Zum Verhältnis von Ritus, Mythos und Wahrheit in religiösen Systemen
von Markus Wirtz (Köln)
Für das spirituelle Selbstverständnis und die gelebte Praxis religiöser Gemeinschaften und Individuen spielt es vermutlich nur eine untergeordnete Rolle, dass es sich bei Religionen um soziale Konglomerate aus sehr verschiedenen Komponenten handelt. Erst aus der distanzierten Außenperspektive der Religionswissenschaft, Religionssoziologie oder Religionsphilosophie erschließt sich die nähere Zusammensetzung der religiösen Phänomenkomplexe, die von den religiös Engagierten in der Regel ganzheitlich erlebt und mitvollzogen werden. Ritual, Mythos und Wahrheitsglaube (oder Glaubensgewissheit) können als essentielle Charakteristika benannt werden, welche alle Weltreligionen miteinander teilen. Als divergent erweisen sich jedoch im interreligiösen Vergleich – neben der konkreten Ausgestaltung der Riten, Mythen und Doktrinen in den einzelnen Religionskulturen – besonders die Relationen zwischen diesen drei Komponenten innerhalb der jeweiligen Religionen. Rituelle Vollzüge, mythische Erzählungen und als wahr geglaubte Lehrinhalte gehen in den Religionen jeweils verschiedene Verbindungen ein und erhalten in diesen Verbindungen ein von Religion zu Religion unterschiedliches Gewicht.
Von einer religionsevolutionistischen Perspektive aus ließe sich das Verhältnis der drei Religionsbestandteile Ritus, Mythos und Wahrheit so beschreiben, dass die Dominanz des rituellen Aspekts von Religion einer archaischen, vorsprachlichen Phase der Menschheitsentwicklung zugewiesen wird. Erst in einem späteren Stadium sollte sich der Ritus mit Mythologie verbinden, wodurch er einen bis dahin nicht explizit greifbaren sprachlich sagbaren Sinn erhielt. In dieser Sichtweise stellt der Mythos bereits einen ersten Ansatz zur Rationalisierung dar, indem er zur Sprache bringt, was zuvor nur performativ dargestellter Inhalt der rituellen Ausführung war. Durch die Sinn stiftende mythische Erzählung werden die rituellen Handlungen fortan in einen übergreifenden, kosmischen Referenzrahmen eingebunden, der es überdies erlaubt, ein Bedeutung stiftendes Narrativ kulturell zu tradieren. Doch auch die Mythen sollten nicht das letzte Wort in der Religionsgeschichte behalten. Folgt man dem von Karl Jaspers aufgebrachten Theorem einer ,Achsenzeit‘[1] im 1. Jahrtausend v. Chr., in dessen Verlauf in so unterschiedlichen Weltregionen wie Indien, China, Persien, Griechenland und dem Nahen Osten in zeitlicher Parallelität ein neues Niveau metaphysischen und reflexiven Bewusstseins erlangt wurde, so zeigt sich, dass Wahrheit fortan Kulturen übergreifend zu einem entscheidenden Faktor religiösen Lebens wurde. Dem Buddha genügten die Riten und Mythen der durch die Brahmanenkaste überlieferten Veden nicht mehr; er lehrte, wie das Leiden in der Welt wirklich entsteht und wie es zum Verlöschen gebracht werden kann. Gegen die Götzenverehrung der anderen Völker setzten die jüdischen Propheten den Glauben an den einen, einzig wahren Gott. Konfuzius lehrte, dass die pflichtgemäße Erfüllung der Riten mit einer inneren Menschlichkeit einhergehen sollte, die ihren kürzesten Ausdruck in der universellen Aufforderung: ,Liebe andere!‘ fand. Die neuen intellektuellen Eliten der Achsenzeit schienen sich nicht länger mit der je kulturell überlieferten Verbindung von Mythos und Ritus zufrieden geben zu wollen. Sie versuchten herauszufinden, was es mit dem Ursprung der Welt und der moralischen Bestimmung der Menschheit tatsächlich auf sich hatte. Die transzendente Antwort auf diese Fragen konnte fortan zugleich als autoritativer Maßstab menschlichen Zusammenlebens auf Erden fungieren. Seitdem wurden religiöse Rituale und Mythologien an einer holistischen Weltsicht orientiert, die für sich in Ansprach nahm, nicht nur im narrativ-symbolischen, sondern auch im propositionalen Sinne wahr zu sein. Das spätere Aufkommen der monotheistischen Weltreligionen Christentum und Islam verstärkte nur die Tendenzen, die im Prinzip bereits in der Achsenzeit grundgelegt worden waren. Indem sie das rituelle und mythische Stadium der Religionsentwicklung transzendierte, wurde Wahrheit und die mit ihr verbundene spezifische Gewissheit des Glaubens zu einem höchst einflussreichen Element religiösen Lebens.
Neben dieser historischen, religionsevolutionistischen Rekonstruktion kann die intrareligiöse Beziehung zwischen Ritual, Mythos und Wahrheit aber auch in einer strukturelleren Weise betrachtet werden. Denn selbstverständlich sind Ritus und Mythos seit der Achsenzeit nicht aus der Religion verschwunden; wohl aber wurden sie dazu genötigt, sich in ein kohärentes Verhältnis zum Wahrheitsgeschehen exklusiver Offenbarungen zu setzen. Betrachten wir religiöse Systeme als ganze, so repräsentieren Rituale ihren performativen und sozialen Aspekt, während Mythen und Glaubenswahrheiten narrative bzw. propositionale Erklärungen ritueller Praktiken für die Ausführenden liefern. Aus dieser Perspektive ergibt sich keine zwingende Notwendigkeit, Religionen entlang eines problematischen Evolutionismus (vom Ritus über den Mythos zur Wahrheit) zu hierarchisieren. Was wir an religiöser Vielfalt vorfinden, sind einfach verschiedene mögliche Konfigurationen von Riten, Mythen und Glaubenslehren. So kann eine spezifische Religion primär auf einem soliden rituellen Fundament ruhen und mythologischer Ausschmückung oder doktrinaler Kohärenz wenig Aufmerksamkeit schenken. Eine andere Religion mag sich demgegenüber stärker auf den individuellen Glauben an bestimmte Doktrinen konzentrieren und den performativen Aspekt religiöser Riten relativ vernachlässigen.
Für ein systematisches Verständnis des inneren Zusammenhangs der verschiedenen Religionsbestandteile und ihrer Beziehung zur säkularen Rationalität sind die Religionsphilosophien Immanuel Kants und des Deutschen Idealismus, vertreten insbesondere durch Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, von bleibender Bedeutung. Auch wenn ihr Religionsverständnis zeitbedingt noch allzu stark vom Christentum bestimmt ist, das für Kant die einzige moralische Religion und für Hegel sogar die absolute Religion darstellt,[2] sind ihre anspruchsvollen Analysen der Rationalitätsmomente von Religion auch und gerade für ein Zeitalter wie das unsere eminent wichtig, das durch religiöse Diversität und damit oftmals einhergehende interreligiöse sowie religiös-säkulare Dissense geprägt ist.
In Anknüpfung an die Religionsphilosopien Kants und Hegels lassen sich drei Elemente und Dimensionen von Religion unterscheiden, denen unterschiedliche Weltzugangsweisen unserer Rationalität sowie verschiedene Aussagetypen entsprechen:
religiöses Element: | religiöse Dimension: | kognitive Zugangsweise: | Aussagetyp: | korrespondierende philosophische Disziplinen: | interreligiöse Relation: |
Mythen und Doktrinen | objektiver Gehalt | theoretische Rationalität | Konstativ | Ontologie, Metaphysik | Komplementarität |
Riten und moralisches Handeln | intersubjektiver (sozialer) Gehalt | praktische Rationalität | Normativ | Ethik, Rechts-und Sozialphilosophie | Kompatibilität |
Religiöse Erfahrung (Glaube / Meditation), Mystik | subjektiver Gehalt | (ästhetische) Urteilskraft | Expressiv | Hermeneutik, Ästhetik | Konvergenz |
Die in der linken Spalte aufgeführten religiösen Elemente entsprechen nicht exakt den zuvor unterschiedenen religiösen Komponenten Ritus, Mythos und Wahrheit. Der Wahrheitsaspekt ist hier gleichsam aufgeteilt in seine objektive, doktrinale Seite (1. Zeile) und seine subjektive Beglaubigung (3. Zeile). Während viele religiöse Doktrinen einer theoretischen (ontologischen, metaphysischen) Befragung und Ausarbeitung prinzipiell zugänglich sind – ein Großteil der zeitgenössischen Religionsphilosophie besteht darin, religiöse Glaubenslehren auf ihre Kohärenz und Plausibilität hin zu analysieren –, ist das Wahrheitskriterium für den Glauben auf der Subjektseite dessen existenzielle Authentizität. Subjektiver religiöser Glaube kann deswegen ebenso wenig wie subjektive religiöse Erfahrung theoretisch bestätigt oder widerlegt, sondern nur in seinen expressiven Gehalten ausgelegt und gedeutet werden. Das schließt jedoch nicht aus, dass individueller religiöser Glaube durch Gegenevidenzen erschüttert werden kann. Wenn beispielsweise nachgewiesen werden kann, dass ein religiöses Dokument, das man für heilig hielt, eine nachträgliche Fälschung darstellt, so kann dies einen Gläubigen zur Aufgabe seines bisherigen Glaubens veranlassen. Aber auch dies stellt keineswegs eine zwangsläufige Reaktion dar.
Die rechte Spalte der Tabelle bezieht sich auf die interreligiöse Relation, in der das jeweilige religiöse Element aus Sicht der säkularen Vernunft zum selben Element einer anderen Religion steht. Dass sich die Wahrheitsansprüche der Weltreligionen, philosophisch betrachtet, in metaphysischer Hinsicht komplementär zueinander verhalten (sofern man ihre Dokrinen nicht als bloß widersprechend deuten will), dass sie in ethischer Hinsicht kompatibel mit universalisierungsfähigen normativen Einsichten der praktischen Vernunft sind und dass sie in ihrem mystischen Momenten sogar konvergieren, ist eine religionsphilosophische These, die ich in meinem Buch Religiöse Vernunft. Glauben und Wissen in interkultureller Perspektive (Karl Alber: Freiburg/München 2018) näher ausgeführt habe. Zur weiteren Auseinandersetzung mit dieser These sei die Lektüre des Buches wärmstens empfohlen.
Markus Wirtz ist Privatdozent für Philosophie an der Universität zu Köln und Gymnasiallehrer an der Kaiserin-Augusta-Schule, Köln.
[1] Siehe K. Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Karl Jaspers Gesamtausgabe Bd. I/10, hrsg. V. Kurt Salamun, Basel 2017.
[2] Siehe etwa G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion I. Frankfurt a.M. 1969, S. 87: „Dieses Wissen des Geistes für sich, wie er an sich ist, ist das Anundfürsichsein des wissenden Geistes, die vollendete, absolute Religion, in der es offenbar ist, was der Geist, Gott ist; dies ist die christliche Religion.“