Herrschaft und Knechtschaft: Hegel über „Gestalten“ und „Weisen“ des Bewusstseins
von Florian Heusinger von Waldegge (Stuttgart)
Die Metapher von „Herr und Knecht“ gilt als eines der zentralen Motive im Werk Hegels. Bis heute wird jedoch kontrovers um ihre Ausdeutung gestritten, wobei sich innerhalb der philosophischen Forschung vornehmlich zwei konkurrierende Interpretationsweisen unterscheiden lassen: Der interpersonale Interpretationsansatz geht davon aus, dass Hegel auf soziale (Anerkennungs-) Verhältnisse verschiedener Personen anspielt. Der intrapersonale Interpretationsansatz sieht dagegen eine Analogie zum Verhältnis von Leib und Seele bzw. Denken und Handeln. Beide Lesarten haben ihre Berechtigung. Aber beide scheinen auch eine wichtige und überaus moderne Pointe der hegelschen Philosophie zu übersehen, wie in diesem Beitrag gezeigt werden soll.
Es wird oft (und zu Recht!) behauptet, dass Hegels Texte sehr schwer zugänglich seien. Das liegt jedoch nicht nur daran, dass Hegel einen etwas verschwurbelten Schreibstil hatte, über den sich schon seine Zeitgenossen mokierten. Vielmehr war er brillanter Kenner der Philosophiegeschichte und besonders vernarrt auf die altgriechische Sprache und Philosophie. Viele aus heutiger Sicht vollkommen unverständliche Sätze und Redewendungen sind Anspielungen an die altgriechische Sprache und Philosophie. Ich habe entsprechend an anderer Stelle argumentiert, dass die Metapher von Herr und Knecht ein stilistisches Mittel ist, um die typisch-neuzeitliche Vermögenspsychologie zu kritisieren und um eine aristotelische Alternative zu formulieren.[1]
Aber so detailliert kann der Argumentationsgang im Rahmen eines Blogbeitrages nicht rekonstruiert werden. Wichtig ist aber, dass Hegel die Metaphorik innerhalb der Phänomenologie des Geistes zum Thema „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins“ einführt (PhG 145). Damit wird auf das philosophische Problem angespielt, wie sich ein Subjekt erkennend auf das objektbezogene Erkennen beziehen kann – und eben dies führt schon zu der Metaphorik: Denn es war im neuzeitlichen Philosophiediskurs üblich, Menschen als Träger verschiedener Vermögen zu begreifen, die untereinander hierarchisiert und über die Metapher von Herr und Knecht veranschaulicht wurden: So heißt es etwa in David Humes Traktat über die menschliche Natur, dass die Vernunft „Sklave der Leidenschaften“ sei. Sein Zeitgenosse Jean-Jacques Rousseau erklärt in Emile den sozialen Widerstreit über den Kampf menschlicher Vermögen, durch den man zum „Sklave der eigenen Leidenschaften“ oder durch die Vernunft zum „eigenen Herrn“ wird. Auch nach Kant soll der Mensch metaphorisch gesprochen „sein eigener Herr“ sein.[2] Gleichzeitig unterscheidet er zwischen der Sinnlichkeit (als dem Vermögen der Anschauung), dem Verstand, der Urteilskraft und der Vernunft (als den Vermögen der Begriffe, Urteile und Schlüsse) oder zwischen dem Willen (als dem Vermögen, nach Prinzipien zu Handeln) und der Willkür (als dem Vermögen nach Belieben zu Handeln). Dabei hierarchisiert er zwischen oberen und niederen Vermögen, die aufgrund ihrer Selbst- oder Unselbständigkeit durch die Begriffspaare Spontaneität/Rezeptivität, bzw. Autonomie/Heteronomie gekennzeichnet werden. Hegel polemisiert u.a. im Vernunftkapitel der Phänomenologie des Geistes gegen eine solche Auffassung:
„Die beobachtende Psychologie, welche zuerst ihre Wahrnehmungen von den allgemeinen Weisen, die ihr an dem tätigen Bewußtsein vorkommen, ausspricht, findet mancherlei Vermögen, Neigungen und Leidenschaften, und indem sich die Erinnerung an die Einheit des Selbstbewußtseins bei der Hererzählung dieser Kollektion nicht unterdrücken läßt, muß sie wenigstens bis zur Verwunderung fortgehen, daß in dem Geiste, wie in einem Sacke, so vielerlei und solche heterogene, einander zufällige Dinge beisammen sein können […].“ (PhG 136)
Hegel gibt zwar in der Phänomenologie des Geistes zu, dass das Denken zunächst als ein Vermögen neben anderen, wie „Sinnlichkeit, Anschauen, Phantasie usf., Begehren, Wollen usf.“ erscheint (EPW I. § 20), er macht aber an verschiedenen Stellen seines Werkes geltend, dass solche Begriffe nicht verschiedene Vermögen, sondern „Weisen des Bewusstseins“ (PhG 136) oder „Weisen des Denkens“ beschreiben. So besteht er etwa in der Rechtsphilosophie darauf, dass wir nicht in der „einen Tasche das Denken und in der anderen das Wollen“ haben:
„Der Unterschied zwischen Denken und Willen ist nur der zwischen dem theoretischen und praktischen Verhalten, aber es sind nicht etwa zwei Vermögen, sondern der Wille ist eine besondere Weise [Hervorhebung durch mich] des Denkens.“ (GPR §4)
Im Sinne Hegels handelt es sich also bei Begriffen wie Verstand, Vernunft, Sinnlichkeit usw. nicht um Substantive, die verschiedene Vermögen bezeichnen, welche im Erkenntnis- bzw. Handlungsprozess aufeinander bezogen werden. Vielmehr handelt es sich um Adverbialsubstantivierungen, die „Weisen“, oder modern formuliert, Modi des Wissens bzw. des (begrifflichen) Denkens beschreiben. Die Pointe der Argumentation besteht darin, dass jedes Begehren, jedes Handeln, jedes Wahrnehmen usw. begrifflich vermittelt, bzw. durch unser begrifflich vermitteltes Vorwissen strukturiert ist. Denn erst Begriffe prägen unsere Wahrnehmung und geben uns Handlungsgründe, wie Hegel an verschiedenen Stellen seines Werkes betont.
Aber nun zur Bildsprache: Hegel greift die Metaphorik von Herr und Knecht aus dem zeitgenössischen Diskurs auf, um erstens auf die aporetische Problemstruktur des Selbstbewusstseins hinzuweisen. Denn dieses wird notwendigerweise sowohl als selbständig und aktiv wissend, als auch als unselbständig und passiv gewusst vorgestellt. Zweitens und damit zusammenhängend thematisiert er das Verhältnis von Selbständigkeit und Unselbständigkeit. Es ist kein Zufall, dass er diese Begriffe verwendet und nicht die üblichen dichotomischen Entgegensetzungen: Aktive Vernunfttätigkeit vs. passive Sinneseindrücke, spontanes Denken vs. rezeptive Wahrnehmung, autonomes Handeln vs. heteronomes Verhalten. Hegel versucht diese problematischen Gegensätze vielmehr mithilfe der Metaphorik zu unterlaufen.
Bildlich gesprochen sind Herr und Knecht „Gestalten des Bewußtseins“ (PhG 150). Die Begierde des Herrn steht dabei für den Anspruch des Denkens und Handelns, sich selbständig auf die Welt zu beziehen, und diese nach den eigenen Ansprüchen zu bestimmen und zu gestalten. Die Arbeit des Knechts dagegen steht für die Widerstände, an denen sich das Subjekt dabei sprichwörtlich abarbeiten muss. Es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass einige Textpassagen eine eher interpersonale Lesart und andere eine eher intrapersonale Lesart nahelegen. Schließlich gibt es im Sinne Hegels – wie oben bereits gezeigt – keine kategoriale Unterscheidung zwischen Denken und Wollen. Hegel löst vielmehr das Problem des Verhältnisses von Selbständigkeit und Unselbständigkeit, im Kontext seiner Theorie der Bildung, wie an einem einschlägigen Zitat gezeigt werden kann:
„Die Arbeit hingegen ist gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden, oder sie bildet. […] das arbeitende Bewußtsein kommt also hierdurch zur Anschauung des selbständigen Seins als seiner selbst.“ (PhG 154)
Hegel nutzt die zeitgenössische Metaphorik, um die dichotomische Entgegensetzung von Selbständigkeit und Unselbständigkeit zu unterlaufen: Die Arbeit des Knechts ist die „gehemmte Begierde“ des Herrn. Dabei bildet sich das Bewusstsein durch die Arbeit und wird sich so seiner Selbständigkeit bewusst. Selbständigkeit und Unselbständigkeit (oder bildlich gesprochen: die Begierde des Herrn und Arbeit des Knechts) bezeichnen also nicht verschiedene Vollzüge oder Aktualisierungen verschiedener Vermögen, sondern zwei Aspekte, die an der Tätigkeit des Bewusstseins, bzw. des Denkens unterschieden werden müssen.
Auch dies impliziert eine moderne Pointe: Im Kontext der typisch neuzeitlichen Vermögenspsychologie bezeichnen Begriffe wie Spontaneität oder Autonomie Vermögen bzw. Eigenschaften von Vermögen. So ist etwa bei Kant die Spontaneität das Vermögen „Vorstellungen hervorzubringen“, während Autonomie eine (erlernte) „Eigenschaft des Willens“ ist (nämlich diejenige, sich selbst ein Gesetz zu sein). Hegel macht dagegen geltend, dass das begriffliche Denken, zusammen mit dem (begrifflich vermittelten) Wahrnehmen und Handeln gebildet werden muss, um selbständig sein zu können. Damit löst er auch das von Kant formulierte Paradox der Erziehung: Die Frage, wie man „die Freiheit bei dem Zwange“ kultiviert stellt sich nicht, da Autonomie nicht das Resultat eines gelingenden Erziehungsprozesses sein kann. Schließlich ist man nicht per se autonom oder selbständig. Vielmehr ist das eigene Tun in genau denjenigen Kontexten selbständig, in denen man die natürliche Umwelt und die soziale Mitwelt angemessen begriffen hat und dementsprechend die eigenen Handlungsmöglichkeiten kennt. Hegel entfaltet erst später an verschiedenen Stellen in seinem Werk eine kritische Theorie der Bildung, die zeigt, wie der subjektive Wille, durch die „Arbeit der Bildung“ Objektivität gewinnt (GPR § 187). Dazu muss er eine weitere Dichotomie unterlaufen – nämlich die zwischen Bildung und Erziehung – aber das ist ein anderes Thema …
Dr. Florian Heusinger von Waldegge ist Lehrer für Ethik und Geschichte/Gemeinschaftskunde in Stuttgart und hat zum Thema „Das Problem moralischen Wissens – ethischer Relationalismus in Anschluss an Hegel“ promoviert. (https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-4003-8/das-problem-moralischen-wissens/)
Siglen: (jeweils zitiert nach der Suhrkampausgabe)
PhG: Phänomenologie des Geistes
GPR: Grundlinien der Philosophie des Rechts
EPW: Enzyklopädie
der philosophischen Wissenschaften
[1] Florian Heusinger von Waldegge (2017): Das Problem moralischen Wissens. Ethischer Relationalismus in Anschluss an Hegel. Bielefeld: transcript; hier: S. 208ff.
[2] George Armstrong Kelly (1973), „Bemerkungen zu Hegels ‚Herrschaft und Knechtschaft‘“, in: Materialien zu Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘, hg. v. H.F. Fulda/D. Henrich, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 189–216; hier S. 203 f.