300 Jahre Kant: Menschenwürde und Universalismus
Beiträge von Elena Romano, Berward Gesang und Mario Brandhorst aus der Reihe 300 Jahre Kant – Das Unzeitgemäße in seiner Philosophie.
Mit der Reihe 300 Jahre Kant – Das Unzeitgemäße in seiner Philosophie möchten wir den Fokus auf das Anachronistische, Antiquierte und Unzeitgemäße bei Kant legen. Dabei geht es nicht darum, Kant zu diskreditieren. Ziel ist vielmehr, durch eine Vielzahl kurze Statements einen Eindruck zu vermitteln, wie divers die heutige Kantforschung (im europäischen Raum und darüber hinaus) ist und wo sie die Grenzen von Kant verortet. Dafür werden wir ab dem 22. April 2024 jeden Dienstag drei thematisch verwandte Kurzbeiträge veröffentlichen.
Kants zu abstrakter Universalismus
Von Elena Romano (Berlin)
Meines Erachten handelt es sich beim “Universalismusstreit” um eine Debatte, die eine Grenze von Kants Philosophie berührt und uns aber auch ermöglicht, mit Kant über Kant hinauszuschauen. Ganz allgemein betrifft der Universalismusstreit Kants Konzeption der Rationalität als allgemeine Eigenschaft des Menschen, die zentral für seine Philosophie ist. Problematisch ist dies, da Kant dabei nicht die empirischen (sozialen, historischen, usw.) Bedingungen berücksichtigt, die die Ausübung der Rationalität beeinflussen. In diesem Zusammenhang scheint es jedoch offensichtlich, dass bestimmte Klassen von Menschen für Kant von der Möglichkeit, diese Rationalität auszuüben, ausgeschlossen sind. Kants rassistische und sexistische Behauptungen tragen also letztendlich dazu bei, seinen Universalismus infrage zu stellen. Daraus ergeben sich zwei mögliche Perspektiven auf Kants Philosophie.
Man könnte erstens der Vorstellung von der menschlichen Vernunft als Träger allgemeiner universaler Charakteristiken misstrauen, die alle Menschen unabhängig von ihrer jeweiligen Situierung verkörpern. Der abstrakte Universalismus könnte durch eine alternative Konzeption der Rationalität ersetzt werden, die z. B. auf den Begriff der “situatedness” beruhen könnte.
Zweitens könnte man aber auch Abstand davon nehmen, Kants Universalismus aufgeben und ihn stattdessen radikalisieren. Man könnte sich fragen, unter welchen Bedingungen wir den Universalismus denken und letztendlich verteidigen können, ohne dabei die spezifischen kulturellen und sozialen Voraussetzungen zu verneinen, in die Menschen überall auf der Welt hineingeboren werden.
Geht Kants Menschenwürde am Menschen vorbei?
Von Bernward Gesang (Mannheim)
Zwar betont Kant den absoluten Wert des Individuums, auch weil vor ihm das Individuum von absoluten Monarchen mit Füßen getreten wurde. Aber Kants Ethik überzieht den Schutz des Individuums. Eine Orientierung am Menschen und an dessen Bedürfnissen fehlt.
Ethik ist bei Kant kein Instrument, um menschliches Zusammenleben konfliktfrei zu regeln, sondern sie orientiert sich am Gebot der Widerspruchsfreiheit. So wurde Kant schon zu Lebzeiten kritisiert, dass ein Regent, vor die Wahl gestellt, zu lügen oder sein Volk in intensivste Sklaverei zu werfen, nach Kant nicht lügen dürfe. Nicht der Mensch, sondern die Pflicht ist der Mittelpunkt. Wenn die Gerechtigkeit aus dem Lot geraten ist, muss diese für Kant um jeden Preis (Todesstrafe) wiederhergestellt werden. Damit wird Gerechtigkeit zum Selbstzweck: Menschen sind nicht an sich wertvoll, sondern nur als Instanzen von Gerechtigkeit.
Das Problem der Begründung der Menschenwürde
Von Mario Brandhorst (Halle)
Kant hat entscheidend dazu beigetragen, unseren moralisch aufgeladenen Begriff der Menschenwürde zu formen und ihm etwa durch die Zweckformel auch normative Konturen zu geben. Das war ein wichtiger Impuls, der das Grundgesetz und andere Rechtstexte geprägt hat und bis heute nachwirkt. Doch Kant begründet seine These, dass wir den Status der Würde besitzen, auf sehr problematische Weise. Erstens meint er, dass die Würde sich auf Autonomie, also Selbstgesetzgebung, gründet. Man kann sagen, Kant zufolge ist die Menschenwürde eigentlich die Würde des moralischen Gesetzes selbst. Zweitens setzt die Konzeption voraus, dass wir in einem transzendentalen Sinn frei sind. Als natürliche Wesen betrachtet hätten wir dann keine Würde. Drittens stellt sich nun die Frage, wie es um die Würde derjenigen Menschen steht, die noch nicht, nicht mehr oder nur in einem sehr eingeschränkten Sinn vernunftfähig sind. Wir müssen und wir können Menschenwürde heute anders konzipieren, ohne Kant ganz aufzugeben.