Warum experimentieren wir nicht?
von Bernward Gesang (Mannheim)
Dass etwas faul ist im Staate, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Der Klimawandel schreitet voran, die Politik erweist sich als unfähig, angemessen zu reagieren, denn das demokratische Ringen um Kompromisse zersetzt zum Beispiel jedes „Klimapaket“. Unsere westlichen Demokratien begeistern zudem die meisten ihrer Bürger nicht mehr. Viele fühlen sich nicht mehr durch das System repräsentiert. Politik kann nichts mehr bewegen. Sie ist auf kurzfristige Balancierung der mächtigsten Interessen abonniert, verliert auf diesem Weg die Herzen der Bürger und überlastet zudem den Planeten ökologisch. „Demokratiemüdigkeit“ nennt sich ein Teil des Phänomens. Das bringt das subjektive Empfinden vieler Bürger auf den Punkt. Dagegen mobilisieren sich basisdemokratische Volksbewegungen, „Occupy“, „Pulse of Europe“, „Piraten“ usw., aber diese Bewegungen verebben und finden keinen Hebel, um das System zu ändern. Ob „Fridays for future“, deren Anliegen nicht basisdemokratisch ist, hier eine Ausnahme machen, muss sich noch zeigen.
Objektiv gesehen, steht eine ungeeignete „Steuereinheit“ aus oft uninformierten Bürgern und zu oft dilettantischen Politikern einer immer komplexeren, globalisierten Welt gegenüber, in der Entscheidungen auf Jahrzehnte und länger wirken und die wir durch unser Wirtschaften ruinieren. Das alles ist ebenso traurig wie bekannt.
Was aber tun? Basisdemokratie wird oft beschworen, aber nach dem Brexit wird man gewahr, welch aberwitzige Entscheidungen da drohen. Und objektiv bringt es wenig, den schlecht informierten und oft egozentrischen Wähler, zum Alleinherrscher zu machen. Also lassen die Beschwörungen nach. Die Regierungen gefallen sich zwischenzeitlich in neuen Koalitionen des Immergleichen, als würden sich alle Probleme auflösen, wenn man sie nach dem bewährten Kohl-Merkel-Rezept aussitzt. Aber gerade um die Demokratie zu erhalten, muss man sie reparieren und an die Zeit anpassen. D.h. mit neuen Institutionen jenseits der Basisdemokratie experimentieren.
Dabei gibt es einige Rezepte im Arzneischrank, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, die Neuland betreten. (Der „Sachverständigenrat für Umweltfragen“ (SRU) hat zudem gerade ein Sondergutachten veröffentlicht, in dem Optimierungen des bestehenden Systems durchdacht werden.)
Führerschein für Politiker“: Eine Grundausbildung für Politiker, die sich zu Wahl stellen, ist in unseren vernetzten Zeiten dringend geboten. Unsere komplizierte Welt reagiert auf Eingriffe bockig: Auf A folgt nicht immer B und dann brav C, sondern es gibt Wechselwirkungen zwischen A und C und A und E, ehe dann B folgt usw. Wer Systeme schlecht einschätzen kann, sollte nicht an ihnen herumpfuschen. In Computersimulationen kann man vernetztes Denken lernen und auch andere Denkfehler, auf die der Nobelpreisträger D. Kahneman dieser Tage hinweist, lassen sich durch Training oder Selektion verhindern. Genau das sollte passiert sein, ehe man gewählt werden darf. Immerhin fordern wir heute schon von jedem Schulleiter eine spezielle Fortbildung. Wieso nicht für Politiker? Auch in ethischer Hinsicht kann man hier etwas bewirken. Zwar klappt es immer noch nicht, jemandem ein gutes Herz anzuerziehen, wenn er´s nicht hat. Aber Konflikte so zu analysieren, dass man alle betroffenen Interessengruppen erfasst, auch die entfernten und verborgenen, kann man lernen. Jedenfalls ließe sich die Sicherheit auf der Welt erheblich erhöhen, wenn man amokfahrende Politiker wie Berlusconi, Bush oder Trump vielleicht schon anhand ihrer eigenen Dummheit verhindern könnte.
Partizipative Gesetzgebung: Es gibt den Vorschlag, die Bürger zu aktivieren, indem man bei wichtigen Gesetzesvorhaben repräsentativ ausgeloste Bürger mitentscheiden lässt, die zuvor mit Informationen, Positionen und Hintergründen traktiert wurden. Da gibt es schon einige Vorerfahrungen in Kanada, Irland und neuerdings in Baden-Württemberg. Mit dem Votum dieser Ausgelosten kann man verschiedenartig umgehen: Es nur beratend hören, Gesetze von Zustimmung abhängig machen oder ein Vetorecht im Gesetzgebungsprozess damit verbinden. Die Absicht dahinter ist klar: aus Eisen soll Gold werden: Der uninformierte Normalbürger soll sich zum Diener des Allgemeinwohls verwandeln. Zudem sollen das Gefühl der Machtlosigkeit und das „innere Absterben“ in müden Demokratien bekämpft werden.
Mit diesen Methoden, würde man schon mal helfen, dass das, was die Bürger wirklich wollen, auch ausgeführt wird. Aber natürlich löst das die Probleme nur zum Teil. Leider wollen viele Bürger und Politiker vorrangig ihr eigenes Wohl und das der ihnen Nahestehenden sichern. Zukünftige Generationen haben jedenfalls keine Priorität. Dies ist die größte Anspruchsgruppe und wir spielen ihr am Übelsten mit, da sie leider machtlos ist. Unser diesbezügliches Versagen verursacht viel mehr Leid als etwa der 2. Weltkrieg.
Es gibt demokratische Institutionen, die dem entgegenwirken, indem sie sich nicht nur aus dem Willen der Mehrheit, sondern aus Verfassungswerten wie der Menschenwürde rechtfertigen. Zukunftsinteressen sollen ebenso wie Individualrechte geschützt sein, die nicht mit Mehrheit abgewählt werden können:
Verfassungsrecht: Manche meinen, den Zukunftsinteressen sei mit juristischen Instrumenten, etwa mit Verfassungsrecht, zu helfen. Man könnte über ein neues Staatsziel nachdenken. Allerdings verweist man damit Politik ans Verfassungsgericht, dass sich häufig aus nachvollziehbaren Gründen weigert, inhaltlich Politik zu gestalten.
Ombudsmann: Es wird derzeit viel über ein Modell diskutiert (so auch im SRU-Gutachten), das in Ungarn 2008-2012 seine Blütezeit hatte. Das Parlament setzte dort einen „Sekretär für die Rechte zukünftiger Generationen“ ein. Dieser hatte das Recht, Informationen zu erhalten und zu veröffentlichen, Gesetzesvorlagen ins Parlament einzubringen und dort zu begründen und zu guter Letzt hatte er ein Vetorecht gegen Gesetze, die zu Lasten der Zukunft gingen. Sein Job war es, anhand der Grundbedürfnisse ferner Generationen wie saubere Luft und Nahrung deren Interessen vorherzusagen und diese vor Katastrophen zu bewahren. Zwar wäre eine globale Instanz besser, um die Probleme zu lösen, aber solange wir die nicht haben, könnten auch schon nationale Instanzen in möglichst vielen Staaten helfen. Man kann das Vetorecht als zu stark kritisieren ( im SRU-Gutachten wird für ein suspensives Veto plädiert), aber es zeigte sich in Ungarn, dass es nur als ultima ratio eingesetzt wurde (genau einmal) und die Parteien im Vorhinein ihre Politik anpassten. Werden dann ökologische Interessen ohne Bezug aufs „Ganze“ bevorteilt? Aber unterm Strich unternehmen wir derart viel fürs „Ganze“ (d.h. meist Wirtschaftsinteressen), dass ein im Einzelfall übertrieben scheinendes Gewicht der Ökologie die Gesamtbilanz trotzdem in die richtige Richtung verschieben wird. Vieles ließe sich für und gegen eine solche Institution vorbringen. (vgl. Gesang, B. (Hg.), 2014: Kann Demokratie Nachhaltigkeit?, Wiesbaden, Springer VS) Jedenfalls erhält die Zukunft so ein Stimmrecht, um als schwächste Lobby etwas mehr Waffengleichheit im Kampf der Interessen zu gewinnen.
Was nun eigentlich verwunderlich ist: wir denken und fordern fleißig, aber experimentieren oder gar Neues umsetzen, tut fast niemand. Es gehört eben leider zum Problem, dass unsere Demokratie nicht fähig ist, größere Selbstkorrekturen durchzuführen. De facto sind Projekte wie eine einheitliche Rechtschreibreform eine Überforderung, da stets Interessen abgewogen und ausgeglichen werden. Wie den Knoten durchschlagen? Es bleibt kein anderer Weg, als über Volksbewegungen von unten. Diese müssen aber nicht nur Widerstand organisieren, „gegen Kapitalismus“, „gegen Ausbeutung“ und „gegen Rechts“ sein. Nein, das verpufft. Dagegen zu sein, ist zu billig. Es gehört dazu, sich z.B. für die konkreten Vorschläge aus obiger Liste einzusetzen und nicht eher zu ruhen, bis sie Wirklichkeit werden. D. h. konkret auf die Agenda von „Fridays for Future“ (https://fridaysforfuture.de/forderungen/) gehört die Forderung, die demokratischen Institutionen selbst zu reformieren.
Bernward Gesang ist ordentlicher Professor für Philosophie und Wirtschaftsethik an der Universität Mannheim. Ein aktueller Schwerpunkt in Forschung und Lehre ist die Frage, wie man unsere Gesellschaft in eine nachhaltige transformieren kann und wie sich eine solche Transformation ethisch rechtfertigen lässt. Daraufhin werden etwa Unternehmens-, Konsumenten-, Investorenverhalten und andere Felder vergleichend untersucht. Zudem werden die Rechtfertigungsmöglichkeiten für dieses Tranformationsvorhaben durch verschiedene Konzepte der normativen Ethik aufgegriffen und politische und institutionelle Hindernisse für dieses Projekt identifiziert.