Der Mythos von der sexuellen Überwältigung
von Almut Kristine von Wedelstaedt (Bielefeld)
Sex hat oft mit einem Kontrollverlust zu tun hat. Es fühlt sich manchmal so an, als würde man von sexueller Lust überwältigt, so dass man sich dieser nur ergeben kann. Das ist einerseits etwas, was Sex schön machen kann. Es ermöglicht einer unter Umständen, loszulassen, sich zu entspannen, alles andere zu vergessen, vielleicht auch sich im eigenen Körper ganz Zuhause zu fühlen. Es ist andererseits auch etwas, das Sex gefährlich machen kann. Wer die Kontrolle verliert, kann leichter verletzt werden, auf andere Arten verletzt werden, als jemand, der aufmerksam ist und alles im Blick hat. Nicht ohne Grund sind vermutlich manche der in diesem Zusammenhang genutzten Metaphern kriegerische („überwältigen“, „sich ergeben“).
Dass sexuelle Lust überwältigen kann, ist zuweilen ein Anlass für Warnungen. Immer mal wieder gibt es in „der“ Öffentlichkeit und „den“ Medien einen Aufschrei, etwa wenn die Sorge vor männlichen Erziehern in Kindertagesstätten umgeht (Vergleiche etwa „Nicht auf den Schoß nehmen!“ aus SZ Magazin 22/2014) oder Schülerinnen verboten wird, in der Schule unangemessene Kleidung zu tragen (Vergleiche beispielsweise „Zu sexy: Hotpants-Verbot in der Schule“ aus Schwarzwälder Bote, 6.7.2015). So berechtigt im einen Fall die Sorge vor sexuellen Übergriffen sein kann und so sinnvoll es im anderen Fall sein mag, sich darüber auszutauschen, was als angemessenes Auftreten in einem bestimmten Kontext angesehen werden sollte, möchte ich den Blick hier darauf lenken, das die Warnung in beiden Fällen zumindest zum Teil dadurch begründet scheint, dass Sexualität als etwas Überwältigendes erscheint. Es wird vermutet, Männer mit pädophilen Neigungen könnten sich nicht beherrschen, ebenso wie Klassenkameraden oder Lehrer.
Dem liegt ein Bild von Sexualität zugrunde, das davon ausgeht, dass sexuelle Lust, einmal entfacht, kaum beherrscht werden kann. Weil dabei von sexueller Lust gesprochen wird, als sei sie eine mythische Kraft, der weder mit Vernunft noch irgendwie sonst beizukommen sei, nenne ich das einen Mythos. Die Idee ist offenbar, dass sexuelle Lust eine solche Kraft entfaltet, dass ein sexuelles Verlangen einem zumindest den Kopf verdreht und ihm dann möglicherweise auch in Taten entsprochen werden muss, weil jemand gar nicht anders kann als einer solchen Lust nachzugeben.
Das aber ist eine Vorstellung, die eine stutzig werden lassen sollte. Denn bei welcher Lust geht man eigentlich davon aus, dass Menschen sie nicht im Griff haben können? Ein anderes Beispiel für eine körperliche Lust ist Hunger. Beim Hunger nun scheint es völlig selbstverständlich, dass Menschen ihn bis zu einem gewissen Grad im Griff haben. Natürlich können sie nicht das Haben dieses Bedürfnisses ganz abstellen, Menschen müssen essen. Aber sie können durchaus entscheiden, wie sie den Hunger befriedigen wollen. Manchmal ist zwar die Lust auf Schokoladeneis sehr groß, aber für gewöhnlich trauen wir Menschen zu, sich in diesem Gebiet beherrschen zu können, vor allem wenn sie wissen, dass mit dem Genuss von Schokoladeneis für sie oder andere schlimme Folgen verbunden sind. Nicht ohne Grund versucht man ja auch Menschen beispielsweise mit Blick auf die Klimafolgen davon zu überzeugen, dass es besser wäre, weniger Fleisch zu essen. Selbst wenn man also die Vorstellung von sexueller Lust als einer rein körperlichen Lust hätte, spräche nichts dafür, dass sexuelle Lust nur überwältigt und nicht beherrscht werden kann.
Tatsächlich spricht aber nicht einmal etwas dafür, sexuelle Lust als etwas rein oder auch nur überwiegend Körperliches zu sehen. Wie bei Hunger und anderen menschlichen Bedürfnissen auch spricht vielmehr einiges dafür, dass sexuelle Lust mentale Anteile hat. Seiriol Morgan hat anhand mehrerer Beispiele gezeigt hat, dass man schlicht nicht erklären kann, warum Menschen manchmal von Situationen besonders sexuell erregt sind, wenn man sexuelle Lust nur als Lust nach anderen Körpern und deren Berührung versteht. Es muss stattdessen eine mentale Komponente geben. Nur wenn man diese einbezieht, kann man erläutern, wieso Menschen in manchen Situationen besonders erregt sind oder auch bestimmte Arten von sexuellem Verkehr wollen, zum Beispiel Verkehr mit Fremden mit verbundenen Augen. Sexuelle Lust besteht – jedenfalls in vielen Fällen – wesentlich auch daraus.
Dann aber spricht gar nichts mehr dafür, dass sexuelle Lust eine überwältigende mythische Kraft ist. Sexuelle Lust ist nicht etwas wie ein Niesanfall bei Allergien, gegen den man nicht ankommen kann. Sie ist vielmehr etwas wie Hunger, der ein körperliches Bedürfnis ist, aber durchaus mentale Anteile hat. Das sieht man etwa daran, dass Menschen entscheiden können, wie sie ihren Hunger befriedigen wollen. Es heißt natürlich nicht, dass Menschen ihren Hunger loswerden könnten, wenn sie nur intensiv genug daran arbeiten. Ein solches Ziel wäre tatsächlich krankmachend. Aber es heißt, dass man Menschen in der Regel zutraut, ihren Hunger zu beherrschen. Und das sollte man eben auch im Bereich des Sexuellen sehen.
So erscheint sexuelles Verlangen nicht mehr als etwas, das völlig überwältigt und dem nichts entgegengesetzt werden kann. Das aber erscheint als das realistischere Bild davon. Dies wird etwa gestützt durch die Erfolge des Präventionsnetzwerks „kein täter werden“, das daran arbeitet, Menschen mit pädophilen oder hebephilen Neigungen zu ermöglichen, mit ihren Neigungen auf verantwortungsvolle Weise zu leben, so dass sie niemanden schädigen. Sexuelles Verlangen ist zwar etwas, das einen überwältigen kann. Es ist aber trotzdem auch etwas, dem man nicht völlig ohnmächtig ausgesetzt ist. Wie andere körperliche Lüste, kann man auch dieses beeinflussen, formen und ein Stück weit ändern.
Allerdings hat die Analogie von sexueller Lust und Hunger, die sich bereits bei Thomas Nagel findet, ihre Grenzen. Hunger ist das existentiellere Empfinden. Wenn der Hunger nie befriedigt wird, ist das Weiterleben nicht möglich. Wenn sexuelle Lust nie befriedigt wird, ist das – wenn auch frustrierend und vielleicht verbitternd – nicht in der gleichen Weise existenzgefährdend. Gerade das spricht aber dafür, dass sexuelle Lust erst Recht etwas ist, was beherrscht werden kann.
Manchmal jedoch ist sexuelle Lust tatsächlich überwältigend. Es gibt Fälle, in denen lässt sie sich nicht beherrschen. Da überkommt es eine und sie ist nur noch mitgerissen. Es gibt auch Fälle, wo das wieder und wieder vorkommt, in denen jemand sich nie im Griff hat. Das aber sollte nicht dazu verleiten, anzunehmen, dass das der Regelfall ist. Wie bei anderen Lüsten auch, sollte man vielmehr davon ausgehen, dass Menschen ihr sexuelles Verlangen reflektieren und im Griff haben können.
Das zu sehen, würde manche gesellschaftlich umlaufende Sorge wie die vor männlichen Erziehern oder dem, was unangemessene Kleidung im Schulunterricht anrichten könnte, weniger dringlich erscheinen lassen und so vielleicht die Möglichkeit eröffnen, sachlicher von Problemen zu sprechen, die sich aus dem Phänomen Sex ergeben. Es würde gleichermaßen heißen, dass niemand sich darauf zurückziehen kann, dass die Lust nicht beherrscht werden konnte, er oder sie einem sexuellen Verlangen nichts entgegenzusetzen hatte. Man kann von Menschen erwarten, dass sie nicht jeder Lust Taten folgen lassen. Auch hier wäre es aber sicher hilfreicher, offen über die Schwierigkeiten zu sprechen und über Möglichkeiten, trotz großer Lust standhaft zu bleiben, als das Ganze mythisch als überwältigend zu verklären. Das sexuelle Lustempfinden wird man nicht wegerziehen können und es wäre auch schade darum, weil so viel Schönes daraus entstehen kann. Aber man sollte offen darüber reden, wie man es dort zügeln kann, wo es Not tut.
Dr. Almut Kristine von Wedelstaedt ist Koordinatorin für Qualitätsmanagement, Studienorganisation und Leitung an der Abteilung Philosophie der Universität Bielefeld. Sie arbeitet im Bereich der praktischen Philosophie, hat mit einer Arbeit zur narrativen Identität von Personen promoviert und beschäftigt sich derzeit insbesondere mit Fragen der Moralbegründung.