Die doppelte Religionskritik bei Marx
von Christoph Henning (Erfurt)
Bereits der junge Marx hat wichtige Beiträge zur Kritischen Theorie verfasst: neben einer Kritik des Rechts und der Politik etwa eine Kritik der Religion. Diese hängt eng mit einer Auseinandersetzung um die Pressefreiheit als Motor der Demokratisierung zusammen, die Marx zuvor geführt hatte. Zum einen waren religiöse Themen, oder besser: die Kritik an religiösen Themen, ein Gegenstand, der oft von Zensurmaßnahmen betroffen war. Eine Religionskritik hatte beispielsweise zum Berufsverbot von Marxens Mentor Bruno Bauer geführt, weswegen Marx überhaupt zum Journalisten geworden war (als Plan B, anstelle einer akademischen Anstellung). Zum anderen wurde zur Rechtfertigung dieser Zensur ebenfalls auf bestimmte theologische Annahmen rekurriert; Religion wurde also politisch instrumentalisiert. Marx kritisiert beides, sowohl die Religion selbst als auch ihre politische Instrumentalisierung. Die beiden Kritiklinien treten häufig zusammen auf, sind in der Sache aber zu trennen – und zwar deswegen, weil die Kritik an der Instrumentalisierung von Religion selbst auf theologische Argumente zurückgriff. Der Lehrstuhl seines Mentors Bauer wäre ein theologischer gewesen, und man kann davon ausgehen, dass Marx nicht nur mit der Bibel, sondern auch mit der zeitgenössischen Theologie gut vertraut war.
Marx’ Kritik an der Instrumentalisierung von Religion besagt, dass eine Ersatzerklärung durch religiöse Zusatzannahmen (Mystifizierungen) immer dann auftritt, wenn eine vernünftige Erklärung fehlt, die der Prüfung der Öffentlichkeit standhalten könnte. In der Religion gibt es unverstehbare Themen (die Dreifaltigkeit, zwei Naturen Christi etc.). Ein religiöser Anschein wird daher benutzt, um etwas Weltliches, das für die Vernunft keinen Sinn macht, dennoch akzeptierbar zu machen:
„Weil […] die wirkliche Stellung dieser Herren im modernen Staat keineswegs dem Begriff entspricht, den sie von ihrer Stellung haben, weil sie in einer Welt leben, die jenseits der wirklichen liegt, weil also die Einbildungskraft ihr Kopf und ihr Herz ist, so greifen sie, in der Praxis unbefriedigt, notwendig zur Theorie, aber zur Theorie des Jenseits, zur Religion, die jedoch in ihren Händen eine polemische, von politischen Tendenzen geschwängerte Bitterkeit empfängt und mehr oder weniger bewusst nur der Heiligenmantel für sehr weltliche, aber zugleich sehr phantastische Wünsche wird“ (MEW 1, 48).
Auf ähnliche Mystifizierungen aufgrund von fauler Vernunft bleibt Marx in den folgenden Jahrzehnten geradezu allergisch und kritisiert sie unnachgiebig – ob bei den Junghegelianern (die sich als „heilige Familie“ gerierten) oder bei bürgerlichen Nationalökonomen, die den „theologischen Mucken“ des Warenfetisch auf den Leim gingen (MEW 23, 85).
Der Witz ist nun, dass man diese fragwürdige Instrumentalisierung der Religion sehr wohl kritisieren kann, ohne die Religion selbst anzugreifen. Marx berührt sich hier mit einer Strömung der Theologie des 20. Jahrhunderts, die es ebenfalls ablehnte, Gott lediglich als „Arbeitshypothese“ zu benutzen (so etwa Dietrich Bonhoeffer oder Dorothee Sölle). Und so beruft sich Marx dafür zwar einerseits auf Widersprüche seiner Gegner, wie etwa hier:
„Das Christentum ist seines Sieges gewiss, aber es ist […] seines Sieges nicht so gewiss, um die Hilfe der Polizei zu verschmähen“, MEW 1, 93; „Handelt der größte Teil eurer Prozesse und der größte Teil der Zivilgesetze nicht vom Besitz? Aber es ist euch gesagt, dass eure Schätze nicht von dieser Welt sind“ (MEW 1, 101, nach Mt 22,21).
Dabei bezieht sich Marx aber auch auf theologische Argumente, wie sie „der tüchtigste und konsequenteste Teil der protestantischen Theologen“ (92) darlegt. Etwa auf die Einsicht, dass die Religion, sobald man über konfessionelle Besonderheiten hinausgeht, selbst einen säkularen Kern hat (etwa MEW 1, 10ff.); man also im Weltlichen über die Forderungen der Vernunft auch mit der Religion nicht hinwegspringen kann. Oder darauf, dass die spezifisch konfessionellen Details mit der weltlichen Vernunft dagegen nicht mehr zu vereinen sind (MEW 1, 92). Daher verbietet sich die Vermengung von Religion und Politik, schon allein weil es verschiedene Religionen und Konfessionen gibt (MEW 1, 12), wie u.a. John Rawls später betont hat.
An diesem Punkt arbeitet Marx erstaunlicherweise mit einer Theorie der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung sozialer Sphären mit unterschiedlichen Eigenlogiken: „Wer sich mit der Religion verbünden will aus Religiosität, muss ihr in allen Fragen die entscheidende Stimme einräumen, oder versteht ihr vielleicht unter Religion den Kultus eurer eignen Unumschränktheit und Regierungsweisheit?“ (MEW 1, 12). Aus einer Logik der Standpunktphilosophie heraus verteidigt Marx wenig später sogar das Recht der Diaspora-Juden auf die Ausübung ihrer eigenen Religion: Vom politischen Standpunkt aus könne man gar nicht anders urteilen, eben weil die Politik innerhalb der Religion nichts zu sagen habe, oder genauer: weil die Religionsfreiheit eine Freiheit zur Ausübung der Religion sei (so die Kritik am alten Freund Bruno Bauer in „Zur Judenfrage“ von 1844, MEW 1, 351f.). Das betrifft nicht nur die Juden, sondern auch die Katholiken innerhalb Preußens, die damals den Großteil der Leserschaft von Marx ausmachten, oder die unterdrückten Polen, die Marx publizistisch gegenüber dem zaristischen Russland in Schutz nahm. Die Duldung der Religion bringt Marx 30 Jahre später so auf den Punkt: „Jeder muss seine religiöse wie seine leibliche Notdurft verrichten können, ohne dass die Polizei ihre Nase hineinsteckt“ (MEW 19, 31, von 1875).
Darüber hinaus hatte Marx natürlich auch eine eigene Position zur Religion. Oft werden beide Positionen kaum auseinander gehalten. Die Kritik an der Religion war für Marx jedoch nicht zentral – für ihn war sie schon 1844 „im wesentlichen beendigt“ (MEW 1, 378). Damit ist die Entfremdungstheorie angesprochen. Marx hatte anhand der Pressefreiheit bereits eine politische Variante derselben formuliert: Volksvertreter können sich vom vertretenen Volk entfremden und umgekehrt, wenn nicht durch Pressefreiheit eine Verständigung zwischen ihnen sichergestellt ist (MEW 1, 42). Entfremdung entsteht also, wenn eine Verbindung zwischen zusammengehörigen Gliedern unterbrochen wird. Es deutet sich bereits eine soziale Anthropologie an, wie sie Marx 1844 in Bezug auf die Arbeit im Kapitalismus ausformulierte – hier geschieht es in Bezug auf die Zensur, aber das Argument ist ähnlich:
„Die Presse ist die allgemeinste Weise der Individuen, ihr geistiges Dasein mitzuteilen. […] Wollt ihr die geistige Mitteilungsfähigkeit an besondere äußerliche Merkmale amtlich festbannen? Was ich nicht für andere sein kann, das bin ich nicht für mich und kann ich nicht für mich sein“ (MEW 1, 73). Die Ausbildung einer Persönlichkeit ist daran gebunden, dass Menschen sich selbst ausdrücken und darin anderen mitteilen (hier noch „geistig“, 1844 beinhaltet es auch andere Weisen des Ausdrucks, etwa durch Tanz oder Produktion, MEW 40, 465). Die sinnhafte Verbindung zwischen Menschen wird durch Zensur gekappt. Bei Marx tritt später das Privateigentum an Produktionsmitteln an diese Stelle.
Was hat das mit Religion zu tun? Im Sinne von Ludwig Feuerbachs Religionskritik von 1841 (Das Wesen das Christentums) begreift Marx auch die Religion als menschlichen Ausdruck, allerdings als einen, der nicht mehr als solcher begriffen wird. Dafür ist damals bereits der Terminus „Fetisch“ im Umlauf (vgl. MEW 1, 91, 147; Marx entnahm ihn der Kunst- und Religionsgeschichte). Nicht in der ‚Diagnose’, sondern erst in der ‚Therapie’ trennt sich Marx von den anderen Junghegelianern wie Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer, Arnold Ruge oder Max Stirner. Es mag in der Theorie so aussehen, als handele sich um ein kognitives Problem, um ein „Vergessen“ der eigenen Konstruktion (MEW 1, 42). Dann müsste der Philosoph die Menschen nur daran erinnern. Marx rang sich in dieser Zeit jedoch zu einer praxisphilosophischen Position durch. Sie lässt sich wie folgt zusammenfassen:
Es gibt Erkenntnisse von Dritten (nennen wir sie Auffassung 1), die an Menschen abperlen und folgenlos bleiben, weil ihre Auffassung 2 (aus der Sicht der Dritten ein Irrtum) in die Praxis dieser Menschen eingebunden ist, in ihr eine möglicherweise elementare Funktion haben. Dann ist Auffassung 2 ein „Ausdruck“ der Praxis („Ausdruck des wirklichen Elends“, MEW 1, 378): Es handelt sich nicht um eine beliebige Theorie, sondern um ein Resultat der Praxis, um eine Form der indirekten Problembewältigung („die Protestation gegen das wirkliche Elend“, 378). Wollen die Dritten diese Menschen von ihrem „Irrtum“ abbringen, so reicht es nicht, ihnen eine „Wahrheit“ zuzurufen, es muss sich die Praxis ändern, deren Ausdruck Auffassung 2 ist. Nehmen wir als Beispiel eine Gewichtszunahme infolge von Liebeskummer. Die betroffene Person frisst ihren Kummer in sich hinein, weil der Kummer real schmerzt („Der Mensch ist, was er isst“, sagte Feuerbach treffend). Hier hilft es nichts, der betroffenen Person zuzurufen, dass Schokolade dick macht und zuviel Gewicht ungesund sein kann. Vielmehr gilt es, auf praktische Weise einen Ausweg aus dem Kummer zu finden – indem man Ablenkung schafft, neue Menschen, vielleicht einen neuen Partner kennenlernt oder andere Formen der Bewältigung findet. Ähnlich verhält es sich für Marx mit der Religion (sowie später mit dem „Warenfetischismus“):
„Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. […] Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf“ (MEW 1, 378f.). Marx hält die Religion zwar für eine problematische Praxis, die kognitiv eine Verzerrung der Wirklichkeit und praktisch eine Versöhnung mit problematischen Verhältnissen bewirkt. Doch er begreift es gerade nicht als Aufgabe der Kritik, diese theoretische Religionskritik weiter breit zu treten. Es geht vielmehr um die Analyse der praktischen Gründe dafür, dass es einer geistlichen Kompensation überhaupt bedarf. (Daran fühlt man angesichts des Kruzifixstreits in Bayern unweigerlich erinnert.) Die achte These über Feuerbach von 1845 pointiert das so: „Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis“ (MEW 3, 7).
Christoph Henning ist Junior Fellow am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien, Universität Erfurt, und Privatdozent für Philosophie an der Universität St. Gallen. Sein neues Marx-Buch Marx und die Folgen ist gerade bei Metzler erschienen. Der obige Text ist ein gekürzter Auszug daraus. Sein erstes Marx-Buch war Philosophie nach Marx. 100 Jahre Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik (transcript Verlag 2005).