Über die vermeintliche Heuchelei von Klimaschutzaktivist*innen und individuelle Pflichten zum Klimaschutz
Von Christian Baatz (Kiel)
Vor Ausbruch der Corona-Krise war Klimaschutz in aller Munde, die Jugend forderte Regierungen lautstark zum entschiedenen Handeln auf. Aber muss auch jede/r Einzelne ihren oder seinen Beitrag zum Klimawandel reduzieren? Greta Thunberg, Initiatorin der Fridays for Future (FFF) Bewegung, versucht mit der gleichen Unnachgiebigkeit, mit der sie vor dem schwedischen Parlament Mahnwache gehalten und vor Staats- und Unternehmensführungen Reden gehalten hat, ihren persönlichen Treibhausgas(THG)-Ausstoß zu minimieren – zumindest wird das suggeriert, wenn man sie auf Segelbooten den Atlantik und in Zügen Europa durchqueren sieht. Interessanterweise scheinen sich Thunberg und ihre schärfsten Kritiker*innen in diesem Punkt einig: wer Wasser predigt, sollte keinen Wein trinken; wer für radikale THG-Reduktionen plädiert, sollte einen THG-armen Lebenswandel führen.
Zu dieser aktuellen gesellschaftspolitischen Debatte kann die Philosophie einiges beitragen, nicht zuletzt, weil die Frage nach individuellen Pflichten angesichts des globalen Klimawandels seit fast 20 Jahren intensiv diskutiert wird. Mein Eindruck ist jedoch, dass dabei der gesellschaftliche und der akademische Diskurs vollkommen getrennt voneinander verlaufen. Mit diesem Beitrag möchte ich anregen, die Trennung zu überwinden. Dazu werde ich Argumente aus dem akademischen Diskus auf die politische Diskussion beziehen und abschließend fragen, was Philosoph*innen zu letzterer beitragen können und sollen.
Macht es einen Unterschied, ob ich emittiere?
Im Sinne der obigen Wasser-Wein-Analogie haben einige FFF-Kritiker*innen Luisa Neubauer, die bekannteste Vertreterin von FFF Deutschland, dafür kritisiert, in der Vergangenheit häufig in den Urlaub geflogen zu sein. Aus ethischer Sicht ist aber weder offenkundig, dass Klimaaktivist*innen ihren persönlichen THG-Fußabdruck begrenzen müssen, noch dass es eine allgemeine Pflicht zur THG-Reduktion gibt. So argumentiert der deutsche Philosoph Bernward Gesang, dass individuelle Emissionen so gering sind, dass sie zu keinen moralisch relevanten klimatischen Konsequenzen führen. Anders als Gesang folgert der US-amerikanische Philosoph Walter Sinnott-Armstrong aus dieser Überlegung, dass von einer Pflicht, die persönlichen THG-Emissionen zu begrenzen, keine Rede sein kann und man sich vielmehr politisch für Klimaschutz engagieren muss. Demnach ist an Neubauers Verhalten nichts auszusetzen.
Während einige Kolleg*innen Sinnott-Armstrong mit eigenen Fachbeiträgen stützen, gibt es von anderen Widerspruch (manchmal auch in Form wütender Protestemails, wenn zu einer klimaethischen Konferenz mehrheitlich mit dem Flugzeug angereist wird). So argumentieren einige Autor*innen, dass auch individuelle Emissionshandlungen sehr wohl mit negativen klimatischen Folgen verbunden und diese moralisch relevant sind. Aus Platzgründen – und da Benedikt Namdar diese Position hier schon wiedergibt – möchte ich drei Argumente skizzieren, die nicht von den erwarteten klimatischen Folgen einzelner Emissionshandlungen abhängen.
Kohärenz zwischen politischer Überzeugung und Lebensstil
Ein Ansatz versucht, die Wasser-Wein-Forderung moralphilosophisch zu untermauern, indem für ein Ideal der Integrität argumentiert wird: “an individual [must] work to harmonise her commitments at various levels and achieve a life in which her commitments are embodied not only in a single sphere, but in the various spheres she inhabits” (Hordequin 2010: 449). Wer davon überzeugt ist, dass etwas gegen den Klimawandel getan werden muss, soll dies kohärent in unterschiedlichen Bereichen zum Ausdruck bringen, d. h. sich sowohl politisch engagieren als auch den eigenen Beitrag zum Problem reduzieren. Die Frage bleibt aber, warum solche Kohärenz geboten ist, insbesondere wenn man Sinnott-Armstrong zustimmt, dass individuelle Reduktionen keinen Unterschied machen, politisches Engagement aber schon.
Vertreter*innen des Integrität-Arguments antworten, grob gesagt, dass emissionsarme Handlungsweisen, wie Fahrrad zu fahren oder sich vegan zu ernähren, eine wichtige kommunikative Funktion erfüllen. Sie senden Signale an Mitbürger*innen und Entscheidungsträger*innen in Politik und Wirtschaft, die zu Domino-Effekten führen können, wenn immer mehr „grüne“ Entscheidungen getroffen werden (weitere Argumente pro Integrität werden hier entwickelt). Aufgrund der Signalwirkung des Konsumverhaltens halte ich es auch nicht für ausgemacht, dass individuelles politisches Engagement der Durchschnittsbürgerin und des Durchschnittsbürgers (wählen, Petitionen unterschreiben, demonstrieren) mehr zur kollektiven Umgestaltung des Wirtschaftens beiträgt als emissionsarme Lebensstile. Folgt man dieser Verteidigung des Integritäts-Arguments, dann gilt die Reduktionspflicht aber nur für Handlungen, denen eine kommunikative Wirkung zugeschrieben werden kann.
Kantische Pflichten zur Emissionsreduktion und faire Anteile am Emissionsbudget
Ein anderer Ansatz sucht Reduktionspflichten über die Kant’sche Ethik zu begründen. Laut Kant hat man die Pflicht die eigene Vervollkommnung und das Glück anderer zum Zweck des Handelns zu machen.[1] Will man das Glück anderer nicht untergraben, kann man nicht wollen, dass es einen „gefährlichen“ Klimawandel gibt. Dann kann man auch nicht wollen, dass z. B. alle immer einen Benziner/Diesel fahren, um bequem ans Ziel zu kommen. Demnach hat jede/r die Pflicht, dann auf Emissionshandlungen zu verzichten, wenn die der Handlung zu Grunde liegenden Maxime – würden alle nach ihr handeln – nicht mit dem Zweck der Klimawandel-Begrenzung vereinbar ist. Damit dieser Ansatz überzeugt, muss man die Annahme akzeptieren, dass das Glück anderer moralische Pflichten generiert.
Zumindest halte ich die These, dass das Wohlergehen anderer moralisch relevant ist, für sehr plausibel. Davon ausgehend sagt der von mir vertretene Ansatz, dass jede/r über einen fairen Anteil am moralisch zulässigen Gesamt-Emissionsbudget verfügt und diesen nicht überschreiten soll. Was genau der faire Anteil jedes/r Einzelnen ist, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab, und lässt sich nicht so einfach bestimmen. Ich bin der Auffassung, dass jedem die Emissionen zustehen, die man benötigt um wichtige Lebensprojekte zu verwirklichen. Überschreitet man den fairen Anteil, leistet man einen größeren Beitrag zu einer schädigenden Praxis, als es zur Befriedigung der eigenen legitimen Ansprüche erforderlich wäre. Zu einer Schädigung beizutragen ist grundsätzlich falsch, es sei denn, gewichtigere Gründe sprechen für die Handlung. Jenseits des fairen Anteils gibt es diese Gründe nicht, so mein Argument.
Wie beim kantischen Ansatz stellt sich die Frage, welche konkreten Emissionshandlungen nun erlaubt sind. In beiden Fällen lässt sich das nicht immer klar beantworten und in beiden Fällen kann z.B. Fliegen durchaus zulässig sein (wenn die Person ansonsten eher wenig emittiert bzw. die der Handlung zugrundeliegende Maxime verallgemeinerbar ist). Dies sollte aber nicht davon ablenken, dass viele gut situierte Bürger*innen auf der ganzen Welt wichtige Lebensprojekte mit deutlich niedrigeren Emissionen erreichen könnten.
Die geschilderte Position läuft darauf hinaus, dass ein Großteil der Bürger*innen in „westlichen“ Gesellschaften, aber auch Angehörige der Mittel- und Oberschicht in vielen anderen Ländern, moralisch verpflichtet sind, sowohl THG-Emissionen in ihrem Verantwortungsbereich so weit wie möglich zu senken, als auch für eine Umgestaltung der gesellschaftlichen „Spielregeln“ einzutreten, so dass diese zu einer Dekarbonisierung unserer Lebensweisen führen. In einer Situation, in der ein Konflikt zwischen beiden Pflichten vorliegt, kann es durchaus zulässig sein, sich für politisches Engagement zu entscheiden, z.B. um an einer Klimakonferenz teilzunehmen oder Unternehmer*innen in Davos ins Gewissen zu reden.
Im Übrigen gilt die THG-Reduktionspflicht im Sinne Kants oder des fairen Anteils unabhängig davon, ob man sich für Kilmaschutz engagiert, also sehr wahrscheinlich auch für die Kritiker*innen von Luisa Neubauer. Und im Gegensatz zu diesen kommen die Klimaaktivist*innen mindestens ihrer Pflicht nach, sich für gerechtere Institutionen einzusetzen. Das ist weit besser, als den erforderlichen Wandel mit fadenscheinigen Argumenten zu torpedieren oder gar Diffamierungskampagnen (#langstreckenluisa) zu lancieren.
Der Beitrag von Philosoph*innen zur Klimadebatte
Der immer komplexere Fachdiskurs zu individueller Verantwortung für THG-Emissionen, in der Überlegungen aus Ethik, Wissenschaftstheorie und Rechtsphilosophie zu beeindruckenden Gedankentürmen aufgebaut werden, ist für Akademiker*innen zweifelsohne spannend (und angesichts der Komplexität des Themas mit guten Publikationsmöglichkeiten verbunden), zur Lösung einer gesellschaftlich drängenden Frage trägt er aber zunehmend weniger bei. Einen solchen Beitrag zu leisten, sehe ich als eine wichtige Aufgabe der Philosophie an.
Philosoph*innen können gesellschaftliche Diskussionen strukturieren, auf (verstecke) Prämissen und fehlerhafte Argumente hinweisen und zeigen, wie sich moralische Intuitionen vieler Menschen argumentativ einholen lassen. Sie können das Verständnis und die Ausgestaltung von Konzepten wie „Demokratie“ oder „zivilem Ungehorsam“ erörtern, zu deren Weiterentwicklung beitragen und Bewegungen wie FFF kritisch begleiten. Das funktioniert aber nur als Teil der öffentlichen Debatte.
Hier zeigt sich schließlich eine weitere Leistung von FFF: Indem die Bewegung der Klimawandel-Thematik eine stärkere öffentliche Präsenz verschafft hat, ist es für Wissenschaftler*innen und Philosoph*innen deutlich leichter, in der Debatte Gehör zu finden. Ich appelliere daher abschließend an Kolleg*innen (und mich selbst), das Licht der Öffentlichkeit nicht zu scheuen und sich aktiv in gesellschaftliche Debatten einzubringen.
Ich bedanke mich herzlich bei Andrea Klonschinski für wertvolle Überarbeitungshinweise.
Christian Baatz lehrt und forscht am Philosophischen Seminar der CAU Kiel und leitet dort eine Nachwuchsgruppe zur gerechten Finanzierung von Anpassung an den Klimawandel. Neben Klimaethik arbeitet er zu Menschenrechten und Nachhaltigkeit.
[1] Es handelt sich um eine sogenannte unvollkommene Pflicht nach Kant.