‚Interkulturelle Bildung‘ – theoretisch problematisch, praktisch möglich
von Melanie Förg (München)
Ist interkulturelle Bildung möglich?
Interkulturelle Bildung ist schon deshalb nötig, weil z.B. die deutschsprachigen Länder Einwanderungsländer sind;[1] und Schule als öffentliche Institution ist hier besonders gefragt, weil die Schulpflicht dazu führt, dass Schule der Ort ist, an dem Schüler_innen aus allen Kulturen zusammenkommen, um zusammen zu lernen – ob sie dies wollen oder nicht. Wenn dies gelingt, spricht dies übrigens für die allgemeine Schulpflicht gegenüber einer nur allgemeinen Unterrichtspflicht.
Aber ist interkulturelle Bildung auch möglich? Die meisten – wenn nicht alle – Unterrichtenden[2] möchten diese Frage gerne bejahen, denn schließlich sehen sie sich täglich mit der Herausforderung konfrontiert, interkulturelle Bildung zu vermitteln. Wenn ich nun im Folgenden argumentiere, dass interkulturelle Bildung theoretisch problematisch, praktisch aber möglich ist, will ich damit zwei Ziele erreichen: Erstens will ich die Leistung derjenigen Unterrichtenden betonen, die nicht bei dem im Folgenden skizzierten traditionellen Verständnis des Humboldt’schen Bildungsbegriffs und seinen problematischen Implikationen stehen bleiben. Zweitens will ich kurz skizzieren, warum m.E. interkulturelle Bildung trotz dieser problematischen Implikationen in der Praxis gelingen kann.
Meine Überlegungen bleiben dabei sicherlich skizzenhaft – schon deshalb, weil ich im Folgenden auf jeweils drei Merkmale fokussiere und man anstelle der Quellen, auf die ich mich beziehe, natürlich auch andere heranziehen könnte. Trotzdem meine ich, dass dadurch exemplarisch ein Beitrag geleistet wird, der den obigen beiden Zielen dient, zumal die erwähnten Autor_innen als einschlägig gelten. So wird z.B. der Humboldt’sche Bildungsbegriff häufig dem (Weinert’schen) Kompetenzbegriff gegenübergestellt, wie es auch Christian Prust in diesem Blog getan hat.[3]
Für die Problematik, die mit einem philosophischen Bildungsbegriff (wie Humboldts) verbunden ist, werde ich erstens Gregor Pauls Verständnis von interkultureller Philosophie darstellen, dessen Einführung in die interkulturelle Philosophie einschlägig ist. Zweitens werde ich zeigen, dass Helmut Danners Rekonstruktion des Humboldt’schen Bildungsbegriffs mit Pauls Verständnis von interkultureller Philosophie übereinstimmt. Die drei besonderen Eigenschaften afrikanischer Kultur nach Danner führen jedoch zu einem eurozentrischen Bildungsverständnis, das daher in Frage zu stellen ist. Drittens werde ich abschließend argumentieren, dass trotz dieser Problematik des Humboldt’schen Bildungsbegriffs in der Theorie interkulturelle Bildung in der Praxis bzw. Anwendung sehr wohl möglich ist.
Gregor Paul definiert ‚interkulturelle Philosophie‘ (IK) durch insgesamt drei Merkmale bzw. Eigenschaften:
(1IK) durch ihr (politisches) Ziel der gewaltfreien Verständigung zwischen Kulturen.[4]
(2IK) durch ihren Gegenstand, nämlich ‚Kultur‘ (K). Diesen bestimmt Paul zunächst ex negativo, nämlich als Gegensatz zur ‚Natur‘. Im Folgenden wird deutlich, dass er damit die sogenannte ‚Zweite Natur‘ des Menschen meint, nämlich
(K1) „von Menschen geschaffene Lebensformen“ und
(K2) „deren Eigenschaften“.[5]
‚Lebensformen‘ definiert Paul durch Aufzählung von Beispielen; er nennt neben u.a. Essens- und Bekleidungskonventionen sowie religiösen Traditionen auch explizit „Philosophien verschiedener Kulturen“[6]. Dies weist schon darauf hin, dass Paul interkulturelle Philosophie
(3IK) als (eine Form von) Meta-Philosophie begreift bzw., in seinen eigenen Worten, als „Philosophie der Philosophie“[7]: Interkulturelle Philosophie sei stets Ausdruck des selbstkritischen Vorgehens von Philosophie.
Diese dritte Bestimmung ist deshalb besonders wichtig, weil interkulturelle Philosophie nach Paul somit keine Sub-Disziplin von Philosophie ist, wie man es aufgrund der obigen beiden Punkte (gewaltfreie Verständigung mit bestimmtem Gegenstand) erwarten könnte; vielmehr gehe es darum, zuerst „den Gegenstand der eigenen Überlegungen zu sichern“[8].
Nach dieser Begriffsklärung von ‚interkultureller Philosophie‘ soll nun gezeigt werden, dass sich Helmut Danner bei seiner Skizze einer interkulturellen Bildung (IB) auf diesen Begriff interkultureller Philosophie bezieht: Danner sieht (interkulturelle) Bildung in (interkultureller) Philosophie begründet, was sich daran zeigt, dass seine Darstellung[9] alle drei der genannten Merkmale interkultureller Philosophie nach Paul erfüllt:
(1IB) das (politische) Ziel gewaltfreier Verständigung, hier der gewaltfreien Verständigung zwischen (exemplarisch) afrikanischer und westeuropäischer Kultur; diese Verständigung bzw. „Auseinandersetzung mit einer nicht-westlichen Kultur“[10] fordert er als Gegenentwurf zu einem eurozentrischen Verständnis von Bildung.
(2IB) die Beschäftigung mit einer Kultur, hier mit der „ ‚afrikanische[n] Kultur‘ im Singular“[11]; der Singular ist nach Danner insofern begründet, als er Eigenschaften angibt, die die afrikanische von der westlichen Kultur unterscheiden (Kultur-Essentialismus). Explizit nennt er drei dieser Eigenschaften, nämlich:
(A1) „Gemeinschaft als Existenzgrund“[12]: Grundlage für das Identitätsverständnis bilden Personenverbund und Gesellschaft in der afrikanischen Kultur gegenüber der Einzelperson und dem Individuum in der westlichen Kultur.
(A2) „Die Person hat Priorität vor der Sache.“[13]: Ethik in der afrikanischen Kultur ist eine persönliche Angelegenheit, die gemeinsam und konkret ausgehandelt werden muss gegenüber der Priorität von abstrakten Normen und Gesetzen ohne Ansehen der Person in der westlichen Kultur.
Ist beispielsweise ein Verbrechen geschehen, steht aufgrund der Merkmale (A1) und (A2) die Wiedergutmachung zwischen den Familien im Vordergrund, nicht die unabhängige Entscheidung vor Gericht.
(A3) „Spirituelle Rationalität“[14]: Spirituelle Praktiken von Afrikaner_innen sind insofern rational, als sie ein kausales Verhältnis von Ursache und Wirkung beschreiben; denn für Afrikaner_innen sind spirituelle Kräfte Realität und ein Teil dieser Welt. Auch wenn Europäer_innen die spirituellen Praktiken der Afrikaner_innen als Aberglauben ansehen, müssen sie laut Danner akzeptieren, dass diese ihres Erachtens aufgrund dieser Kräfte gesund oder krank werden.[15]
(3IB) Der metaphilosophische Charakter von Danners Ansatz zeigt sich schon dadurch, dass er ‚Ubuntu‘, was das afrikanische Selbstverständnis beschreibt und mit „‚Menschheit‘, ‚Menschsein‘, ‚Menschlichkeit‘, ‚Humanität‘“[16] übersetzt werden kann, als (eine Form von) Philosophie bezeichnet.
Die Problematik des Humboldt’schen Bildungsbegriffs sieht Danner in den genannten Unterschieden zwischen europäischer und afrikanischer Kultur: Humboldt (H) versteht Bildung wesentlich als Selbstbildung, insbesondere als Auseinandersetzung des Individuums mit der Welt, d.h. als eine zwischen (H1) personalem Ich und (H2) den Dingen in der Welt bestehende (H3) Verbindung.[17] Vergleicht man nun diese drei wesentlichen westlichen Merkmale von Bildung nach Danners Rekonstruktion von Humboldt (H1-H3) mit den oben genannten afrikanischen Besonderheiten (A1-A3), wird deutlich, dass anstelle des personalen Ichs (H1) als Existenzgrundlage die Gemeinschaft (A1) gesetzt werden muss, ebenso anstelle der Priorität der Sache vor der Person (H2) die Priorität der Person vor der Sache (A2); zudem ist bei der Verbindung zwischen Ich und Welt (H3) auch die Spirituelle Rationalität (A3) zu berücksichtigen.[18] Durch das z.T. divergierende Verständnis der drei wesentlichen Merkmale bzw. Komponenten von (Selbst-) Bildung wird das Konzept insgesamt fragwürdig; gefordert ist ein Perspektivwechsel im Sinne einer Bildung(stheorie), die nicht von westlichen Voraussetzungen ausgehen darf.[19] Allgemeiner gesagt: Man sollte beim Verständnis von ‚Bildung‘ nicht von Voraussetzungen ausgehen, die kulturspezifisch sind, sondern nur von solchen, die allgemein-menschlich sind.
Warum aber ist nun interkulturelle Bildung in der Praxis trotz dieser problematischen Implikationen möglich? Eine Antwort kann ich hier nur andeuten, aber ich denke, dass Unterrichtende oft intuitiv auf allgemein-menschliche Voraussetzungen rekurrieren; dies zeigt sich dann, wenn sie auf die Auseinandersetzung mit und zwischen Personen setzen, wie sie in dialogphilosophischen Ansätzen zum Ausdruck kommt,[20] z.B. prominent bei Martin Buber: Laut Buber geschieht eine wirkliche Begegnung und menschliche Beziehung nur im „Grundwort“ bzw. „Wortpaar Ich-Du“[21], also dann, wenn sich ein ‚Ich‘ mit dem Wort ‚Du‘ auf ein anderes ‚Ich‘ bezieht. Eine solche Begegnung im Dialog schwächt die oben genannten Unterschiede ab, da es dabei zunächst unerheblich ist, ob z.B. die Identitätsgrundlage der am Dialog beteiligten Menschen eher die Individualität (H1) oder die Gemeinschaft (A1) ist. Freilich sollte das Ziel interkultureller Bildung sein, dass bei der Begegnung zwischen Menschen verschiedener Kulturen auch die Unterschiede dieser Kulturen thematisiert werden. Dazu möchte ich abschließend zwei Vorschläge anbringen: Erstens liegt es nahe, dass Unterrichtende – am besten gemeinsam mit ihrer (interkulturellen) Klientel – ihr Bildungsverständnis und dessen Voraussetzungen reflektieren, wie es oben exemplarisch am Humboldt’schen Bildungsbegriff getan wurde. Zweitens bietet es sich an, über Begriffe wie ‚Ubuntu‘, für die es kein (direktes) Äquivalent in anderen Sprachen gibt, mit Menschen anderer Kulturen ins Gespräch zu kommen, da gerade in solchen Begriffen kulturspezifische Ansichten zum Ausdruck kommen. Der Vorteil des letzteren Ansatzes ist, dass dies mit jüngeren Kindern ebenso wie mit Jugendlichen möglich ist. Somit erweist sich ‚interkulturelle Bildung‘ als in der Theorie problematisch, in der Praxis aber als möglich.
Melanie Förg, M.A., hat Germanistik, Klassische Philologie (Latein), Erziehungswissenschaften, Philosophie/Ethik, Theologie (Abschluss jeweils mit dem Staatsexamen) und den Zertifikatsstudiengang „Interkulturelle Erwachsenenbildung“ studiert und von 2010 bis 2014 ausschließlich, anschließend in Teilzeit unterrichtet. Ihren Masterabschluss hat sie in Philosophie erworben, worin sie seit Oktober 2018 auch promoviert. Sie ist Kollegiatin im interdisziplinären, kooperativen Promotionskolleg „Ethik, Kultur und Bildung für das 21. Jahrhundert“ (München/Eichstätt). Ihre Interessenschwerpunkte sind Tugendethik, Antike Philosophie und Didaktik der Philosophie.
[1] Siehe http://www.bpb.de/gesellschaft/migration/laenderprofile (30.09.18), dann rechts das jeweilige Land auswählen.
[2] Ich schreibe hier absichtlich von ‚Unterrichtenden‘, weil ich damit nicht nur an Schulen unterrichtende Lehrer_innen meine, sondern alle, die unterrichtend tätig sind, z.B. auch die an außerschulischen Bildungseinrichtungen Tätigen (wenngleich diese vielleicht nicht alle Kinder und Jugendlichen erreichen können).
[3] Siehe https://praefaktisch.de/bildung/ueber-den-status-der-philosophie-im-kompetenzdschungel/#_ftnref (26.09.18).
[4] Hier setzt Paul grundsätzlich zweierlei voraus: Erstens, dass eine Verständigung zwischen Kulturen (und Menschen) möglich ist und zweitens, dass es überhaupt ‚Kulturen‘ gibt (Kultur-Essentialismus).
[5] Siehe Paul, Gregor (2008): Einführung in die interkulturelle Philosophie, Darmstadt, S. 11.
[6] Siehe ebd.
[7] Siehe ebd., S. 16.
[8] Siehe ebd.
[9] Siehe Danner, Helmut (2015): „Von westlicher Arroganz zu interkultureller Bildung. Ein Versuch“, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 3.
[10] Siehe ebd., S. 3.
[11] Siehe ebd., S. 4.
[12] Siehe ebd.
[13] Siehe ebd., S. 5.
[14] Siehe ebd.
[15] Siehe ebd., S. 9. Man kann diesen Punkt Danners noch stark machen, indem man sich z.B. vor Augen führt, dass man psychische Krankheiten durch ‚spirituelle Rationalität‘, d.h. die Wirksamkeit der Ahnen (‚afrikanisch‘) oder auch durch ‚wissenschaftliche Rationalität‘, d.h. die Wirksamkeit eines belastenden Familiengeheimnisses (‚westlich‘) erklären kann.
[16] Siehe ebd., S. 4.
[17] Siehe ebd., S. 14-16.
[18] Dies ist eine vereinfachte Erklärung von Danners Schemata (siehe ebd., S. 16 und 21).
[19] Siehe ebd., S. 22.
[20] Zum Anspruch wie zur Chance dialogphilosophischer Ansätze siehe die Arbeiten von Barbara Schellhammer, z.B. (2017): Wie gelingt der interkulturelle Dialog? – Grundsatzartikel, in: BLLV/Erzdiözese München und Freising: Religiöse und kulturelle Vielfalt in Schulen, München, S. 10–15, online unter https://www.erzbistum-muenchen.de/cms-media/media-40782220.pdf (30.09.18).
[21] Buber, Martin (111995): Ich und Du, Stuttgart, S. 3.