Wir wissen genug
Von Anne Burkard (Göttingen)
Die Komplexität der Klimawissenschaften und der ethischen Fragen, die durch die Klimakrise aufgeworfen werden, können zu lähmenden Zweifeln führen. Benötigen wir nicht größere Sicherheit in den wissenschaftlichen Ergebnissen und bessere normative Orientierung, bevor wir sagen können, ob und wie wir uns im Kampf gegen den Klimawandel engagieren sollen? Doch philosophische Reflexion kann uns zeigen: Wir wissen genug. In diesem Beitrag skizziere ich, wie dies möglich ist, obwohl die Philosophie häufig gerade dadurch charakterisiert wird, dass sie Zweifel erzeugt. Ich zeige auf, wie insbesondere ethische Reflexion zu dem Ergebnis führen kann, dass wir genug wissen, um im Hinblick auf die Klimakrise bestimmte grundlegende Zweifel begründet zurückzuweisen – und um zu erkennen, dass wir verpflichtet sind, jetzt zu handeln.
Empirische Grundlagen
Zweifel daran, ob wir ethisch verpflichtet sind, uns im Kampf gegen die Klimakrise zu engagieren, werden bisweilen mit Verweis auf fehlende empirische Grundlagen begründet. Nun gibt es Formen der Leugnung des menschengemachten Klimawandels, die offenkundig irrational sind oder auf gezielten Desinformationskampagnen beruhen. Es ist viel dazu geschrieben worden, wie jahrzehntelang durch ökonomische und politische Interessen geleitet systematisch Zweifel am Klimawandel gesät wurden (vgl. z.B. Oreskes/Conway 2010). Doch auch wenn man diese Form des gezielt erzeugten und rational nicht aufrechtzuerhaltenden Zweifels außer Acht lässt, sind immer wieder Stimmen zu hören, die vor einer naiven und vorschnellen Reaktion auf die Ergebnisse der Klimawissenschaften warnen und bestehende Unsicherheiten hervorheben.
So kritisierte z.B. Carl Friedrich Gethmann kürzlich bei einer Tagung des Deutschen Ethikrates die scheinbare Unterstellung eines Infallibilismus in politischen Äußerungen zum Klimawandel. Mit Blick auf die Berichte des Weltklimarates (IPCC) sagte er zur Stützung dieser Kritik: „Wir diskutieren auf Basis des Fünften Sachstandsberichts des IPCC […]. Warum diskutieren wir nicht auf Basis des Ersten Sachstandsberichts, der in fünfter Auflage erschienen ist? […]. [W]eil unser Wissen sich einfach fortentwickelt hat in der Zeit und weil wir damit rechnen, dass es auch einen Sechsten Sachstandsbericht geben wird […], der wieder Lücken schließt […]; jeder Lückenschluss ist ja schon eine Art Revision.“ (S. 52 der Transkription auf der oben verlinkten Seite des Ethikrats)
Dass wissenschaftliche Erkenntnisse fallibel sind, ist in der Tat eine alte und wichtige Einsicht der Wissenschaftstheorie. Wenn hierüber in der Öffentlichkeit Unwissenheit herrscht, lässt sich dies missbrauchen, um Zweifel zu sähen: „If someone tells us that things are uncertain, we think that means the science is muddled. This is a mistake. There are always uncertainties in any live science, because science is a process of discovery. […] Doubt is crucial to science […], but it also makes science vulnerable to misrepresentation.” (Oreskes/Conway 2010, S. 34).
So wichtig der Verweis auf die Fehlbarkeit der Wissenschaften also ist, so können Warnungen wie jene Gethmanns doch ihrerseits zu unangemessenen Zweifeln beitragen. Denn die zentralen Revisionen in den Berichten des Weltklimarates, die er anführt, weisen eine eindeutige Richtung auf: Die Erkenntnisse über Mechanismen und Folgen des Klimawandels nehmen in Umfang und Fundierheit zu, und die Warnungen vor den Auswirkungen des Klimawandels werden dringlicher und entschiedener. Es gibt tatsächlich keine rationale Grundlage, an der Stoßrichtung zentraler Aussagen der letzten Berichte des Weltklimarates zu zweifeln.[1] Um nur drei dieser Aussagen herauszugreifen:
- „Menschliche Aktivitäten haben etwa 1,0 °C globale Erwärmung gegenüber vorindustriellem Niveau verursacht […]. Die globale Erwärmung erreicht 1,5 °C wahrscheinlich zwischen 2030 und 2052, wenn sie mit der aktuellen Geschwindigkeit weiter zunimmt.“
- „Klimabedingte Risiken für Gesundheit, Lebensgrundlagen, Ernährungssicherheit und Wasserversorgung, menschliche Sicherheit und Wirtschaftswachstum werden laut Projektionen bei einer Erwärmung um 1,5 °C zunehmen und bei 2 °C noch weiter ansteigen.“
- „Pfade, welche die globale Erwärmung ohne oder mit geringer Überschreitung auf 1,5 °C begrenzen, würden schnelle und weitreichende Systemübergänge in Energie-, Land-, Stadt- und Infrastruktur- […] sowie in Industriesystemen erfordern.“ (IPCC 2018, S. 2f.)
Ungeachtet der großen Komplexität und der Fehlbarkeit der wissenschaftlichen Ergebnisse wissen wir demnach genug darüber, dass der Klimawandel maßgeblich menschengemacht ist, darüber, dass die globale Erwärmung wahrscheinlich in ein bis drei Jahrzehnten 1,5 °C erreichen wird, wenn nicht unmittelbar weitreichende Änderungen unserer Lebensweise in den Industrieländern in Angriff genommen werden, und darüber, dass die Erwärmung mit massiven Gefahren und Schäden für den Menschen und seine Lebensgrundlage einhergeht, die zudem global extrem ungleich verteilt sein werden.
Aber in welchem Sinne sind diese und die weiteren Erkenntnisse, die unter anderem in den Berichten des Weltklimarates zusammengetragen werden, „genug“? Klarerweise gibt es in den Klimawissenschaften unzählige offene Fragen, die es weiter zu erforschen gilt (vgl. dazu auch Fritz Reuswig in diesem Blog). Das soll hier selbstverständlich nicht bestritten werden. Doch inwiefern wir in einem ethisch relevanten Sinne genug wissen, lässt sich mit Bezug auf einige grundlegende Überlegungen aufzeigen.
Ethische Grundlagen
Vieles in der Ethik ist umstritten, und wie in den Klimawissenschaften haben wir es bei klimaethischen und mit diesen zusammenhängenden politischen Fragen mit hoch komplexen Herausforderungen zu tun. Welche moralischen Pflichten uns im Hinblick auf die Klimakrise erwachsen, ist daher nicht nur angesichts offener empirischer Fragen im Detail schwer zu beantworten, sondern auch vor dem Hintergrund ungeklärter und strittiger Fragen in der Ethik. Dass dies dennoch keinesfalls umfassende Zweifel rechtfertigt, können wir sehen, wenn wir uns einige grundlegende, in der philosophischen Ethik weithin akzeptierte normative Urteile vor Augen führen:
- Wir sind prima facie verpflichtet, andere Menschen nicht zu schädigen, insbesondere dann nicht, wenn sie unschuldig und verletzlich sind.
- Wir sind prima facie verpflichtet, Menschen in Notlagen zu helfen, insbesondere dann, wenn die Notlagen unverschuldet sind, wenn es um grundlegende Interessen geht und wenn die Hilfeleistung uns nicht überfordert.
- Wir sind prima facie verpflichtet, Handlungen zu unterlassen, die mit sehr großen Risiken verbunden sind, welche mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreten.
Diese Liste ethischer Urteile kann im Rahmen verschiedener Theorien unterschiedlich ausformuliert, präzisiert, begründet und ergänzt werden. Die genannten Pflichten könnten z.B. auf ein oberstes ethisches Prinzip zurückgeführt werden, man könnte sie im Rahmen einer konsequentialistischen oder einer deontologischen Ethik ausbuchstabieren, oder man könnte sie in eine Rangfolge bringen, die in Konfliktfällen eine Gewichtung der Pflichten ermöglicht. Doch die Liste kann bereits in dieser Form zur Verdeutlichung der Beobachtung dienen, dass wir genug wissen, um eine grundlegende ethische Pflicht im Zusammenhang mit der Klimakrise zu begründen.[2]
Denn die skizzierten wissenschaftlichen Erkenntnisse zeigen, dass Menschen heute und zukünftig massiv durch die menschengemachte globale Erwärmung geschädigt werden, dass insbesondere ärmere Menschen in Ländern des globalen Südens unverschuldet in große Notlagen geraten und dass die Fortführung gegenwärtiger Lebensweisen in Industrieländern mit sehr hohen Risiken für Mensch und Natur verbunden ist, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreten werden. Wir wissen, dass ohne eine massive Reduktion von Treibhausgasen und ohne eine umfangreiche Unterstützung von Anpassungsmaßnahmen in besonders betroffenen Regionen Menschen durch Handlungen Anderer auf ethisch nicht zu verteidigende Weise geschädigt werden, und dass somit Hilfeleistungen ausbleiben, die ethisch geboten sind.
Diese Feststellungen allein reichen zwar nicht aus, um bestimmten Individuen moralische Pflichten zuzuschreiben, und für die Formulierung konkreter Pflichten wären spezifischere empirische und ethische Grundlagen nötig. Aber bereits einige wenige Ergänzungen erlauben die allgemeine Schlussfolgerung, dass wir in einem ethisch relevanten Sinne genug wissen:
Moralische Verantwortung und damit moralische Verpflichtungen lassen sich plausibel nach dem Verursacher- und dem Leistungsfähigkeitsprinzip verteilen (vgl. Birnbacher 2016, Kap. 5): Denjenigen, die Schäden verursachen, und denjenigen, die die Möglichkeit haben, Schäden zu beheben, kommen Verpflichtungen zu, die schädigenden Handlungen zu unterlasen oder Schäden zu beheben. Im Falle von Schädigungen aufgrund des Klimawandels brauchen wir für die Zuschreibung einer grundlegenden Pflicht, aktiv zu werden, nicht zu klären, welches dieser Prinzipien ggf. Vorrang hat und welche spezielleren Pflichten sich aus ihnen ableiten ließen. Denn diejenigen, die besonders große Schäden verursachen, und diejenigen, die Schäden besonders gut beheben können, sind häufig dieselben Personen(gruppen): hinreichend wohlhabende Menschen, die in reichen Industrienationen leben. Sie – wir – verbrauchen besonders viele Ressourcen und sind für einen deutlich überdurchschnittlich hohen Ausstoß von Treibhausgasen verantwortlich. Damit zählen sie und wir zu den Verursachern, die zur Schädigung von Menschen beitragen. Zugleich verfügen sie, verfügen wir über überdurchschnittlich umfangreiche finanzielle Ressourcen, politische Freiheiten, Macht und andere Möglichkeiten, um gegenwärtige und zukünftige Schäden zu beheben oder zu verhindern. Damit zählen wir zu den ‚Leistungsfähigen‘, die Menschen in unverschuldeten Notlagen helfen können.
Eine in der Klimaethik viel diskutierte Frage ist die, ob es angesichts der bloß minimalen Beiträge, die Individuen zur Klimaerwärmung beitragen, tatsächlich plausibel ist, individuelle Verantwortung zuzuschreiben (vgl. z.B. Sinnott-Armstrong 2010; Almassi 2012). Doch ist es zumindest bei Anwendung des Leistungsfähigkeitsprinzips gar nicht nötig, kausale Verantwortung für verursachte Schäden zuzuschreiben. Auf die verwandte skeptische Frage, ob den meisten von uns nicht auch nach diesem Prinzip kaum individuelle Pflichten zukommen können, da unser Beitrag zur Behebung oder Verhinderung der Schäden so gering wäre, möchte ich dreierlei antworten.
Erstens: Die Bandbreite möglicher Handlungsweisen in Reaktion auf die Klimakrise, die vielen Menschen aus reichen Industrienationen gegenwärtig zur Verfügung stehen, ist sehr groß. Dazu zählen: eine deutliche Verkleinerung des eigenen ökologischen Fußabdrucks durch Änderungen des individuellen Lebensstils; wissenschaftliche oder ethische Aufklärung und Reflexion im eigenen Umfeld; die Teilnahme an und Initiierung von Protesten unterschiedlichster Form mit dem Ziel, mächtige(re) politische und ökonomische Akteure zur Schaffung neuer Strukturen zu bewegen, die ein klimafreundliches Leben ermöglichen; das Investieren von Geld in Projekte und Strukturen, die den Klimaschutz fördern; ein entsprechendes Wahlverhalten und politischer Aktivismus; das Schaffen von Literatur und anderer Kunst, die Menschen zum Handeln bewegen kann; das Voranbringen von Forschung in den diversen Wissenschaften, die zur Bewältigung der Klimakrise beitragen können – nicht nur in den Natur- und Ingenieurswissenschaften, in Soziologie, Ökonomie, Politikwissenschaft oder Psychologie, sondern auch in der Ethik, der Politischen Philosophie und der Wissenschaftstheorie.
Zweitens: Wie wirkmächtig einzelne Handlungen sind, können wir häufig nicht absehen. Das zeigt nicht zuletzt die Entstehung neuer Bewegungen wie Fridays for Future oder Extinction Rebellion, die in kurzer Zeit einen politischen Druck unerwartbaren Ausmaßes entwickeln konnten. Wer über wieviel Macht und Handlungsoptionen verfügt, ist zu einem gegebenen Zeitpunkt somit keineswegs klar. Wenn die Bedingungen günstig sind, können auch eine sechzehnjährige Schülerin wie Greta Thunberg oder eine Handvoll Sozial- und Geisteswissenschaftler*innen wie die Gründungsgruppe von Extinction Rebellion in Großbritannien Bewegungen initiieren, die dazu in der Lage sind, das Meinungsklima maßgeblich zu ändern und auch konkrete Politik zu beeinflussen. Grundsätzlich ist die Forderung nach Gewissheit als Voraussetzung für verantwortliches Handeln gerade angesichts großer Risiken vollkommen unangemessen (vgl. auch Corner et al. 2015).
Und drittens: Ohne, dass Individuen wie wir aktiv werden (oder bleiben), um gegen die Klimakrise zu kämpfen, ist es unmöglich, sie zumindest abzumildern. Selbstverständlich können Einzelne wenig bewirken, die meisten von uns werden auch bei großer Anstrengung nur einen minimalen Beitrag leisten. Wir benötigen klarerweise umfassende politische, ökonomische und kulturelle Änderungen von Strukturen im globalen Maßstab. Doch ebenso klar ist, dass ohne individuelle Handlungsveränderungen, ohne politische Initiativen Einzelner, die Klimakrise mit all den Schädigungen, Notlagen und Risiken, die mit ihr einhergehen, nicht aufzuhalten ist. Und so wissen wir genug, um sagen zu können: Wir sind jetzt verpflichtet zu handeln – „we don‘t need to figure out every detail before we begin“ (Klein 2019, 39).
Anne Burkard ist Professorin für Didaktik der Philosophie und das Fach Werte und Normen an der Georg-August-Universität Göttingen. Im Bereich der Philosophiedidaktik arbeitet sie unter anderem zu Umgangsweisen mit Skepsis und Relativismus im Unterricht, zu sprachlicher Bildung im Fach, zu Unterrichtskonzeptionen für Themen der Ethik sowie zum philosophischen Argumentieren. Im Bereich der Praktischen Philosophie beschäftigt sie sich mit Fragen der Rechtfertigbarkeit moralischer Urteile, der Tierethik und der Metaethik.
Literatur
Almassi, Ben (2012): Climate Change and the Ethics of Individual Emissions: A Response to Sinnott-Armstrong. In: Perspectives: International Postgraduate Journal of Philosophy 4, 4-21.
Birnbacher, Dieter (2016): Klimaethik. Nach uns die Sintflut? Stuttgart: Reclam.
Corner, A., Lewandowsky, S., Phillips, M. and Roberts, O. (2015) The Uncertainty Handbook. Bristol: University of Bristol. (Link zur deutschen Übersetzung)
IPCC 2018: IPCC-Sonderbericht über 1,5 °C globale Erwärmung – Hauptaussagen (deutsche Fassung). (Link)
Klein, Naomi (2019): On Fire. The Burning Case for a Green New Deal. London: Allen Lane.
Meyer, Kirsten (2018): Was schulden wir künftigen Generationen? Herausforderung Zukunftsethik. Stuttgart: Reclam.
Oreskes, Naomi/Conway, Erik M. (2010): Merchants of Doubt. How a Handful of Scientists Obscured the Truth on Issues form Tabaco Smoke to Global Warming. London et al.: Bloomsbury.
Powell, James Lawrence (2016): The Consensus on Anthropogenic Global Warming Matters. In: Bulletin of Science, Technology & Society 36, 157-163.
Sinnott-Armstrong, Walter (2010): It’s Not My Fault: Global Warming and Individual Moral Obligations. (Orig.: 2005) In: In: Gardiner, Stephen M./Caney, Simon/Jamieson, Dale/Shue, Henry (Hg.): Climate Ethics: Essential Readings. Oxford: Oxford University Press, 332-346.
[1] Wiederholt haben zudem Meta-Studien den überwältigenden wissenschaftlichen Konsens bezüglich des menschengemachten Klimawandels belegt. Als Ergebnis von fünf Untersuchungen der von 1991 bis 2015 mit Peer Review veröffentlichten Studien gibt James Powell einen durchschnittlichen Konsens von 99,94% an (Powell 2016).
[2] Vgl. Birnbacher 2016 für einen konsequentialistischen und Meyer 2018 für einen deontologischen Ansatz, in deren Rahmen jeweils ethische Pflichten angesichts der Klimakrise formuliert werden.