Umkämpfte Deutungen von Adam Smith

Von Dirk Schuck (Erfurt)


Was sich zum 300. Geburtstag von Adam Smith sicher konstatieren lässt, ist, dass sein Werk eine bewegte Deutungsgeschichte hinter sich hat. Nicht zuletzt in der jüngeren Vergangenheit sind diese Deutungskontroversen zumindest im akademischen Diskurs wieder verstärkt sichtbar geworden.

Als ich 2018 auf einer Konferenz zu Adam Smith in Chile war, reiste ich danach noch einige Wochen durch dieses ungemein gastfreundliche Land. Meist jedoch, wenn ich von der Adam-Smith-Konferenz als dem Grund meiner Reise erzählte, erntete ich damit stark ablehnende, emotional nahezu aufgebrachte Reaktionen. In Chile wird Adam Smith mit dem brutalen Neoliberalismus der Pinochet-Zeit identifiziert und gilt schlicht als einer der ersten Propheten des ‚freien Marktes’. Ich hörte schließlich auf, die Konferenz zu erwähnen, um nicht missverstanden zu werden.

Die beachtliche systematische Differenz zwischen den beiden Hauptwerken des Glasgower Professors für Moralphilosophie und späteren obersten schottischen Zollbeamten lassen tatsächlich einen großen Raum für verschiedene Auslegungen. Präzise gefasst ist es vor allem die Synthetisierung der Theorie der ethischen Gefühle (zuerst ersch. 1759) und der Untersuchung über die Ursachen des Wohlstands der Nationen, die zuerst 1776 erschien, die immer wieder selbst spannende theoretische Entwürfe provoziert hat: wie ist die auf universell-menschlicher Sympathie beruhende Moralphilosophie des ersten Buchs mit der nüchternen Beschreibung der entpersonalisierten, von Smith schon ansatzweise als verselbständigt wahrgenommenen ‚natürlichen Bewegungsgesetzen‘ des Marktes im zweiten Buch zu vereinen? Die ‚historische Schule‘ der Blütezeit des deutschen Liberalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nannte dies bekanntlich das ‚Adam Smith Problem‘: Zwischen Smiths Lobrede auf den Egoismus der ‚individuellen Privatproduzenten‘ (Marx) im Wohlstand der Nationen und seiner moralischen Anrufung zwischenmenschlicher Sympathie als der entscheidenden Kraft, die zivil-freiheitlich organisierte Gesellschaften als sittlicher Kitt zusammenhält, klafft eine empfindliche Lücke.

Um besagtem ‚Adam Smith Problem‘ ideengeschichtlich aus dem Weg zu gehen, lässt sich alternativ auch die historische Kontextualisierung, d. h. der unterschiedliche Entstehungskontext beider Schriften in den Betrachtungsmittelpunkt rücken. Die Methode kleinteiliger historischer Rekonstruktion kann in solchen Fällen häufig einige kritische Aufschlüsse liefern. Das erste Buch über die Moral schrieb der noch junge Smith in der Mitte seines dritten Lebensjahrzehnts in erster Fassung als Grundlage seiner Lehrtätigkeit als Professor für Moralphilosophie in Glasgow. Das zweite repräsentiert die zusammengetragene Arbeit vieler Jahre des Studiums eines politisch-wirtschaftshistorischen Wissens, das dann als wissenschaftliche Disziplin den Namen der ‚politischen Ökonomie‘ bekam. Also zunächst scheint es biographisch kein allzu großes Wunder zu sein, dass beide Schriften recht unterschiedlich ausfallen. Auch lässt sich in diesem Zusammenhang zu bedenken geben, dass Smith aufgrund seines theoretischen Talents von einflussreichen Akteuren des schottischen Landadels protegiert wurde. Allein hätte er nicht die Mittel und die Kontakte gehabt, die er brauchte, um Professor zu werden und sich fortan ganz seiner intellektuellen Arbeit widmen zu können. Die bedeutendste dieser Figuren im Fall von Smith (und Hume) stellt Henry Home Kames, der spätere Lord Kames dar.[1] Diesen konnte und wollte Smith nicht enttäuschen und musste seine Argumentationen entsprechend in das politische Handgemenge der Zeit einpassen. Gramsci hat dies einmal treffend einen ‚organischen Intellektuellen‘ genannt. Mit Smith lässt sich ein Paradefall eines solchen studieren. Dies bedeutet sicher nicht, dass Smith kein redlicher Mensch war. Vielmehr bleibt beim Lesen seiner penibel argumentierenden Texte oft der starke Eindruck zurück, dass er gar nicht in der Lage dazu war, seine Leserschaft oder sich selbst bewusst aufs argumentative Glatteis zu führen. Wenige frühmoderne Gesellschaftstheoretiker haben differenziertere Beschreibungen sozialer und ökonomischer Sachverhalte vorgelegt.

Dies ist ein weiterer spannender Punkt: Smith geht es methodisch weniger darum, Dinge zu erklären, sondern seinem eigenen Selbstverständnis nach eher darum, diese zunächst einmal angemessen zu beschreiben. Was der dahinterliegende Sinn dessen ist, ist gewissermaßen noch einmal eine ganz andere Frage. In der Theorie der ethischen Gefühle erklärt er die zentrale Frage, welche die Philosophie des moralischen Sinns vor ihm beschäftigt hat, nämlich, ob sich die normativen Werte menschlichen Zusammenlebens aus der Vernunft (rationalistische Option), dem Gefühl (sentimentalistische Option), oder von Gott (metaphysisch-religiöse Option) herleiten, kurzerhand für eine unwichtige Frage bloßer ‚philosophischer Neugierde‘.[2] Vielmehr gehe es zunächst einfach darum, zu beschreiben, wie sich die Sozialmoral in der Gesellschaft darstellt, d. h. wie sie als soziales Interaktionsmuster funktioniert. Dies war Smith wichtiger als metaphysische Spekulationen, die er nicht belegen konnte und daher als müßig empfand. Diesen Geist teilte er mit seinem ansonsten so ungleichen, dennoch aber guten, Freund David Hume. Dieser hatte vergleichbare Relationen der Patronage zu handhaben und tat dies oft mit weniger Geschick als der beruflich erfolgreichere Smith. Dies schmälerte die Freundschaft der beiden allerdings nicht.

Faszinierend an der Rezeptionsgeschichte der Schriften von Adam Smith bleibt die schiere Bandbreite der Interpretationen, welche diese erfuhren. Die neoliberale Chicago School erklärte ihn genauso zum ersten Verkünder der Wohltaten des freien Marktes, wie Karl Polanyi in The Great Transformation ihn als den letzten Wirtschaftstheoretiker begreift, der einen Primat des Politischen über das Ökonomische postuliert.[3] Eine hilfreiche Fragestellung mag in diesem Zusammenhang sein, welchen politischen Zweck Smith der individuellen Produktion für den Markt zuschrieb. Den „Bäckern, Brauern und Metzgern“[4], die nur an ihren eigenen Vorteil denken und eben nicht aus Nächstenliebe ihre Güter produzieren, verschafft ihre ökonomische Unabhängigkeit in Smiths Gesellschaftsvorstellung auch politische Mündigkeit: Dadurch, dass sie nicht mehr von einem Feudalherrn abhängen, werden sie überhaupt erst in die Lage dazu versetzt, sich eine eigene Meinung bilden zu können. Dies bleibt ein zentrales Versprechen des Liberalismus: ihr ökonomisch selbständiges Handeln erlaubt den Menschen die Würde der Unabhängigkeit. In Smiths Vorstellung des Marktes erlaubt dieser als freiheitliche Institution den Einzelnen, dass sie ein Leben jenseits des Bittstellertums bei Größeren und Mächtigeren führen können. Diesem frühmodern-republikanischen Geist treu zu sein, müsste bedeuten, den heutigen Markt an diesem normativen Ideal, das Adam Smith in ihm verwirklicht sah, zu bemessen.  


[1] Eine herausragende Analyse des politischen Handelns und der Bedeutung von Lord Kames für die ‚schottische Aufklärung‘ legt Fredrik Albritton Jonsson vor in ders.: Enlightenment’s Frontier. The Scottish Highlands and the Origins of Environmentalism, Yale 2013. In diesem Buch geht es vor allem um die ‚Highlands‘ als experimentelles Laboratorium der Bevölkerungspolitik des Edinburgher Establishments. Viele der Argumente von Smith und Hume bekommen im Zusammenhang dieser zeitgenössischen Diskurse einen präziseren Sinn.

[2] Vgl. Theory of Moral Sentiments (TMS), 7.3.Intro.3, (CUP-Edition Knud Haakonssen, S. 372).

[3] Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt am Main 1973.

[4] Der Wohlstand der Nation: eine Untersuchung seiner Natur und Ursachen (WN 1.2), Hamburg Dtv, vollständige Taschenbuchausgabe (zuerst ersch. 1978), übers. u. eingel. v. Horst Claus Recktenwald, S. 17.


Dirk Schuck ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Erfurt im Sonderforschungsbereich Strukturwandel des Eigentums. Er ist Mitglied der International Adam Smith Society. Im aktuellen Adam Smith Review (Jg. 13) diskutiert er die systematische Differenz der Mitleidsethiken von Adam Smith und David Hume. 2019 veröffentlichte er die Monographie Die Verinnerlichung der sozialen Natur: zum Verhältnis von Freiheit und Einfühlung in der Sozialpsychologie des frühen Liberalismus bei Locke, Shaftesbury, Hume und Smith in der Reihe Studien zum 18. Jahrhundert.