Am fremden Leib erfahren

von Verena Triesethau (Leipzig)


Alle Welt redet über Sex, alle Welt hat Sex, Sex scheint etwas ganz Natürliches. Jedenfalls suggeriert der mediale Diskurs solche Annahmen, die sich auch in einer der am häufigsten gebrauchten superlativen Umschreibungen zeigt: „Sex ist die natürlichste Sache der Welt“.

Diese Berufung auf die Natürlichkeit gräbt das alte Spannungsverhältnis von Konstruktivismus und Essentialismus wieder hervor. Betrachten wir Sex aber zunächst als etwas, das wir körperlich erfahren, stellt sich die Frage nach dem Gegebenen und dem Gewordenen etwas anders und zwar danach, wie ein Verhältnis von diskursiver Herstellung und subjektiver Erfahrung gefasst werden kann. Die körperphilosophischen Überlegungen zu Geschlechtlichkeit und Sexualität von Judith Butler und Michel Foucault bewegen sich vor allem in einem konstruktivistischen Rahmen, in dem subjektive Erfahrung durch Diskurse entsteht. Dieses den Sexualitätsdiskurs bestimmende konstruktivistische Paradigma lässt bislang Sexualität als körperlich-leibliche Erfahrung weitgehend unberührt.

Wann Sex als natürlich gilt und wann nicht, ist immer schon Gegenstand gesellschaftspolitischer Aushandlungsprozesse, die sich durch die Berufung auf biologische Erklärungsmuster wie Reproduktion der Gattung, zu legitimieren sucht. Als natürlich gilt jener Sex, der den der Gesellschaft impliziten Strukturen wie vor allem Geschlechterbinarität und Heterosexualität folgt, also gesellschaftlich anerkannt und akzeptiert ist, wobei auch das Sprechen über und das Darstellen von Sex einer dieser Logik zustimmenden Reglementierung und Tabuisierung unterliegt. Normative Vorstellungen von Sex und Sexualität werden aus der Logik der patriarchal-kapitalistischen Gesellschaft hervorgebracht, entsprechend reproduziert, und determinieren damit auch die Möglichkeiten körperlicher Erfahrungen. Die Sexuelle Revolution strebte nach einer Umwälzung der repressiven Geschlechterpolitik der Nachkriegsjahre und hatte einen Wandel der Sexualmoral und eine Befreiung der Sexualität von ihren institutionellen Zwängen vorangebracht. Auch wenn die Antwort darauf, wie eine befreite Sexualität aussehen kann, noch zu erarbeiten ist, hat sich der Möglichkeitsraum für neue und andere sexuelle Erfahrungsweisen, die jenseits dieser tradierten Vorstellungen liegen, durch diesen historischen Bruch gewandelt und geöffnet. Auch der technische Fortschritt trägt zu einer Veränderung bei. Gerade die Möglichkeit der Trennung von Fortpflanzung und sexuellem Erleben durch die technologischen Entwicklungen im Bereich der Kontrazeptiva und der medizinischen Geschlechtsveränderung ließen einen anderen Umgang mit dem Körper entstehen, ein anderes Reden und Denken über Sexualität wurde möglich und auch notwendig. Formen wie das weitläufige Feld des Cybersex, die Entwicklung von Sextoys und Teledildonics justieren die Möglichkeitsgrenzen von Körperpraxen und Erfahrungsweisen neu.

Gewandelt haben sich diese Erfahrungsweisen aber auch dahingehend, dass es nunmehr scheint, als sei es die Sexualität selbst, die befreit werden müsse, und zwar von den Zwängen der Natur. Die scheinbar vollständig naturwissenschaftlich erklärbaren psychologischen, physischen und biologisch-hormonellen Mechanismen des geschlechtlichen Körpers legten einen Grundstein dafür, Sex als etwas beliebig Herbeiführbares zu betrachten. Die zeitgenössische Selbsthilfeliteratur lässt das Versprechen aufscheinen, das eigene sexuelle Erleben durch verschiedene Anwendungen, Übungen, Medikamente, Drogen und Apparaturen nach Belieben verbessern oder intensivieren zu können. Derart von der Bürde der Natürlichkeit gelöst, indem diese zur unbegrenzt formbaren Natur degradiert wird, erhält der Körper die Eigenschaft der beliebigen Veränderbarkeit, er erscheint als kontrollierbares Objekt, als Potential. Dies mündet in die Annahme, Sex sei das Produkt einer körperlichen Leistung, also eine Frage des disziplinierten Trainings und der richtigen Anwendung. Das Subjekt erfährt das Unbehagen mit dem eigenen Körper, das von der Gesellschaft mitproduziert wird, als persönliche Fehlleistung, deren Behebung sich als imperative Forderung an die Einzelnen richtet: Pimp your Sexlife!

Die Natürlichkeit von Sex zeigt sich im gesellschaftlichen Diskurs allerdings nicht nur an naturalisierten Vorstellungen wie Zweigeschlechtlichkeit, normativen Zuschreibungen, von dem, was als „natürlich“ oder pervers gilt oder der Annahme, der eigene Körper sei ein natürlicher Rohstoff. Auch das, was wir am eigenen Leib erfahren, erleben wir als natürlich, als authentisch und echt, und erheben den Anspruch, dadurch einen unhinterfragbaren Zugang zur eigenen körperlichen Erfahrung und zum Wissen über den Körper zu haben. Doch schreibt diese Form von Natürlichkeit der Sexualität diese auch fest als das Unveränderbare, als das, was uns wortlos und einfach widerfährt. Die Subjekte würden ihrem eigenen sexuellen Erleben in gewisser Weise passiv gegenüberstehen, würden ihrem Körper ausgeliefert sein. Das sexuelle Erleben scheint dabei zunächst individuell und unmittelbar. Allerdings trägt diese als authentisch wahrgenommene Körpererfahrung auch zu einer Art Leichtigkeit im Handeln bei, die nicht jede Bewegung reflektiert, die durch Übung und Wiederholung mühelos erscheint und einen selbstbestimmten Körperumgang ermöglicht.

Man könnte also sagen, dass das, was der „natürlichsten Sache der Welt“ grundlegend anhaftet, ist ihre Verwiesenheit auf die körperliche Erfahrbarkeit, die zunächst ihren Ausgang im subjektiven Erleben und eigenleiblichen Spüren nimmt, zugleich aber zu der Welt, in der die Erfahrung gemacht wird in wechselseitiger Beziehung steht. In diesem Spannungsverhältnis scheint der Körper das Scharnier zwischen subjektiver Erfahrung und gesellschaftlicher Struktur zu sein, über den die Möglichkeitsbedingungen für sexuelle Erfahrungsweisen von beiden Seiten her abgesteckt werden können. Ist Erfahrung in der Phänomenologie der Ausgangspunkt der Betrachtung, wird sie in diskuranalytischen Ansätzen als Ausdruck von gesellschaftlichen Verhältnissen gehandelt. Beide Theorien gehen also, wenn auch von verschiedenen Seiten her, von einem verkörperten Subjekt aus, das sich in einem sozialen Gefüge befindet. Das macht es interessant sie miteinander in Verbindung zu setzen. Und damit sind wir mitten drin in einem leibphänomenologischen Sexualitätsdiskurs.

Dass gerade die Phänomenologie über die Erfahrungsweisen der Sexualität Aufschluss gegeben kann, liegt ihn ihrer grundlegenden Unterscheidung zwischen Körper und Leib. Die deutsche Sprache bietet eine von der Phänomenologie aufgegriffene begriffliche Differenzierung von Körper und Leib. Etymologisch betrachtet stammt der Begriff Leib vom althochdeutschen līb [Leben, Lebensweise] und hat im mittelhochdeutschen eine Bedeutungsverschiebung erfahren hin zu līp [Leben, Körper, Magen]. Der Begriff des Leibes ist zumeist dem des Körpers gewichen. In der alltagssprachlichen Verwendung bei Wörtern wie Mutterleib, Unterleib Leibgericht oder in Redewendungen wie „Bei lebendigem Leibe begraben“, „Bleib mir damit vom Leib!“ und „Am eigenen Leib erfahren“ verbleibt jedoch ein Verweis auf die Ebene der körperlichen Empfindung und des Spürens des Körpers, und damit der lebensweltlichen Einbettung des Körpers, die etwas anderes meinen als seine bloß sinnliche Wahrnehmung. Vor allem von Maurice Merleau-Ponty, Helmuth Plessner, Bernhard Waldenfels und Hermann Schmitz wurde diese Differenzierung aufgegriffen. Dass diese Differenzierung für den Geschlechterdiskurs hilfreich scheint, hat die in der philosophiegeschichtlichen Rezeption oft vernachlässigte Phänomenologin Edith Stein als erste eingebracht. Auch Waldenfels und Merleau-Ponty grenzen sich von der traditionellen Phänomenologie ab, in der die Kategorie Geschlecht zumeist abwesend bleibt und von einem (geschlechts-)neutralen bzw. geschlechtslosen Leib ausgegangen wird. Waldenfels nimmt drei Dimensionen des Leibes an: Das Selbst, das Fremde und die Welt. Er geht damit über die klassische Trennung von Leib, als dem innerlichen Spüren und Körper, als dem äußerlich Wahrnehmbaren, hinaus. Das entscheidend Neue an seiner Theorie, die er im Anschluss an Merleau-Ponty entwickelt, ist dabei, dass die  Erfahrungsweisen nicht vom Subjekt ausgehen, sondern im Anderen oder Fremden liegen. In dieser spezifischen Leiberfahrung des Selbstseins und zugleich des Andersseins zeigt sich die Fähigkeit, den eigenen Körper als etwas von sich selbst Verschiedenes zu erleben. Daran scheint die Möglichkeit zur Antizipation dessen auf, wie ein anderes leibliches Subjekt mich erfahren, als auch wie ich eine andere Person erfahren würde. Eigenes und Fremdes sind in solcher Weise verflochten, dass der Einzelne nicht bloßes Teil des Ganzen ist, sondern sein Eigenes sich vom Fremden abhebt. Für das Verständnis der leiblichen Erfahrung ist der Andere von besonderer Bedeutung. Anders als die Husserlsche transzendentale-phänomenologische Reduktion auf das Subjekt, nimmt die phänomenologische Ausrichtung von Merleau-Ponty und Waldenfels eine Wechselbezüglichkeit zwischen Körper und Leib an, und bietet damit eine Öffnung für das Verhältnis zwischen Diskurs und Erfahrung, in der die Möglichkeit, die eigene Erfahrung, das unmittelbar Gespürte des eigenen Leibes als vermitteltes Verhältnis zu betrachten. Daran schließt die feministische Phänomenologie an, zu deren Vertreterinnen vor allem Silvia Stoller, Hilge Landweer und Sarah Heinämaa gehören. Über die eigene subjektive Erfahrung des Körpers als berührend und berührbar zugleich ist dem Subjekt über den Leib ein Reflexionsvermögen gegeben. Damit scheint Erfahrung die Bedingung der Möglichkeit der Selbst-, Fremd-, und Weltwahrnehmung zugleich zu sein. Der so intersubjektiv verstandene Leib kann hierbei als Verbindung zwischen phänomenologischen und diskursorientierten Ansätzen angesehen werden. Erfahrung erscheint darin nicht als Gegebenes, das naturalistisch abgebildet werden könnte, sondern wird verstanden als im Prozess der Intersubjektivität vermitteltes Resultat, das damit eine Offenheit für Veränderbarkeit aufweist.

Es geht darum, eine gewisse Distanz zur subjektiven Erfahrung zu finden, also nicht von der bloßen Erfahrung selbst auszugehen, sondern diese Reflexionsformen des gemeinsam geteilten Weltbezugs einzubetten. Dabei gibt es weder einen direkten Zugang zur unmittelbaren Leiberfahrung, noch einen direkten gesellschaftlichen Zugriff auf den Leib. Wie es keine unmittelbare Leiberfahrung gibt, so ist das Subjekt durch den Leib aus der unmittelbaren Gegenwart des Anderen ausgeschlossen. Selbsterfahrung ist damit immer auch Differenzerfahrung, das heißt Gesellschaft ist immer bereits in der Erfahrung enthalten. In diesem Kontext kann Sexualität verstanden werden als eine Form menschlicher Beziehung, in der, mit Waldenfels gesprochen, Leiblichkeit intersubjektiv ineinander übergreift und nicht additiv aus verschiedenen Subjekten zusammengesetzt ist. Doch genügt es Waldenfels nicht bei einer intersubjektiven Form von Beziehungen stehen zu bleiben. Denn Eigenes und Fremdes lässt sich nicht mit einem klaren Schnitt voneinander trennen. Um die Sphäre des Übergangs, des Dazwischen, zwischen den Subjekten beschreiben zu können, bedient er sich der Terminologie von Merleau-Ponty und spricht von Zwischenleiblichkeit [französisch: intercorporéité].

Die romantische Vorstellung und Umschreibung von Sex als „Verschmelzen von Körpern“ verweist bereits auf der Ebene der körperlich-leiblichen Empfindung auf diese intersubjektive Beziehung zwischen Ich und Anderem. Doch auch diese als scheinbar unmittelbar wahrgenommene gemeinsame sexuelle Erfahrung lässt sich nicht losgelöst von ihrem gesellschaftlichen und damit auch geschichtlichen und biographischen Kontext betrachten. Nicht nur wäre eine Verschmelzung von Körpern im alltagssprachlichen Sinne schlicht tödlich, sie würde ohne zwischenleibliche Perspektiv, die Erfahrung als vermittelte begreifen kann, auch das Ende der Alterität und damit der Subjektivität selbst bedeuten. Drückt sich in solchen Verschmelzungswünschen nicht zuletzt auch jene auf ewig uneinlösbare Sehnsucht nach dem Unmittelbaren aus, die sich auch in dem wechselbezüglichen Verhältnis von Körper und Leib zeigt. In dem Maße, in dem Körper und Leib sich in einer immer währenden untrennbaren Einheit befinden, ist ihre Verschiedenheit zugleich auch niemals vollständig harmonisierbar. Der Leib des Anderen bleibt mir, wie mein eigener, daher notwendig immer ein Stück weit fremd und unbegreiflich.

Da sich leibliche Erfahrungen im sexuellen Erleben jeweils sehr unterschiedlich darstellen können, kann der geschlechtliche Leib aber kein verallgemeinerbarer sein. Weder ihre Technisierung und ihre Diskursivität noch das eigenleibliche Spüren basiert auf einer rein natürlichen Sexualität, die gedacht ist als ein Art animalischer Trieb, der bloß kulturell überformt worden wäre. Sie ist immer bereits auf jeweils bestimmte Weise kulturell geformt und gewachsen, auf individueller sowie auf überindividueller Ebene. Die Befreiung der Sexualität kann demnach auch keine Forderung nach einer wie auch immer gedachten natürlichen Urform der Sexualität sein. Was wir am eigenen Leib erfahren, ist immer auch im Kontext unser Sozialität zu sehen. Auch wenn sich sexuelle Erfahrungen auf der Ebene des subjektiven Erlebens zunächst als unverfälscht, echt, eben unmittelbar darstellen, teilen sie sich doch immer vermittelt mit. In Bezug auf Sex und Sexualität ist es also nötig einen Subjekte über- und ineinandergreifenden Begriff von Erfahrung zu finden, der subjektive Körpererfahrung als authentisch ernst nimmt, die Wirkungsweisen von Anwendung und Ausformung kulturtechnischer Körperfähigkeiten mitdenkt und damit den Zugriff gesellschaftlicher Strukturzwänge auf Sexualität als Körpererfahrung einschließt. Erst dann ist Erfahrung nicht bloß Erfahrung von dem was ist, von einer vermeintlichen Natürlichkeit von Sexualität, sondern offen für Veränderung, Verschiebung und Neuentstehung.


Verena Triesethau studierte Philosophie und Linguistik an der Universität Leipzig und promoviert zu phänomenologischen Analysen sexueller Erfahrungsweisen am Institut für Kulturphilosophie in Leipzig. Ihr Forschungsinteresse liegt in den Feldern Feministische Theorie und Philosophie, Kritische Theorie und Feministischer Materialismus. Sie ist Mitbegründerin und Redakteurin des Zeitschriftenkollektivs outside the box – Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik.


Verwendete und weiterführende Literatur:

  • Bedorf, Thomas: Leibliche Praxis. Zum Körperbegriff der Praxistheorien. In: Alkemeyer, Th. et al.: Praxis denken. Konzepte und Kritik. Wiesbaden 2015
  • Gahlings, Ute: Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen. Freiburg/München 2016
  • Heinämaa, Sara: Toward a Phenomenology of Sexual Difference. Husserl, Merleau-Ponty, Beauvoir. Oxford 2003
  • Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1965
  • Oksala, Johanna: Feminist Experiences. Foucauldian and Phenomenological Investigations. Illinois 2016
  • Stoller, Silvia, et al.: Feministische Phänomenologie und Hermeneutik. Würzburg 2005
  • Waldenfels, Bernhard. Das leibliche Selbst – Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt am Main 2000
  • Wehrle, Maren: Normale und Normalisierte Erfahrung. In: Landweer, Hilge, et al.: Dem Erleben auf der Spur. Feminismus und die Philosophie des Leibes. Bielefeld 2016