Sex?!

von Hilkje Charlotte Hänel (Berlin)


Was ist Sex eigentlich? Intuitiv scheint uns das allen klar zu sein, schließlich sehen wir Sex im Fernsehen und auf Plakatwänden, reden über Sex, haben selber Sex. Wir wissen, mit welchen Personen wir Sex hatten und mit welchen nicht. Wir können mitzählen. Eine Liste mit Namen unserer Sexpartner anlegen. Aber das, was wir da intuitiv als Sex kategorisieren, ist häufig nur eine bestimmte Form von Sex: heterosexuelle Penetration. Aber ist das alles? Sollten wir nicht auch andere Handlungen als Sex kategorisieren? Greta Christina schreibt

When I first started having sex with other people, I used to like to count them. I wanted to keep track of how many there had been. […] So, in my mind, Len was number one, Chris was number two, that slimy awful little heavy metal barbiturate addict whose name I can’t remember was number three, Alan was number four, and so on. […]

Then I started having sex with women, and, boy, howdy, did that ever shoot holes in the system. I’d always made my list of sex partners by defining sex as penile-vaginal intercourse—you know, screwing. It’s a pretty simple distinction, a straightforward binary system. Did it go in or didn’t it? Yes or no? One or zero? On or off? Granted, it’s a pretty arbitrary definition, but it’s the customary one, with an ancient and respected tradition behind it, and when I was just screwing men, there was no compelling reason to question it.

[…] So when I started having sex with women the binary system had to go, in favor of a more inclusive definition.[1]

Aber was wäre demnach eine Definition, die wirklich alles fasst, was Sex ist, aber auch nicht mehr als das? In anderen Worten: Wo fängt Sex an und wo hört Sex auf? Und müssen wir eigentlich wissen, was Sex ist? Oder überkommt uns hier nur unsere philosophische Liebe zu allgemein gültigen Definitionen? Es ist ja mittlerweile sogar auch von Philosophinnen und Philosophen akzeptiert, dass es keine allgemein gültige Definition von Wissen geben kann und dass wir eigentlich auch keine brauchen — warum sollte das bei Sex anders sein?

Dann allerdings könnte jede und jeder selbst entscheiden, was Sex ist, und dann hätte Rosa vielleicht Sex mit Greta, aber Greta nicht mit Rosa. Und das wäre nicht nur philosophisch unbefriedigend. Vielleicht müssen wir uns vor jedem Sex einig sein, dass das, was jetzt kommt, Sex ist. Oder danach. War das jetzt Sex? Ja oder Nein? Dann könnte zumindest Rosa keinen Sex mit Greta haben, wenn Greta nicht auch Sex mit Rosa hat.

Natürlich ist nicht alles Sex, nur weil Rosa und Greta das gemeinsam so beschlossen haben. Wenn Rosa Fernsehen schaut und Greta strickt, dann haben Rosa und Greta keinen Sex — egal, was sie vorher oder hinterher beschließen. Alles andere wäre Quatsch. Aber könnte man jetzt einwenden: Warum nicht? Warum sollen Rosa und Greta denn ihre Fernseh-Strick-Handlung nicht als Sex beschreiben? Wenn es sie doch glücklich macht. Warum ist es also wichtig, dass wir uns auf irgendeine Weise darüber verständigen, was so alles als Sex gilt und was eben nicht?

Es ist philosophisch wichtig, weil es einen ganzen Rattenschwanz an normativen und moralischen Fragen mit sich herumschleppt. Es gibt eben nicht nur Sex, sondern auch guten Sex und schlechten Sex, normalen Sex und perversen Sex, problematischen Sex, schädlichen Sex und moralisch falschen Sex. Und diese Einteilungen begleiten uns nicht nur im Alltag, sondern sie haben eine lange Geschichte.

Aristoteles nahm an, dass alle Ereignisse ein Ziel haben, ein telos. Nach dieser teleologischen Ansicht, hat “normaler Sex” Reproduktion zum Ziel. Alles, was nicht der Reproduktion dient, ist nicht normal. Das ist natürlich ein bisschen veraltet, will man jetzt sagen. So veraltet dann aber auch wieder nicht, zumindest findet man auch in der Moderne noch Überbleibsel dieser Theorie — da, wo man sie vermutet, ebenso wie da, wo man sie nicht vermutet. Vermuten tun wir sie — ganz richtig — bei der katholischen Kirche, nicht vermuten tun wir sie bei Freud. Nach Freud machen wir in unserem Leben fünf Entwicklungsphasen durch: (1) die orale Phase, (2) die anale Phase, (3) die phallische Phase, (4) die ruhende Phase und (5) die genitale Phase. Mit Ausnahme von (4) beziehen sich alle diese Phasen auf unsere erogenen Zonen zu bestimmten Zeiten in unserem Leben. Wenn wir die fünfte Phase — die Phase, in der sich nach Freud unser Begehren auf heterosexuellen Sex und Reproduktion stützt — erreicht haben, sind wir erwachsen. Mit anderen Worten, wenn wir als erwachsene Person noch Oral- oder Analsex begehren, dann hinken wir mit unserer Entwicklung hinterher, wir sind irgendwo steckengeblieben oder haben einen Regress erfahren. Wir haben unser Ziel also nicht erreicht. Nach teleologischen Ansichten ist perverser Sex also solcher, der sein Ziel verfehlt. Und das Ziel ist Reproduktion durch heterosexuellen Sex.

Dann jedoch wäre alles, was Rosa und Greta so tun, pervers. Oder zumindest nicht normal. Und wenn wir etwas als nicht normal beschreiben — als abnormal —, dann empfinden wir es häufig auch als problematisch, schädlich oder moralisch falsch. Es geht also um viel mehr als nur darum, dass wir wissen wollen, wann wir (oder Rosa und Greta) Sex haben und wann nicht. Es geht darum, dass Personen, die Sex haben, der nicht in unsere Definition passt, etwas Abnormales tun. Etwas Problematisches, Schädliches oder moralisch Falsches.

Nun sind Aristoteles, die katholische Kirche und Freud natürlich nicht die einzigen, die eine Theorie darüber haben, was Sex und was Perversion ist. Thomas Nagel und Robert Solomon verteidigen Intentionalitätstheorien: Nach Nagel gipfelt sexuelles Begehren in gegenseitigem Begehren — sexuelles Begehren bedeutet, dass Rosa Greta nicht nur begehrt, sondern auch begehrt, dass Greta sie begehrt und vice versa. Bei sexuellem Begehren geht es also nicht nur um das Bewusstsein, dass man von einer anderen Person begehrt wird, sondern auch darum, dass dieses Bewusstsein die eigene Begierde verstärkt. Sexuelle Perversion ist dann also jede Form von Begehren, das nicht gegenseitig und vielschichtig ist. Nach Solomon ist Sex die körperliche Kommunikation einer Botschaft — manchmal Liebe, manchmal eine andere Botschaft. Hiernach sind sexuelle Perversionen also eine Fehlkommunikation, entweder weil die Botschaft nicht ehrlich ist oder weil die empfangende Person (oder das empfangende Wesen) nicht in der Lage ist, die Botschaft adäquat zu verstehen.

Nach diesen Ansichten geht es bei Sex somit primär um das Miteinander und nicht um körperliche Befriedigung oder Reproduktion. Das ist intuitiv plausibel. Wir haben Sex, auch wenn wir nicht an Reproduktion interessiert sind, und es ist uns meistens nicht egal, mit wem wir Sex haben — wir sehnen uns nicht nach irgendeinem Körper, sondern nach einer bestimmten Person (ob wir die nun lieben oder nicht, spielt dabei zunächst keine Rolle). Was Rosa und Greta tun, ist also Sex; zumindest solange sie sich gegenseitig Begehren und durch die körperliche Handlung eine Botschaft senden.

Vielleicht müssen wir tatsächlich gar nicht so genau wissen, wie die Handlung Sex aussieht, solange wir wissen, wann Sex problematisch, schädlich oder moralisch falsch ist.  Es ist also egal, ob Rosas und Gretas Fernseh-Strick-Handlung Sex ist oder nicht, solange es sich um gegenseitiges Begehren handelt und keine Fehlkommunikation vorliegt.

Da mag man jetzt wiederum einwenden wollen, dass dann ja fast alles Sex ist, was irgendwie mit gegenseitigem Begehren und körperlichen Botschaften zu tun hat. Und wie sollten wir denn das unseren Kindern erklären?

: Papa? Mama? Was ist Sex?

: Was auch immer du willst, solange du deinen Körper benutzt, um eine Botschaft auszudrücken. Und solange die andere Person deine Botschaft versteht und für dich ebenfalls eine Botschaft hat.

: So wie wenn Anna und ich uns beim Schaukeln an den Händen halten?

Ja. Nein. Tja. Wollen wir wirklich sagen, unser fünfjähriger Sohn hat Sex, wenn er beim Schaukeln Händchen hält? Dann wäre auch Sex zwischen Eltern und ihren Kindern völlig in Ordnung — Händchen halten ist ja nun wirklich nichts Verwerfliches. Ein bisschen enger muss die Definition also doch sein. Wir müssen also entweder genauer sagen, was als körperliche Botschaft gilt oder wie sexuelles Begehren genau aussieht. Aber dann sind wir wieder ganz am Anfang, denn dann definieren wir doch die sexuelle Handlung oder unser sexuelles Empfinden. Und das birgt immer auch die Gefahr, dass wir Handlungen ausgrenzen oder als pervers und abnormal deklarieren, die niemandem schaden und auch nicht moralisch verwerflich sind. Stellen wir uns nur mal vor, unser Sohn und Anna sind mittlerweile 18 Jahre alt und teilen die sexuelle Vorliebe, beim Schaukeln Händchen zu halten. Und? Wäre das so schlimm?

Ich gestehe, ich habe keine Antwort. Aber vielleicht geht es ja auch gar nicht darum, eine Antwort zu geben, sondern nur darum, ein Gespräch zu eröffnen: Darüber was Sex ist und was Sex sein könnte, wenn wir unsere gesellschaftlichen Vorstellungen von Perversität hinterfragen — natürlich nur, solange wir sicherstellen, dass unser Miteinander kommunikativ und reziprok ist und niemandem schadet. Was wir also wollen, ist vielleicht keine Antwort auf die Frage, was Sex ist, sondern welcher Sex problematisch — weil schädlich oder moralisch falsch — ist.


Hilkje Charlotte Hänel hat Anglistik und Philosophie in Göttingen, Sheffield, Berlin und Boston studiert. Im Januar 2018 hat sie ihre Doktorarbeit in Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit zum Thema Vergewaltigung erfolgreich abgeschlossen; diese Arbeit ist bei transcript erschienen. Heute arbeitet sie zu Themen des Feminismus und der sozialen Gerechtigkeit. Hilkje Hänel ist Vorstandsmitglied bei SWIP Germany und im Network of Analytic Philosophy and Social Critique und lebt in Berlin.


Literatur

Shrage, Laurie & Robert Scott Steward (Hrsg.). 2015. Philosophizing About Sex. Broadview Press.

Soble, Alan (Hrsg.). 2002. The Philosophy of Sex. Rowman & Littlefield.

Primoratz, Igor. 1999. Ethics and Sex. Routledge.

Archard, David. 1998. Sexual Consent. Westview Press.

Steward, Robert (Hrsg.) 1995. Philosophical Perspectives on Sex & Love. Oxford University Press.

Dworkin, Andrea. 1987. Intercourse. Basic Books.


[1] Christina, Greta. (2017) “Are We Having Sex Now or What?” In: The Philosophy of Sex, R. Halwani, S. Hoffman, J. Held (Hrsg.), London: Rowman & Littlefield, 31f.