„Der Mensch wird nur unter Menschen ein Mensch“
von Leonhard Weiss (Alfter bei Bonn )
Wie auch in einigen Beiträgen zu diesem Blog thematisiert wird, ist in der aktuellen öffentlichen Debatte oft eine Reduktion von „Bildung“ auf „Kompetenzerwerb“ zu erleben, die etwa vom Kunstpädagogen und Bildungstheoretiker Jochen Krautz zurecht als Ausdruck einer „Ökonomisierung“ von Bildung diagnostiziert und kritisiert wird[1]. Verbunden mit dieser Tendenz, die „Bildung“ letztlich zu nichts anderem, als einer im Sinne der eigenen marktwirtschaftlichen Attraktivität zu erwerbenden „Ware“ macht, ist zugleich eine, wie ich es nennen möchte, „Entpersonalisierung von Bildung“.
An einigen japanischen Schulen haben Lehrer seit ein paar Jahren technische „Assistenten“. Der ca. 60 Zentimeter große Roboter „Nao“ etwa kann Kindern u.a. beim Vokabellernen und beim Rechnen helfen – und soll v.a. auch ihre Motivation zu lernen erhöhen. Der Umgang mit dem Robotermännchen soll Spaß machen und den oft als langweilig empfundenen Schulalttag auffrischen.
Dass es sich bei Nao und seinen inzwischen entwickelten anderen elektronischen „Kollegen“ tatsächlich um mehr, als nur eine technische Spielerei handelt, machte etwa der Literatur- und Kognitionswissenschaftlers Fritz Breithaupt 2017 in einem Gastbeitrag in der „ZEIT“ deutlich. Breithaupt führt darin aus, dass aufgrund der erweiterten technischen Möglichkeiten der Datenerfassung und der schnellen Verarbeitung großer Datenmengen zukünftig jedes Kind vom Kindergarten an von „der Stimme des Computers … durchs Leben“ begleitet werden kann – und seines Erachtens auch begleitet werden soll. Denn „die Mischung aus Algorithmen und computerisierter Spracherkennung“ ermögliche jedem Kind einen persönlichen Bildungsassistenten, der „individuelle Lern- und Motivationsmuster“ erkenne und entsprechend individualisierte Aufgabenstellungen bzw. Antworten auf Fragen des Kindes gebe. Damit, so Breithaupt, verwirkliche die Computertechnologie das Grundprinzip der Individualerziehung, nämlich, dass die pädagogische Situation so gestaltet ist, dass „jeder Student gemäß seiner Fähigkeiten, seiner bisherigen Leistungen […] angemessen herausgefordert wird.“ Denn: „Selbst der beste Klassenlehrer, Sprachtutor oder Couch, gesegnet mit Empathie, pädagogischem Eros und Interesse an seinem Schüler, wird nicht so individuell fördern können wie der Computer.“[2]
Ein Computer, ein Algorithmus als der bessere, ja letztlich der beste Lehrer, der gewissermaßen einlöst was spätestens seit Rousseaus „Emile“ zu den zentralen Anliegen moderner pädagogischer Konzepte und Praxen gehört: eine ganz auf den einzelnen Schüler und seine Fähigkeiten und Bedürfnisse abgestimmte „individuelle Pädagogik“. Schließlich soll der Algorithmus des Roboterlehrers nicht nur registrieren, welchen Lernfortschritt ein Schüler macht und auch, bei welchen Aufgaben er vielleicht immer wieder scheitert, sondern diese Diagnose zugleich mit aus tausenden Lernprozessen anderer Schüler gefilterten Mustern vergleichen und daraus ableiten, welcher Hinweis, welche neue oder modifizierte Aufgabe, welche methodische Veränderung dem Schüler helfen kann, einen Lernfortschritt zu erreichen. Ein zweifellos verlockendes Versprechen! Wer Bildung tatsächlich eben nur als additive Vermehrung von Kenntnissen und Fähigkeiten, von gespeicherten Informationen und erworbenen Kompetenzen versteht, kann diese Form „digitaler Individualisierung“ nur begrüßen. Und vollzieht damit letztlich doch meines Erachtens eine Abkehr von einem grundlegenden Motiv bildungstheoretischer Überlegungen: dass, wie es etwa Fichte formuliert hat, der Mensch „nur unter Menschen ein Mensch“ werden kann[3].
Nun soll damit nicht gesagt werden, dass etwa Roboterlehrer Nao nicht auch in Schulklassen unterrichten kann. Selbstverständlich kann auch für Naos Schüler Unterricht „unter Menschen“ stattfinden. Doch hinters Fichtes Feststellung „Der Mensch wird nur unter Menschen ein Mensch“ steht eine (bildungs)philosophische Überlegung, die über die Diagnose, dass (heranwachsende) Menschen Begegnungen mit anderen Menschen brauchen, weit hinaus reicht und die zugleich eines der Grundmotive anerkennungstheoretischer Konzepte, wie sie im aktuellen sozialphilosophischen Diskurs u.a. von Axel Honneth vertreten werden, darstellt.
In seiner „Grundlage des Naturrechts“ versucht Fichte die Notwendigkeit eines Systems sozialer Rechte und Institutionen aus dem Gedanken menschlicher Freiheit abzuleiten, bzw. zu zeigen, warum wir als Menschen Rechte und Institutionen brauchen, um freie Personen sein zu können. Im Zuge dieses philosophisch höchst anspruchsvollen Projektes geht Fichte auch der Frage nach, wie ein endliches Subjekt zu einem Bewusstsein seiner selbst als eines freien Wesens gelangen kann. Ist es doch eine wesentliche Voraussetzung wirklicher Freiheit, dass Menschen zu einem Verständnis ihrer selbst als Freie gekommen sind. Ein freies Wesen kann nur sein, wer sich selbst als frei versteht. Wodurch sich die Frage stellen kann, wie Menschen zu einem Verständnis eigener Freiheit kommen. Anerkennungstheoretisch argumentierende Autoren verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass wir dort zu einem entsprechenden Selbstbewusstsein kommen, wo wir uns von Anderen als freie Wesen anerkannt erleben. Handeln andere Menschen im Umgang mit uns so, dass wir in diesem Handeln eine Anerkennung unserer selbst als Freie erfahren können, dann trägt dies wesentlich dazu bei, dass wir uns selbst als frei betrachten. Denn jenes Verständnis von uns selbst, welches uns andere Menschen entgegenbringen, hat entscheidenden Einfluss darauf, welches Verständnis wir von uns selbst haben.
Allerdings befände man sich offensichtlich in einem argumentativen Zirkel, würde man sagen, jemand müsse von einem Anderen als frei anerkannt werden, damit er ein Bewusstsein eigener Freiheit haben könne, welches wiederum die Voraussetzung seiner Freiheit wäre. Denn wenn seine Freiheit das Ergebnis dieses Prozesses sein soll, dann hätte die am Anfang stehende Anerkennung seiner Freiheit durch den Anderen ja keine sachliche Fundierung, es würde sich also um eine Form unbegründeter Anerkennung handeln. Bei Fichte kommt an dieser Stelle nun dem Begriff „Aufforderung“ eine wichtige Bedeutung zu. Menschen werden durch andere Menschen dazu „aufgefordert“, sich als freie Wesen zu betätigen und erleben in dieser Aufforderung eine starke Form der Anerkennung, nicht notwendigerweise einer bereits existierenden Freiheit aber der Möglichkeit derselben und vor allem die Überzeugung, dass diese Freiheit etwas Anzustrebendes ist. Daher trägt für Fichte diese „Aufforderung zur Freiheit“ wesentlich dazu bei, dass sich Menschen zu einem freien Wesen entwickeln können – und wird damit zu einem Zentralbegriff einer anerkennungstheoretisch orientierten Bildungstheorie, denn, so Fichte, „die Aufforderung zur freien Selbstthätigkeit ist das, was man Erziehung nennt.“[4]
Blicken wir vor dem Hintergrund einer solchen Bildungstheorie nochmals zurück auf die Schüler des Roboterlehrers Nao. Können nicht auch diese von Nao, bzw. dem diesen steuernden Computerprogramm zur „freien Selbsttätigkeit“, d.h. zur Eigenaktivität „aufgefordert“ werden? Ja, das können sie. Schließlich liegt die Stärke solcher Technologien nach Ansicht von Fritz Breithaupt und anderen Autoren doch gerade darin, ganz speziell und individuell abgestimmte „Aufforderungen“ an Schüler richten zu können. Doch sind diese „Aufforderungen“ von strukturell anderer Art, als jene, die Fichte im Blick hat, wenn er darauf hinweist, dass Menschen nur unter – sie zur Freiheit auffordernden – Menschen zu Menschen werden können. Denn zur Freiheit auffordern kann nur ein Wesen, das sein Gegenüber zu einer Aktion weder zwingt nicht stimuliert, sondern ihm vielmehr ein Potential eröffnet, in dem es dieses anerkennt. Doch die Freiheitsmöglichkeit anerkennen kann nur, so betont Fichte, wer selbst über einen „Begriff von Vernunft und Freiheit“ verfügt[5] und damit selbst ein freies und vernünftiges Wesen ist. Aus diesem Grund kann eine Maschine niemals Teil einer Anerkennungsbeziehung sein, auch wenn sie möglicherweise als Aufforderung (z.B. „Denk selbst nach, wie die Lösung einer Aufgabe aussehen kann!“) oder Anerkennung („Du bist gut. Du kannst diese Aufgabe lösen!“) zu verstehende, einer menschlichen Stimme ähnlich klingende akustische Signale aussendet. Eine solche „Anerkennung“ ist letztlich immer nur eine (programmierte) Reaktion auf einen bestimmten Reiz, z.B. auf den Versuch eines Schülers, eine Aufgabe zu lösen, und daher keine echte Anerkennung. Denn echte Anerkennung kann nur existieren, wo der Anerkennungsgeber selbst, frei entscheidet, dem Anerkennungsempfänger eine bestimmte Form der Wertschätzung entgegen zu bringen. Darauf hat, noch deutlicher als Fichte, Hegel hingewiesen. Gehört es doch zu bemerkenswerten Pointen der berühmten „Herr-Knecht-Parabel“ in der „Phänomenologie des Geistes“, dass dem vom unterworfenen „Knecht“ die Anerkennung seiner Autorität und Freiheit verlangenden „Herrn“ gerade diese Anerkennung notwendigerweise unzureichend sein muss, da er, solange er den Knecht nicht selbst anerkennt, nur die Anerkennung durch ein in seinen Augen „unwesentliches Bewusstsein“ erhält[6]. D.h. welchen „Wert“ eine erlebte Anerkennung für mich hat, hängt wesentlich davon ab, ob und wie ich denjenigen anerkenne, der sie mir entgegenbringt. Letztlich, so macht Hegel deutlich, können Menschen daher erst in reziproken Anerkennungsverhältnissen zu einem echten Erleben ihrer selbst als Freie kommen – und damit also „unter Menschen“. Daher ist echte Anerkennung an Personalität – sowohl des Anerkennungsgebers wie auch das -empfängers – gebunden.
Natürlich kann an dieser Stelle kritisch gefragt werden, ob und wieweit denn etwa den Schülern von Roboterlehrer Nao diese scheinbar rein philosophische Differenzierung zwischen „Anerkennung“ und echter Anerkennung bewusst ist. Wird für sie nicht die wertschätzende Rückmeldung des Roboters mindestens genauso motivierend sein, wie jene eines menschlichen Lehrers? Gerade auch, weil die Möglichkeiten, zwischen Menschen und ihnen optisch und akustisch immer ähnlicher werdenden Maschinen zu unterscheiden, mit jeder Weiterentwicklung der Robotertechnik doch immer mehr verschwinden. Dies mag sein – und trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, dass wir bestimmte menschliche, an Personalität gebundene Fähigkeiten und Eigenschaften, wie wertschätzende Zuwendung oder persönliches Interesse am Anderen, eben nur „unter Menschen“ erfahren und entwickeln können.
Dies übersehen meines Erachtens Befürworter digitalisierter „individueller Bildung“, wenn sie, wie etwa Fritz Breithaupt im anfangs zitierten Beitrag, als große Stärke eines elektronischen Lehrers dessen enorme Fähigkeit zur „Geduld“ betonen. Ja, der Computer kann auch auf ein mehrfaches Begehen eines Fehlers oder gar ein störendes Verhalten seitens des Schülers immer noch ruhig und freundlich reagieren, während ein menschlicher Lehrer vielleicht schon manchmal ungeduldig wird. Doch hat der Computer deswegen „Geduld“? Gehört zu echter Geduld nicht vielmehr auch, dass ich mich z.B. vom Handeln des Anderen betroffen, vielleicht sogar geärgert empfinde und trotzdem, etwa aufgrund meiner Wertschätzung des Anderen oder weil ich versuche, tatsächlich nachzuempfinden und zu verstehen, warum er in diesem Moment so handelt, diesen Empfindungen nicht freien Lauf lasse, sondern mich bemühe, ihm gelassen und helfend zu begegnen? Letztlich kann nur ein menschlicher Lehrer in diesem Sinne wirklich geduldig sein, ein elektronischer kann hingegen nur gleichbleibend, bzw. „Geduld“ simulierend reagieren.
Aus der Perspektive einer anerkennungstheoretisch orientierten Bildungsphilosophie scheint es mir wesentlich zu sein, diese Differenzierung zu setzen – auch weil, wenn wir als Gesellschaft diese Unterscheidung negieren, möglicherweise Gefahr laufen, die Bildungsprozesse unserer Kinder von Anerkennungssimulationen abhängig zu machen und damit vielleicht auch die Bildungsprozesse selbst zu simulieren.
Leonhard Weiss studierte Philosophie, Politikwissenschaft und Geschichte an der Universität Wien, sowie Waldorfpädagogik an der Donau-Universität Krems; von 2000 bis 2010 (Online-)Redakteur in der Religionsabteilung des Österreichischen Rundfunks ORF; seit 2010 am Zentrum für Kultur und Pädagogik in Wien tätig; Lehrgangsleiter und Dozent des Universitätslehrgangs Waldorfpädagogik an der Donau-Universität Krems; seit März 2014 Juniorprofessor für Bildungsphilosophie und Pädagogische Anthropologie an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn; Oberstufenlehrer für die Fächer Philosophie und Geschichte an Waldorfschulen; Veröffentlichungen zu geschichts-, sozial- und bildungsphilosophischen Fragen.
[1] Vgl. Krautz, Jochen (2007): Ware Bildung. Schule und Universität unter dem Diktat der Ökonomie. Kreuzlingen/München: Diederichs.
[2] Vgl. Breithaupt, Fritz (2016): Ein Lehrer für mich allein, in: DIE ZEIT Nr. 5/2016, online: http://www.zeit.de/2016/05/schule-computer-lernen-unterricht-digitalisierung [07.01.2017]
[3] Fichte, Johann Gottlieb (1845): Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, Sämtliche Werke, Zweite Abtheilung. A. Zur Rechts- und Sittenlehre, Erster Band. Berlin: Verlag von Veit und Comp., S. 39.
[4] Ebd.
[5] Ebd., S. 36.
[6] Vgl. Hegel, Georg, Wilhelm, Friedrich (1980): Phänomenologie des Geistes. Gesammelte Werke, Band 9. Hamburg: Felix Meiner Verlag, S. 114.