25 Jun

300 Jahre Kant: Recht und Politik

Beiträge von Dietmar Heidemann, Viktoria Bachmann, Hans-Ulrich Baumgarten und Bernward Gesang aus der Reihe 300 Jahre Kant – Das Unzeitgemäße in seiner Philosophie.

Mit der Reihe 300 Jahre Kant – Das Unzeitgemäße in seiner Philosophie möchten wir den Fokus auf das Anachronistische, Antiquierte und Unzeitgemäße bei Kant legen. Dabei geht es nicht darum, Kant zu diskreditieren. Ziel ist vielmehr, durch eine Vielzahl kurze Statements einen Eindruck zu vermitteln, wie divers die heutige Kantforschung (im europäischen Raum und darüber hinaus) ist und wo sie die Grenzen von Kant verortet. Dafür veröffentlichen wir seit dem 22. April 2024 jeden zweiten Dienstag zwei bis vier thematisch verwandte Kurzbeiträge.

Ein Makel in Kants Rechtsphilosophie

Von Dietmar Heidemann (Luxemburg)

Kant hatte großen Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Er war sogar ein Revolutionär und Umwälzer, nach Heine ein „große[r] Zerstörer“, der „an Terrorismus den Maximilian Robespierre weit übertraf“. All dies war Kant ohne Zweifel, aber, um wiederum Heine zu zitieren, nur im „Reiche der Gedanken“. In der politischen Realität seiner Zeit war Kant sicher kein Revolutionär, Umwälzer oder Zerstörer. Ganz im Gegenteil. Das aufklärerische Credo der Autonomie und Öffentlichkeit des Vernunftgebrauchs zur praktisch-moralischen Besserung des Menschen oder der Menschheit findet dort kaum Niederschlag, wo man es sich vor allem gewünscht hätte: im Recht der Bürgerinnen und Bürger auf aktiven politischen Widerstand gegen die Obrigkeit. Auch wenn Kant in seiner Auseinandersetzung mit Woellner durch sein öffentliches Schweigen in Religionsangelegenheiten einen zwischenzeitlichen passiven Widerstand gegenüber der Anordnung König Friedrich Wilhelm II. andeutet, hält er die aktive politische Gegenwehr von einzelnen oder Gruppen selbst in Situationen extremer Repression für grundsätzlich illegitim. Bei allen theoretischen Gründen, die man für Kants Zurückhaltung gegenüber dem Widerstandsrecht anführen mag, ist dies – neben anderen – doch ein bleibender Makel seiner Rechtsphilosophie. Hätte er dieses Recht mit Verve zugestanden, wäre vielleicht auch nicht der Diktator Putin im Programm der Kaliningrader Kant-Konferenz 2024 als Redner angekündigt worden.


Automatische Moralisierung des Menschengeschlechts?

Von Viktoria Bachmann (Kiel)

In den geschichtsphilosophischen Schriften blickt Kant vom Gipfel seiner kritischen Philosophie hinunter in die Niederungen der menschlichen Geschichte. Da die Vernunft ständig neue Zwecke setze, komme der Einzelne mit der Vervollkommnung seiner Anlagen nicht hinterher. Als Gattung hätten wir aber eine Chance: die ungesellige Geselligkeit (IaG, AA 08: 20f.). Dieser natürliche Antrieb erweckt in uns „Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen“ (ebd. 21). Bei einer geschickten politischen Nutzung dieser egoistischen Motive erhofft sich Kant langfristig eine moralische Besserung. Denn wenn „[…] die Staaten schon in einem so künstlichen Verhältnisse gegen einander [sind], dass keiner in der inneren Kultur nachlassen kann, ohne gegen die andern an Macht und Einfluß zu verlieren“ (ebd. 27), dann könnte aus einer Ansammlung von Egoisten quasi automatisch eine moralische Menschheit hervorgehen.

Diese Idee einer automatischen Moralisierung durch Legalität halte ich ethisch und anthropologisch für fragwürdig und angesichts des jüngsten Scheiterns einer Russlandpolitik des ‚Friedens durch Handel‘ auch politisch für gefährlich. Ein äußerlich eingedämmter Egoismus bleibt ein Egoismus. Sobald es vorteilhaft erscheint, entgrenzt er sich wieder. Die Illusion einer äußerlich induzierbaren Moral führt letztlich zu einer Vernachlässigung der ethischen Bildung der Individuen.


Kants problematische Rechtsauffassung

Von Hans-Ulrich Baumgarten (Düsseldorf)

Kants Rechtfertigung und Legitimierung einer Rechtsordnung als Staat liegt im äußeren Zwang. Auf die Frage: „Warum soll ich den Gesetzen gehorchen?“ antwortet Kant: Damit du nicht bestraft wirst! Eine innere Motivation und Überzeugung wie beim Moralgesetz ist für Kant keine Voraussetzung von rechtlichen Normen. Wenn die einzige Antriebskraft für die Befolgung von staatlichen Gesetzen in der Vermeidung von Strafe liegt, dann steht die Begründung und damit der Sinn einer Staatsordnung auf tönernen Füßen. Denn der Staat und seine Bürger:innen stehen sich als etwas zueinander Äußeres und Fremdes gegenüber. Damit ist dann aber die Ablehnung der Staatsordnung einschließlich der Politik, die sie stützen soll, ein Leichtes. Denn: was habe ich damit zu tun? Die Folgen dieser Rechts- und Staatsauffassung können wir heute beobachten. Gilt aber nicht für uns als Demokrat:innen, dass wir uns mit dem Staat, unserer Rechtsordnung, identifizieren sollten?


Kants zu radikales Argument für Menschenwürde

Von Bernward Gesang (Mannheim)

Kants Argumentation für eine Menschenwürde, die keinen Preis kennt, ist Fluch und Segen zugleich. Segen, weil sie nach Jahrtausenden der Despotie den unverrechenbaren Wert des Individuums betont. Das war historisch gesehen ein riesiger Schritt. Man konnte das Individuum nicht mehr als notwendiges Opfer für die Entwicklung der Weltgeschichte verbuchen. Das prägt auch die deutsche Verfassung und Rechtsprechung. Hier erweist sich die Argumentation heute aber als Fluch: Man darf nicht die Würde einiger weniger für die Rettung der Würde von vielen in Kauf nehmen. Das lehrt das Verfassungsgerichtsurteil gegen den Abschuss eines entführten Flugzeugs, das als Waffe gegen Frankfurter Bankentürme eingesetzt werden soll – ähnlich dem 11. September Attentat in den USA. Kants Verständnis von Menschenwürde blockiert auch eine vernünftige Regelung der Sterbehilfe. Kant verbietet die völlige Instrumentalisierung eines Menschen, es gibt aber Fälle, in denen eine solche Instrumentalisierung sogar geboten ist. Wenn ein Kind im See ertrinkt, muss man es retten, wenn man dies am Ufer registriert. Wenn nun der einzige Weg, es zu retten darin besteht, ein Boot von Herrn Müller dazu zu verwenden, Müller aber wegen möglicher Kratzer den Schlüssel des Bootes herauszugeben verweigert, ist man verpflichtet, Müller den Schlüssel zu entwenden, und das gegen seinen Willen also unter Inkaufnahme einer völligen Instrumentalisierung. Kants Verbot einer völligen Instrumentalisierung ist eingängig, aber falsch und gefährlich.

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