300 Jahre Kant: Sex und Gender II

Beiträge von Violetta L. Waibel, Konstantin Pollok und Jörg Noller aus der Reihe 300 Jahre Kant – Das Unzeitgemäße in seiner Philosophie.

Mit der Reihe 300 Jahre Kant – Das Unzeitgemäße in seiner Philosophie möchten wir den Fokus auf das Anachronistische, Antiquierte und Unzeitgemäße bei Kant legen. Dabei geht es nicht darum, Kant zu diskreditieren. Ziel ist vielmehr, durch eine Vielzahl kurze Statements einen Eindruck zu vermitteln, wie divers die heutige Kantforschung (im europäischen Raum und darüber hinaus) ist und wo sie die Grenzen von Kant verortet. Dafür veröffentlichen wir seit dem 22. April 2024 jeden zweiten Dienstag zwei bis vier thematisch verwandte Kurzbeiträge.


Kants Urteil über Frauen

Von Konstantin Pollok (Mainz)

Kant hat, in mancher Hinsicht historisch verständlich, aber dennoch philosophisch und menschlich erschütternd Fehlurteile nicht nur gefällt, sondern auch zu begründen versucht. Sein Antisemitismus (7:205–06), sein Kultur- und Sprachchauvinismus (7:191), seine Ansicht zur Todesstrafe (6:333–37) und, meines Erachtens sehr zentral, seine Misogynie sind nicht zu rechtfertigen. Kant anerkennt zwar die Klugheit einzelner Frauen, z. B. der Madame du Châtelet, aber im Allgemeinen besitzen seiner Auffassung nach Frauen keinen dirigierenden (bzw. in Bezug auf Wissenschaft „architektonischen“ Verstand; 15:167), ihr Verstand sei stattdessen von den „Leidenschafften verdunckelt“ (25:152). In einer Vorlesung soll er gesagt haben: „Es ist nicht zu läugnen daß es auch Fälle giebt, wo dem Mann der dirigirende Verstand mangelt, und wo nur eine Frau denselben besizt, (Mit solchen Frauen mag ich nicht gerne zu thun haben) allein man muß eine jede Regel so viel wie möglich allgemein laßen, wenn gleich einige Fälle davon abgehen.“ (25:355) Aus diesem Grund spricht Kant der Frau die aktive Staatsbürgerschaft und sogar die Vertragsfähigkeit ab. Kant hat aber andererseits mit der Freiheit und Gleichheit als Kernelementen der „Würde der Menschheit“ (4:440) praktische Ideen und Normen begründet, gemessen woran jene groben Fehlurteile überhaupt erst als solche zu erkennen und zu kritisieren sind.


„Er liebt den Hausfrieden“ – „Sie scheut den Hauskrieg nicht“

Von Violetta L. Waibel (Wien)

Das ist eine der nicht gerade wenigen unerfreulichen, zuweilen herablassenden Äußerungen Kants über Frauen und das Verhältnis der Geschlechter untereinander.1 Kant, unzweifelhaft der bedeutendste philosophische Aufklärer der Kultur in Europa, hat über einige blinde Flecken in seinem Denken hinweggesehen, sie nicht bemerkt. Das ist einerseits allzu menschlich, zumal bei einem so gewaltigen Opus, wie dem, das Kant der Menschheit geschenkt hat. Andererseits ist es doch eine sehr empfindliche Stelle, die einen gewaltigen systematischen Riss in seinem Denken darstellt, das sich der universalen Geltung der Einsichten durch die Vernunft gewidmet hat.

Die Maximen der reflektierenden Urteilskraft benennt Kant mit „1. Selbstdenken; 2. an der Stelle jedes anderen denken; 3. jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Die erste ist die Maxime der vorurteilfreien, die zweite der erweiterten, die dritte der konsequenten Denkungsart.“2

Wenn es wahr ist, dass Männer so und Frauen so sind, dann beschreibt dies zunächst faktische physiologische Differenzen, aber vor allem auch Geschlechterrollen und gesellschaftliche Erwartungen, die sehr stark durch Vorurteile und kulturelle Praktiken bestimmt sind.

Wenn sich Männer, die jahrtausendelang kulturbestimmend waren und oft noch sind, darin versuch(t)en, ernsthaft an der Stelle von Frauen Dinge zu durchdenken, also aktiv und ohne Vorurteile zu denken, könnte dies veranlassen, die universale Geltung von grundlegenden Menschenrechten, wie die von Gleichheit, von Freiheit, von Stimmrechten bei Wahlen, ja beim Anspruch auf Bildung wirklich auf alle Menschen auszudehnen. Denn universale Geltung hieß in der Praxis vielfach, Gleichheit für alle Männer, oder genauer, für alle weißen, in Machtpositionen befindliche Männer. Seit den Menschenrechtsdeklarationen, den Déclarations des droits de l’homme et du citoyen (1789), für Kants Rechtslehre von eminenter Bedeutung, und den zunächst wenig bekannten Déclarations des droits de la femme et de la citoyenne (1792), die wohl auch Kant nicht zur Kenntnis genommen hat, vermutlich auch nicht kennen konnte, weil sie in geringer Auflage verbreitet wurden,3 hat sich glücklicherweise einiges zum Besseren geändert, wenn auch noch viel zu tun bleibt.

Nehmen wir an, das Vorurteil, wonach Männer eher den Hausfrieden lieben und Frauen den Hauskrieg nicht scheuen, in der Tendenz stimmt. Nehmen wir überdies an, dass in der Konsequenz Sigmund Freud 100 Jahre später vor der Aufgabe stand, die Hysterie von Frauen zu kurieren, so könnte es doch sein, dass Frauen ob der großen, vermutlich eher unbestimmt gefühlten Ungleichheiten hinsichtlich der Rolle in Ehe, Gesellschaft und Staat, da sie dem Manne untertan waren, unvermittelt ihre Wut dort zum Ausdruck brachten, wo sie etwas sagen durften und so den „Hauskrieg“ nicht scheuten. Von Bildung, aktivem Wahlrecht, Selbstbestimmtheit abgeschnitten, für deren Zugang auch Kant nicht eintrat, wurden Frauen gelobt für ihren Gehorsam. Für „Selbstdenken“ fanden sie selten Gehör und noch weniger Anerkennung. Finanziell und gesellschaftlich befanden sich Frauen in drückender Abhängigkeit, noch dazu, wenn sie Kinder geboren hatten. Den „Hausfrieden“ zu lieben, sich irenisch zu geben, heißt nämlich auch, Gehorsam zu erwarten, Widerspruch nicht zu dulden, als Patriarch auf allen Ebenen zu herrschen, auf denen man ein Sagen hat.4


1 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA 7, 304.

2 Kant, Kritik der Urteilskraft, § 40, AA 5, 294. Vgl. auch Kant, Anthropologie, § 59, AA 7, 228.

3 Schröder, Die Frau ist frei geboren, 31-32.

4 Vgl. den exzellenten Beitrag von Kleingeld, On Dealing with Kant’s Sexism and Racism, und Schröder über Kants (patriarchales) Vernunftrecht, in Menschenrechte für weibliche Menschen, 15-46.


Literatur

Immanuel Kant, Gesammelte Schriften (AA), Hg.: Bd. 1–22 Preußische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Berlin 1900ff. I. Abteilung: Werke (Bd. 1–9); II. Abteilung: Briefwechsel (Bd.10–13); III. Abteilung: Nachlaß (Bd. 14–23); IV. Abteilung: Vorlesungen (Bd. 24–29), hg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff.

Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1795), hg. v. Heiner Klemme, Hamburg 2009 (Seitenangaben nach AA 5, 165-485).

Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), AA 7, 119-333.

Paulina Kleingeld, On Dealing with Kant’s Sexism and Racism. SGIR Review, 2 (2) 2019, 3-22. https://philpapers.org/rec/KLEODW

Hannelore Schröder, Menschenrechte für weibliche Menschen,Aachen 2000.

Hannelore Schröder (Hg.), Die Frau ist frei geboren. Texte zur Frauenemanzipation. Bd. 1: 1789 bis 1870, München 1979.


Die mutlose Unmündigkeit des Menschen

Von Jörg Noller (Augsburg)

In seinem bekannten Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ aus dem Jahr 1784 schreibt Kant, „Faulheit und Feigheit“ seien „die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen […], dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben“ (8:35). Diese Diagnose gilt auch für die heutige Zeit, in der wir mit der Gefahr einer „digitalen Unmündigkeit“ konfrontiert sind. Denn wir sind immer mehr bereit, unser Denken an Algorithmen – in Kants Worten „Satzungen und Formeln“ zu delegieren, die zu „mechanischen Werkzeuge[n]“ unseres Denkens werden. In Abwandlung eines Zitats von Kant können wir sagen: „Habe ich ChatGPT, das für mich Verstand hat, so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“ Kants Forderung lautet deswegen: „Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Wo sich Kant allerdings irrt, ist in meinen Augen seine darauf folgende These, „[d]aß der bei weitem größte Theil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte“ (8:35). Kants Generalisierung des „schönen Geschlechts“ verwundert bei all seiner sonstigen Scharfsinnigkeit. Es mag sicherlich der Fall sein, dass Männer und Frauen zu Kants Zeit anderen gesellschaftlichen Zwängen und Normen unterlagen als heute. Doch geht Kants These noch weiter. Sie betrifft nicht nur gesellschaftliche Zustände, sondern eine generelle Disposition zur mutlosen Unmündigkeit, die er dem „schönen Geschlecht“ unterstellt. Aufklärung setzt jedoch voraus, allen Menschen, egal welchen Geschlechts, den nötigen Mut zu unterstellen, der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu entgehen.