die auf den ‚modernen’ Dualismus von Natur und Kultur zumeist mit ‚flachen’ Ontologien reagieren, die keine qualitativen Unterschiede mehr zwischen verschiedenen Typen von Entitäten zulassen.
Marx’ nicht-konflationistische Sozialontologie
Laut Bayertz hat Marx eine „relationale Sozialontologie“ (113f.) entwickelt, was bedeutet, dass Relationen/Strukturen für ihn die primären ‚Bausteine’ menschlicher Sozialität sind. Bayertz stützt sich dabei auf eine Sentenz aus den Grundrissen, in der es heißt: „Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehen.“ (MEW 42, 189) Was jedoch, wenn dieser Ausspruch wörtlich genommen weder dazu geeignet wäre, die marxsche Position zu rekonstruieren noch eine materialistische Sozialontologie zu begründen?
Marx will an dieser und an anderen Stellen sagen, dass soziale Entitäten Eigenschaften aufweisen, die sich nicht auf ihre Bestandteile, seien es Individuen, Artefakte oder andere soziale Entitäten, reduzieren lassen. Vielmehr kommen solche ‚emergenten’ Eigenschaften dadurch zustande, dass soziale Entitäten ihre Bestandteile auf eine bestimmte Weise relationieren, wodurch auch die Bestandteile (relationale) Eigenschaften annehmen, die sie für sich genommen nicht haben (‚downward causation’ in der Sprache der gegenwärtigen Wissenschaftstheorie). Damit ist gerade nicht gestützt, was Bayertz mit der These von der relationalen Sozialontologie nahelegt: dass Relationen/Strukturen für Marx die primären ‚Bausteine’ des Sozialen wären und dass Individuen entweder aus dem Sozialen herausfallen oder bloße Struktureffekte sind.[6]
Bayertz’ sozialontologische Rekonstruktion bleibt eigentümlich inkohärent. Einmal wird der marxsche Ansatz ob seiner vermeintlich relationalen Sozialontologie „als <strukturalistisch> oder <systemtheoretisch> avant la lettre“ (115) charakterisiert. Dann wiederum wird ihm ein sozialontologischer Aktualismus zugeschrieben, dass nämlich soziale Strukturen nur dann existieren, wenn sie in Praktiken „instantiiert“ (119) sind: „Produktionsverhältnisse sind Praxis.“ (Ebd., Herv. im Orig.) Mal erscheint Marx also als Vorläufer von Luhmann, mal als Vorläufer von Giddens. Was jedoch, wenn Marx gerade die Kritik an beiden vorweggenommen hätte – und zwar ohne deswegen in Individualismus/Atomismus zu verfallen?
Ich denke, die zentrale sozialontologische Aussage von Marx findet sich zu Beginn des 18.Brumaire: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ (MEW 8, 115) Wird diese Stelle auf andere Texte nach 1845 bezogen, lässt sich unschwer feststellen, dass die marxsche Sozialontologie vier fundamentale ‚Bausteine’ aufweist: 1) soziale Strukturen, 2) Artefakte (beide gehören zu den ‚Umständen’), 3) individuelle und kollektive Akteure (‚Menschen’) sowie 4) Praxis (das ‚Machen’). Marx reduziert weder Individuen auf Strukturen noch umgekehrt, er frönt auch keinem Technizismus und schon gar nicht löst er die ersten drei ‚Bausteine’ – wie heutige Praxistheorien (Giddens, Latour, Reckwitz etc.) – in Praxis auf. Vielmehr findet sich bei ihm eine Sozialtontologie, die sich in Anlehnung an Margaret Archer als ‚nicht-konflationistisch’ bezeichnen lässt.[7] So unterscheidet Marx zwischen drei Entitäten: Strukturen, Artefakten und Akteuren, die jeweils irreduzible Eigenschaften haben und in den Praktiken der Akteure (dem vierten ‚Baustein’) reproduziert/transformiert/neu geschaffen werden. Dass Strukturen/Relationen in der Analyse des Kapitals eine besondere Relevanz besitzen, ist unstrittig und dem Gegenstand der Untersuchung (die kapitalistische Produktionsweise ‚in ihrem idealen Durchschnitt’) geschuldet. Daraus jedoch eine sozialontologische Aussage zu stricken, der zufolge das Soziale primär aus Relationen besteht, kommt einem Kategorienfehler gleich.
Geschichtsphilosophie?
Bayertz entdeckt im marxschen Werk nach 1845 eine relativ konsistente philosophische Sichtweise, die Sozialontologie, Gesellschaftstheorie und Geschichtsphilosophie umfasst und die er in Anlehnung an viele Marxismen als ‚Historischen Materialismus’ bezeichnet. Seine Auseinandersetzung mit Marxens gesellschaftstheoretischen Annahmen besteht dabei vor allem in einer Dekonstruktion des Basis-Überbau-Schemas, die jedoch dadurch konterkariert wird, dass Bayertz ausgerechnet die hegelianische Metapher vom organischen Ganzen als belastbare Alternative präsentiert. Die in Hinblick auf die differencia specifica des marxschen Materialismus entscheidende Frage betrifft nun allerdings dessen Verhältnis zur Geschichtsphilosophie. Und zwar zur Geschichtsphilosophie nicht im Sinn einer epistemologischen Reflexion auf die Praktiken, Methoden etc. der historischen Forschung, sondern als ‚materialer’ Geschichtsphilosophie, die sich mit Verlauf, Ziel und Sinnhaftigkeit ‚der’ Geschichte beschäftigt.
Ich stimme Bayertz darin zu, dass es bei Marx auch nach 1845 eine Reihe von Überlegungen gibt, die unter die Rubrik einer solchen ‚materialen’ Geschichtsphilosophie fallen (Althusser hatte das ja bestritten). Worin ich mit Bayertz divergiere, ist 1) die Frage, wie diese Geschichtsphilosophie zu bewerten ist, und 2) welche Rolle sie bezogen auf den ‚wissenschaftlichen Marx’ spielt. Dabei ist es Bayertz positiv anzurechnen, dass er die Probleme des geschichtsphilosophischen Denktypus nicht einfach unter den Tisch kehrt. So entdeckt er bei Marx eine „heimliche Teleologie“, dass „Marx entgegen seinem Selbstverständnis eben doch dem teleologischen Denkmodus verhaftet geblieben sein könnte.“ (223) Diese Teleologie komme immer dann zum Vorschein, wenn Marx von den ‚historischen Aufgaben’, ‚Sendungen’ oder ‚Bestimmungen’ von Kollektivakteuren spricht, eine Redeweise, die Bayertz für „nicht unproblematisch“ (225) hält. (Ich würde sagen, diese Redeweise ist extrem problematisch, da in ihr der Antipluralismus der allermeisten Marxismen angelegt ist und sie eine perfekte Legitimationsgrundlage für die realsozialistischen Parteidiktaturen gebildet hat.) Derartige Problematisierungen scheinen Bayertz jedoch nicht in seiner Überzeugung zu erschüttern, dass die ‚materiale’ Geschichtsphilosophie ein sinnvolles philosophisches Unterfangen ist und dass Marx dafür als Gewährsmann dienen könnte.
Um diese Überzeugung zu plausibilisieren, macht Bayertz den hilfreichen Vorschlag, zwischen drei Ebenen von Geschichte zu differenzieren: 1) Ereignisgeschichte, 2) Strukturgeschichte und 3) Gattungsgeschichte (200f.). Der ‚materialen’ Geschichtsphilosophie, auch hierin ist Bayertz zuzustimmen, geht es nicht darum, Ereignisse auf Ebene 1 vorauszusagen, sondern um den Zusammenhang zwischen Ebene 2 und 3, genauer um die Erklärung von 2 durch 3. So war Marx bis in die 1860er Jahre der Ansicht, dass der Widerspruch von Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnissen ein transhistorischer Antriebsmotor ist (Ebene 3), der die Abfolge von Produktionsweisen und den ihnen ‚entsprechenden’ Überbauten und Bewusstseinsformen (Ebene 2) erklären kann. Bayertz ist ebenfalls darin zuzustimmen, dass Marx – vermutlich zeitlebens – an einen unaufhaltsamen menschheitsgeschichtlichen Fortschritt der Produktivkraftentwicklung geglaubt hat. Damit – und hier kommt das große ‚Aber’ – ist jedoch noch nicht etabliert, dass dieser Fortschritt auch ein tatsächlicher Treiber ‚der’ Geschichte ist, dass also ein Zusammenhang zwischen Ebene 3 und 2 existiert. In meinen Augen steht und fällt das Projekt einer ‚materialen’ Geschichtsphilosophie damit, ob ein solcher Zusammenhang etabliert werden kann. Und auch Bayertz kann keinerlei ernsthafte historische Forschung anführen, die einen solchen Zusammenhang jemals gestiftet hätte. Marx jedenfalls hat an der Stelle des Kapitals, an der er Bayertz’ zufolge seine Geschichtsphilosophie hätte anwenden müssen, im 24. Kapitel über die sog. ursprüngliche Akkumulation, auf einen ganz anderen Erklärungstypus zurückgegriffen: auf eine genealogische Erklärung, die die Rolle der Gewalt betont.
Nach meiner Rekonstruktion des marxschen Werkes[8] ist Marx im Jahr 1845 von einer junghegelianischen zu einer realistischen Sozialphilosophie übergegangen, in deren Zentrum eine naturalistisch-nichtkonflationistische Sozialontologie steht. Da die Verknüpfung von Materialismus und Geschichtsdenken zur damaligen Zeit ein Novum war, schlägt diese Sozialontologie bei Marx zunächst noch in eine ‚materialistische’ Geschichtsphilosophie um, die aus heutiger Perspektive extrem fragwürdig erscheint. Erst in seiner sozialwissenschaftlichen Arbeit, die er im Jahr 1850 im Londoner Exil beginnt, ist es Marx in vielen kleinen Schritten und mit diversen Rückschlägen gelungen, sein Denken von geschichtsphilosophischen Annahmen zu befreien, bevor er in den 1870er Jahren – was Bayertz unerwähnt lässt – zum systematischen Angriff auf die Geschichtsphilosophie übergeht. Um hier nur eine prägnante Stelle aus dem 1877 geschriebenen Brief an die russische sozialrevolutionäre Zeitschrift Otetschestwennyje Sapiski anzuführen: „Wenn man jede dieser Entwicklungen für sich studiert und sie dann miteinander vergleicht, wird man leicht den Schlüssel zu dieser Erscheinung [Analogien auf der Ebene der Strukturgeschichte – UL] finden, aber man wird niemals dahin gelangen mit dem Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein.“ (MEW 19, 112)
Statt mit einem hochaggregierten Monstrum aus Sozialontologie, Gesellschaftstheorie und Geschichtsphilosophie, das den Namen ‚Historischer Materialismus’ trägt und das Marx in seiner wissenschaftlichen Arbeit vermeintlich ‚angewandt’ hätte, haben wir es in seinem Werk also mit einer viel interessanteren Entwicklung zu tun: Die realistische Sozialphilosophie von Marx ist zunächst mit der fundamentalen Ambivalenz behaftet, dass sie ihre Neuheit nicht angemessen artikulieren kann und darum in Geschichtsphilosophie zurückfällt. Erst in und durch seine wissenschaftlichen Arbeiten ist es Marx gelungen, zu einer angemessenen Artikulation seiner materialistischen Position zu kommen, wobei er für eine ‚allgemeine geschichtsphilosophische Theorie’ zum Schluss nur noch Hohn und Spott übrig hatte.
Für Philosph*innen folgt daraus, dass sie sich endlich auf das Niveau der Lernprozesse von Marx begeben und aufhören sollten, dem unsinnigen Projekt einer ‚materialen’ Geschichtsphilosophie hinterherzujagen. Alternativ könnten sie ihren Scharfsinn z.B. auf die Frage konzentrieren, welche Rolle Geschichte in philosophischen Sozialontologien spielen kann. Marx hat auch in dieser Hinsicht einige Hinweise anzubieten. So hatte es 1867 im Vorwort zum Kapital noch geheißen: „Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft.“ (MEW 23, 12) In der französischen Ausgabe von 1875 wird der Sinn dieser Aussage dann gedreht: „Das industriell am weitesten entwickelte Land zeigt nur denjenigen Ländern das Bild ihrer eigenen Zukunft, die ihm auf der industriellen Stufenleiter folgen.“ (MEGAÇ II.7, 12) Statt mit historischen Notwendigkeiten haben wir es nun bei Marx mit Pfadabhängigkeiten zu tun. Philosoph*innen könnten 150 Jahre später z.B. anfangen, diese Pfadabhängigkeiten zu theoretisieren bzw. die umfangreiche sozialwissenschaftliche Literatur, die es dazu mittlerweile gibt, überhaupt erst mal zur Kenntnis zu nehmen.
Urs Lindner ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Koordinator des Projekts „Ordnung durch Bewegung“ am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien, Universität Erfurt. Er ist Autor des Buches Marx und die Philosophie. Wissenschaftlicher Realismus, ethischer Perfektionismus und kritische Sozialtheorie (Schmetterling Verlag, Stuttgart 2013).
Referenzen
[1] Manuel DeLanda: A New Philosophy of Society. Assemblage Theory and Social Complexity, London/New York: Continuum 2006.
[2] Kurt Bayertz: „Karl Marx und die Möglichkeit eines nichtnaturalistischen Materialismus“, Praefaktisch, 17.4.2018; ders.: Interpretieren um zu verändern. Karl Marx und seine Philosophie, München: C.H. Beck 2018. Einfache Seitenzahlen beziehen sich im Folgenden immer auf Bayertz’ Buch.
[3] Urs Lindner: „Natur/Naturalismus/Humanismus“, in: Quante, Michael/Schweikard, David P. (Hg.), Marx-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart: Meiner 2016, 219-231.
[4] Das betont im Übrigen auch Bayertz: Marx gehe „von der Konzeption einer natura naturans aus, indem er die Natur als eine aktive und produktive Kraft im Aristotelischen Sinne betrachtet. Sie hat, neben vielen anderen Wesen, auch den Menschen hervorgebracht, der ein Naturwesen ist und bleibt. Allerdings ein Naturwesen mit besonderen Fähigkeiten“ (186). Bayertz’ These vom nicht-naturalistischen Materialismus bei Marx lässt sich auch anhand seiner eigenen Ausführungen widerlegen.
[5] Vgl. Roy Bhaskar: The Possibility of Naturalism. A Philosophical Critique of the Contemporary Human Sciences, Sussex: Harvester Press 1979. Mario Bunge: Emergence and Convergence. Qualitative Novelty and the Unity of Knowledge, Toronto: University of Toronto Press 2003.
[6] Auch hier gilt, dass sich (das Implikat von) Bayertz’ These anhand seiner eigenen Ausführungen widerlegen lässt: „Das Bewusstsein ist, insofern es das Bewusstsein sozialer Individuen ist, ein inhärenter Bestandteil des gesellschaftlichen Seins.“ (164 – Herv. im Orig.) Im Grundrisse-Zitat, auf das sich die These von der relationalen Sozialontologie stützt, hatte es jedoch geheißen: ‚Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen…’ Ist es möglich, dass x ‚Bestandteil’ von y ist, ohne dass y aus x ‚besteht’?
[7] Margaret Archer: Realist Social Theory. The Morphogenetic Approach, Cambridge: Cambridge University Press 1995.
[8] Urs Lindner: Marx und die Philosophie. Wissenschaftlicher Realismus, ethischer Perfektionismus und kritische Sozialtheorie, Stuttgart: Schmetterling 2013.