01 Sep

Philosophie und die Klimakrise: Ein Aufruf zum Wandel

Von Paul Schütze (Osnabrück) und Philipp Haueis (Bielefeld)


Die Klimakrise ist in vollem Gange. Schon jetzt sind die Aussichten verheerend. Inmitten dieser Krise stellen wir uns die Frage, was die Philosophie angesichts solcher Herausforderungen beitragen kann. Philosoph:innen können, wie alle anderen auch, zur Bewältigung der Krise beitragen. Aber wir argumentieren, dass sie dafür mit lang etablierten Praktiken brechen, institutionelle Grenzen in Frage stellen und die Klimakrise zu ihrem theoretischen Bezugsrahmen machen sollten. Die Dringlichkeit und Allgegenwärtigkeit des Problems erfordern, dass alle Fachrichtungen zusammenarbeiten und einen Beitrag leisten. Philosophieren in der Klimakrise bedeutet zu verstehen, dass sich jede Dimension unserer natürlichen, materiellen und sozialen Welt radikal verändern wird, auch die philosophische Praxis.

Die Klimakrise als methodologischer Bezugsrahmen

Die meisten aktuellen philosophischen Arbeiten zur Klimakrise werden deren allumfassenden und dringenden Charakter nicht gerecht. Sie sind oft von konkreten Problemen entkoppelt, verlieren sich in technischen Details, und sind durch starre Methoden innerhalb kleiner und spezialisierter Themenfelder eingeschränkt. So arbeiten viele Philosoph:innen, die sich mit der Klimakrise befassen, an der Realität und Dringlichkeit des Problems vorbei. Derzeitige Fachbeiträge kommen meist aus der Wissenschaftsphilosophie der Klimaforschung und aus der Klimaethik. Erstere befasst sich größtenteils mit technischen Fragen zu Klimamodellen und mit Werten und Normen in der Klimaforschung. Letztere arbeitet vor allem zu Fragen der Klimagerechtigkeit, z.B. zur intergenerationalen Gerechtigkeit. Während wir diese Arbeiten wegweisend für eine intensivere Beschäftigung mit dem Klima sehen, verlieren sie sich dennoch zu oft in abstrakten Gedankenexperimenten und Überlegungen, statt die Realität der Krise direkt ins Auge zu fassen.

Als Antwort darauf schlagen wir vor, die Klimakrise als einen methodologischen Bezugsrahmen für das Philosophieren zu betrachten – als methodische Brille. Die Dringlichkeit der Krise wird hier zum Ausgangspunkt für die eigene philosophische Arbeit. Erst ein solcher Ansatz wird der planetaren Realität gerecht. Es gibt unzählige Berührungspunkte zwischen der Klimakrise und der Philosophie, die von Fragen der Erkenntnistheorie, Wissenschaftsphilosophie oder Ethik bis hin zur politischen Philosophie reichen. Diese Bezüge beschränken sich jedoch oft nur auf einen kleinen spezialisierten Teil des jeweiligen Fachgebiets, während die Disziplin als Ganzes weit zurückbleibt. Die Klimakrise als methodischen Rahmen zu nehmen bedeutet aber, sie als Ausgangspunkt philosophischer Arbeit über beschränkte Fachdiskurse hinaus zu betrachten. Das heißt im Umkehrschluss, Philosoph:innen können keine Theorie mehr aufstellen, die unberührt und unbeeinflusst von dem ist, was um sie herum geschieht. Sie müssen Verantwortung übernehmen und dabei nicht an ihren fachspezifischen Nischen scheitern.

Philosophie beschleunigen

In einem kürzlich erschienenen Artikel beschreibt der Klimaaktivist Bill McKibben, wie Menschen mit bestimmten Interessen die Klimakrise aktiv ‚slow-walken‘, also ihre Dringlichkeit in Frage stellen um Veränderungen hinauszuzögern: Emissionsreduzierung und die Abkehr von fossilen Energien werden absichtlich verlangsamt und gleichzeitig wird alles für die Aufrechterhaltung des Status quo getan. Denn schnelle Veränderungen würden massive Anstrengungen und Kosten fordern. Slow-walking ist Sabotage – lächelnd und tödlich – beschreibt McKibben. Damit kritisiert er vor allem Manager:innen und Entscheidungsträger:innen großer Konzerne mit entsprechenden wirtschaftlichen Interessen. Diese Personengruppen sind aber nicht die einzigen, die die Krise slow-walken. Auch einige politische Kräfte haben ein Interesse daran, Handeln auf übermorgen zu verschieben.

Neben diesen absichtlichen Slow-walks sehen wir auch das Problem des unbeabsichtigten Slow-walks. Große Teile der philosophischen Gemeinschaft beteiligen sich unbewusst an der Sabotage adäquater Klimamaßnahmen indem sie sich auf etablierten Strukturen, Traditionen und Methoden ausruhen. Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen dem absichtlichen und strategischen ‚slow-walk‘ und dem unbewussten und naiven ‚slow-walk‘ der institutionellen Philosophie. Während Ersteres von Unternehmen, Lobbyisten und Politikern aktiv gefördert wird, ist Letzteres das Ergebnis passiver selbstgefälliger Gewohnheiten und einer entrückten akademischen Praxis. Dennoch trägt beides zum selben Ergebnis bei, es passiert zu wenig. Diese Langsamkeit innerhalb der Philosophie erfordert eine aktive Opposition und das Bemühen um eine andere Praxis. Wir fassen das hier mit dem Slogan zusammen: die Philosophie muss beschleunigt werden.

Sicherlich ist die Beschleunigung der Philosophie keine leichte Aufgabe, und die Forderung an sich mag anfangs kontraintuitiv erscheinen. Um unseren Vorschlag zu verstehen, sollten zwei Arten philosophischer Langsamkeit unterschieden werden. Einerseits ist sie das Resultat von sorgfältigem, überlegten und strukturiertem Denken; das braucht natürlich Zeit. Andererseits ist die Philosophie langsam, weil sie institutionellen Zwängen unterworfen ist: Das Veröffentlichen von Aufsätzen und das Verfassen von Büchern, den primären Kommunikationsmitteln von Philosoph:innen, ist enorm zeitaufwendig, zumindest in der Art und Weise, wie es derzeit organisiert ist. Sind diese Ergebnisse dann erst einmal veröffentlicht, sind sie nur für ein kleines Publikum zugänglich, zum Beispiel aufgrund von Paywalls oder der Konzentration auf Fachdiskurse, die zu einem Mangel an Interdisziplinarität führt. Es gibt zwar auch die ‚öffentliche Philosophie‘, diese macht bei Weitem aber nicht den Großteil philosophischer Arbeit aus und ist in den akademischen Institutionen eher unterrepräsentiert und bisweilen belächelt. Darüber hinaus steckt die aktuelle philosophische Arbeit oft in alten und starren Bahnen fest, die in der Regel einer privilegierten Gruppe von Personen vorbestimmt sind.

Während die Langsamkeit im ersten Sinne wertvoll sein kann, behindert die Langsamkeit im zweiten Sinne massiv die Diversifizierung des philosophischen Denkens und dessen wirkungsvollen Einsatz. Die institutionellen Praktiken und ihre Starrheit führen zu einem ungewollten slow-walk. Um dies zu vermeiden, muss die Philosophie beschleunigt werden. Zwar sollten wir die Langsamkeit im ersten Sinne bewahren. Gleichzeitig müssen wir aber auch die Langsamkeit im zweiten Sinne überwinden – die institutionelle Trägheit, die sich in harmlose Absichten und unschuldige Unwissenheit hüllt. Diese Langsamkeit liegt in der Unfähigkeit und dem Unwillen begründet, von institutionellen Hierarchien und etablierten Denkweisen abzuweichen. Dies zu überwinden bedeutet also, alte Zwänge zu überwinden und der passiven Langsamkeit aktiv entgegen zu treten. Wir behaupten, dieser Aufruf gilt für alle Philosoph:innen.

Alle für das Klima!

Es gibt keinen Bereich der Philosophie, der kategorisch nichts mit der Klimakrise zu tun hat. Die Klimakrise ist kein bloß moralisches, epistemologisches oder metaphysisches Problem. Vielmehr handelt es sich um ein komplexes und allumfassendes Themenfeld. Anstatt die Klimaproblematik an ein einzelnes Fachgebiet zu delegieren, sollten sich Philosoph:innen aus allen Bereichen mit ihr befassen.

Wir haben oben argumentiert, dass die Klimakrise nicht einfach ein Thema unter vielen ist, sondern dass wir sie als eine Methodologie, als eine Art Philosophie zu betreiben, verstehen sollten. Auf diese Weise wird die Krise vom Objekt der Analyse zur Grundlage auf der Philosophie betrieben werden kann. Sobald wir beginnen, die Krise als Bezugsrahmen zu behandeln, zeigt sich eine Reihe von Fragen, die nur unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Gesichtspunkten verhandelt werden können. ‚Alle für das Klima!‘ ist also keineswegs eine radikale Proklamation, sondern spiegelt die Realität dieser Krise als ein durchdringendes und weitreichendes Problem wider. Wenn die Klimakrise also ein allumfassendes Problem ist, dann können alle Bereiche der Philosophie einen sinnvollen Beitrag zum Verständnis und zur Abschwächung der Krise leisten, das heißt das Fachwissen aller philosophischen Bereiche ist gefragt. Erkenntnistheoretische Fragen zu Wissensresistenz und vorsätzlicher Ignoranz sind ebenso wichtig wie ethische Fragen zur individuellen Verantwortung für kollektive Ungerechtigkeiten. 

Eine Agenda für die Philosophie inmitten der Klimakrise

Welche konkreten Schritte kann die Philosophie also angesichts dieser Anforderungen unternehmen? Der einfachste Punkt, vor allem für junge Philosoph:innen, könnte darin bestehen, ein Promotions- oder Postdoc-Thema zu wählen, das sich mit Fragen der Klimakrise befasst. Aber auch andere können zum Beispiel Förderanträge für Projekte zu relevanten Themen schreiben. Es ist nie zu spät, die Klimakrise in die eigene Forschungsagenda einfließen zu lassen.

            Eine beschleunigte und klimaorientierte Philosophie lässt sich jedoch nicht allein durch individuelle Karrierewege erreichen. Vielmehr müssen sich viele Philosoph:innen zusammentun und mit den alten institutionellen Zwängen und Gewohnheiten brechen. Dazu brauchen wir ein gemeinsames Agenda-Setting und eine Praxis des kollektiven Schreibens und Denkens.  Wir müssen uns (mehr denn je) zusammenschließen, über Institutionen und Felder verteilt, um Perspektiven zu eröffnen und Forschungsprozesse zu beschleunigen, indem wir von der Expertise andere profitieren. Auf institutioneller Ebene bedeutet unser Aufruf ‚Alle für das Klima!‘, dass jeder Fachbereich Möglichkeiten erkunden sollte, wie sich die Forschung aller Fachbereichsmitglieder mit den für die Klimakrise relevanten Themen und den philosophischen Interessen verbinden lassen könnte.

            Ein weiterer praktischerer Weg, Philosophie unter dem Aspekt des Klimawandels zu betreiben, ist die Beschäftigung mit der globalen Klimabewegung. Daher schlagen wir vor: Geht zum nächsten Klimaprotest in eurer Nähe. Lernt Aktivist:innen kennen und sprecht mit ihnen. Veranstaltungen in eurer Nähe findet ihr in den Karten von Fridays for Future oder Extinction Rebellion. Philosoph:innen könnten der globalen Klimabewegung sogar in den Hörsälen, Seminarräumen oder auf den Konferenzpanels eine Stimme geben. Ein Vorbild ist Naomi Klein, die in ihrem Buch How to Change Everything junge Leser:innen darüber informiert, wie die Klimakrise unsere Zukunft bedroht und was junge Klimaaktivist:innen wie die Sunrise-Bewegung für Klimagerechtigkeit tun. Dabei kommt nicht nur Klein selbst zu Wort, sondern teilt Bühne und Redezeit mit Aktivist:innen.

Und schließlich können Philosoph:innen auch einen nachhaltigen Einfluss ausüben, indem sie ihre Unterrichtspraxis entsprechend verändern: Man könnte sich eine Rede von Vanessa Nakate oder Greta Thunberg im Unterricht anhören, die Dokumente von Akteur:innen wie den Aktionskonsens von Extinction Rebellion oder Ende Gelände diskutieren, oder man könnte das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft mit Blick auf die Krise analysieren. Dies ist nur eine kleine Auswahl von Ideen, die helfen können, selbst kreativ zu werden.

            Natürlich ist dieser philosophische Wandel anspruchsvoll. Es ist schwierig, diesen Forderungen in der akademischen Realität gerecht zu werden. Trotzdem sollte man sich bewusst zu machen, dass jede Maßnahme dazu beiträgt, die Klimakrise langfristig als Orientierung und Bezugsrahmen in der Philosophie zu verankern. Natürlich stößt man dabei auf die verschiedensten institutionellen, sozialen und politischen Zwänge. Aber wir können es uns nicht mehr leisten, in die alten akademischen Gewohnheiten zurückzufallen und den slow-walk fortzusetzen. Wir fordern daher alle Philosoph:innen zur Umgestaltung der Philosophie auf; wir müssen aufhören, den Status quo aufrechtzuerhalten.


Für eine ausführlichere Version dieses Artikels siehe unser Working Paper.


Paul Schütze ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Ethik der KI am Institut für Kognitionswissenschaft der Universität Osnabrück. In seiner Forschung befasst er sich mit den Strukturen und Funktionsweisen des digitalen Kapitalismus und deren Verbindung zur Klimakrise. Insbesondere interessiert er sich für die Textur von Macht und Subjektivierung im Zeitalter von Big Data und KI. (twitter: @schuetze_paul)

Philipp Haueis studierte Philosophie und Wirtschaftswissenschaften in Berlin, Chicago, St. Louis und Vancouver. Er promovierte 2018 in Philosophie der Neurowissenschaften an der Berlin School of Mind and Brain und ist derzeit Assistenzprofessor an der Fakultät für Philosophie der Universität Bielefeld. Zu seinen Forschungsinteressen gehören die Entwicklung und der Status von wissenschaftlichen Konzepten, die Epistemologie des Experiments, kritische Neurowissenschaften und die Überschneidung von Klimawissenschaft, Philosophie und Klimaaktivismus.