Sinn im Leben durch soziale Einbettung

von Michael Kühler (Münster/Hannover)


Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Aufsatz, der im Schwerpunkt „Das Schöne, Wahre und Gute. Das sinnvolle Leben in der Diskussion“ in der Zeitschrift für Praktische Philosophie erschienen ist.


Was vermag uns in unserem Leben das (begründete) Gefühl zu geben, dass wir ein sinnvolles Leben führen? Anders gefragt: Welche Elemente in unserem Leben haben das Vermögen, sinnstiftend zu sein?

Die Frage nach dem sinnvollen Leben bzw. der Kategorie des Sinns im Leben hat in jüngerer Zeit in der Philosophie wieder zunehmende Beachtung gefunden, wie nicht zuletzt auch der aktuelle Schwerpunkt zum Thema in der Zeitschrift für Praktische Philosophie bezeugt, auf den sich dieser Blogbeitrag gründet.[1] Diskutiert wird nicht nur einmal mehr die klassische Frage nach einem möglichen Sinn des Lebens im Ganzen, sondern in erster Linie die Frage nach dem Sinn im Leben, d.h. was ein Leben zu einem sinnvoll geführten Leben macht. Paradebeispiele hinsichtlich der letzteren Frage, die in der Literatur immer wieder angeführt werden, sind Nelson Mandela, Mutter Teresa, Albert Einstein und Fjodor Dostojewski, die jeweils Werte wie Freiheit, Barmherzigkeit, wissenschaftliche Erkenntnis oder künstlerisches Schaffen verfolgt, befördert oder geschaffen haben.[2] Ein sinnvolles Leben ist demnach eines, in dem die Person bestimmten als wertvoll und daher sinnstiftend angesehenen Tätigkeiten nachgeht oder bestimmte zur Sinnstiftung geeignete Werte zu befördern sucht.[3]

Nun mag man zwar gerne zugeben, dass die genannten Personen ein sinnvolles Leben geführt haben – wenn auch nicht immer ein glückliches. Wenn solche Leben jedoch den Maßstab für ein sinnvoll geführtes Leben darstellen sollen, würde dies offenbar bedeuten, dass der Großteil der Menschheit, der weitaus alltäglicheren Lebensweisen nachgeht, kein sinnvolles Leben führt. Dies wäre nicht nur ein recht harsches Urteil, sondern widerspräche auch unserem Eindruck, dass wir viele alltägliche Leben durchaus als sinnvoll geführte Leben anerkennen, d.h. als Leben, die sinnstiftende Elemente enthalten. Eltern, die sich liebevoll um ihre Kinder kümmern; Freunde, die einem gemeinsamen Hobby nachgehen und Anteil aneinander nehmen; Lehrer*innen, die Kindern das Lesen und Schreiben beibringen; sie alle führen, wie wir hoffentlich meinen, sehr wohl ein sinnvolles Leben.

Diese Leben ebenfalls als sinnvolle zu charakterisieren lässt sich natürlich einfach dadurch bewerkstelligen, dass die zur Sinnstiftung geeigneten Werte breiter gefasst werden, so dass etwa auch familiäre Bindungen, das Pflegen von Freundschaften oder erzieherische Tätigkeiten eingeschlossen sind. Dies ist denn auch der in der Debatte übliche Schritt. Allerdings stellt sich dann die Frage, worin genau noch die Besonderheit und Eigenständigkeit der sinnstiftenden Werte im Gegensatz zu anderen Werten bestehen soll. Ließe sich die Rede vom sinnvollen Leben insofern auf die Vorstellung eines glücklichen, gelungenen oder in spezifischer Hinsicht wertvollen Lebens reduzieren, gar unabhängig davon, welche Werte nun genau beteiligt wären? Geht es bei der Frage nach sinnstiftenden Elementen im Leben vielleicht gar nicht in erster Linie um Werte und ihre Verfolgung, sondern um etwas ganz anderes?

Im Gegensatz zum werttheoretisch geführten Mainstream der aktuellen, analytisch geprägten philosophischen Debatte scheint mir dies tatsächlich so zu sein. Bestimmte Werte und deren Verfolgung mögen ein Leben vor allem in moralischer oder ästhetischer Weise wertvoll machen. Ob diesen Werten dadurch jedoch auch eine sinnstiftende Funktion zukommt, scheint mir durchaus eine offene Frage zu sein. Denn die generelle Frage nach Sinn im Leben lässt sich diesbezüglich neutral formulieren: Wie müssen Elemente im Leben einer Person beschaffen sein, damit sie für diese Person eine sinnstiftende Funktion zu entfalten vermögen?

Statt zur Beantwortung dieser Frage auf bestimmte Werte und deren Verfolgung zu verweisen, halte ich den folgenden, im Alltag wohlvertrauten Gedanken für überzeugender: Es ist die willentliche Einbettung des eigenen Handelns und Lebens in etwas Größeres, d.h. über die eigene Person Hinausweisendes, die Sinn im Leben zu stiften vermag. Diese Einbettung in etwas Größeres besteht wiederum in nichts anderem als einer sozialen Einbettung, d.h. in einem Handeln mit und für andere.[4] Sinn im Leben konstituiert sich dieser Idee zufolge also dann, wenn das eigene Handeln erstens in einen sozialen Zusammenhang eingebettet ist und man auf diese Weise mit und für andere handelt sowie zweitens einem die spezifische Einbettung auch wichtig ist.

Die so verstandene Sinnstiftung im Leben macht diese im Übrigen keineswegs immun gegen Kritik. Nicht jede soziale Einbettung des eigenen Handelns ist klug oder moralisch legitim, selbst wenn sie erfolgreich Sinn im eigenen Leben zu stiften vermag. Die eigenen Interessen allzu sehr zurückstellen, um mit und für andere zu handeln, mag zwar sinnstiftend, nicht immer aber klug sein. Die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung oder einer rassistischen Gemeinschaft, in denen man ausschließlich mit und für die Mitglieder der eigenen Gemeinschaft handelt, mag zwar ebenso erfolgreich Sinn im Leben der Person zu stiften – eben dies macht diese Optionen für viele so attraktiv und zugleich gefährlich. Sie sind aber zweifellos aus moralischen Gründen vehement zu kritisieren und abzulehnen.

Unabhängig von dieser möglichen und teils nötigen Kritik an bestimmten sinnstiftenden sozialen Einbettungen ist jedenfalls auffällig, dass sowohl die in der Literatur als paradigmatisch angeführten als auch die alltäglichen Beispiele für sinnvoll geführte Leben in zentraler Weise eine soziale Einbettung aufweisen. Führt man sich etwa das Handeln und Leben von Nelson Mandela und Mutter Teresa vor Augen, so ist es praktisch unmöglich, es sich ohne jegliche soziale Einbettung vorzustellen bzw. nicht als eines, das mit und für andere vollzogen wurde. Mandelas aufopferungsvoller und selbstloser Einsatz für Freiheit war zweifellos einer, der gerade auch die Freiheit anderer betraf. Das entsprechende Handeln war eines (auch oder gar primär) für andere, weshalb wir es nicht zuletzt aus moralischer Perspektive derart hoch- und wertschätzen. Gleiches gilt für Mutter Teresa, deren barmherziges Handeln ohne einen Bezug zu anderen ohnehin undenkbar ist. Ist in diesen Fällen nun tatsächlich die Verfolgung moralischer Werte ausschlaggebend für unser Urteil, es handle sich um sinnvoll geführte Leben, wie es der Mainstream der philosophischen Debatte unterstellt, oder vermag nicht vielmehr die soziale Einbettung ihres Handelns die sinnstiftende Funktion zu übernehmen und zu explizieren – während die moralische Hochschätzung von Mandela und Mutter Teresa ein davon unabhängiges Urteil wäre?

Umgekehrt: Würden wir im Falle von Einstein und Dostojewski immer noch sagen, es handle sich um sinnvoll geführte Leben, wenn beide in solipsistischer Manier ausschließlich wissenschaftliche Erkenntnis bzw. künstlerisches Schaffen anstrebten, ohne dass sie überhaupt ein Interesse daran hätten, dies mit anderen zu teilen? Welche alltäglichen Beispiele von klarerweise sinnvollen Lebensweisen wären noch vorstellbar, wenn diese keinerlei soziale Einbettung, d.h. keinerlei Handeln mit und für andere, aufweisen dürften?

Selbst auf den ersten Blick sinnlos geführte Leben, wie diejenigen des mythischen Sisyphos oder des von John Rawls erwähnten Grashalmzählers,[5] dürften anders beurteilt werden, sobald man sie im Sinne einer sozialen Einbettung und eines Handelns mit und für andere modifiziert. Wäre Sisyphos’ immer gleiches Tun beispielsweise tatsächlich die einzige Möglichkeit, ein nahegelegenes Dorf zu schützen – so skurril dies auch klingen mag –,[6] so dürfte uns sein Tun und Leben keineswegs so klar und eindeutig als sinnlos erscheinen, d.h. die Dimension des Sinns im Leben zu verfehlen.

Ein alltäglicheres Szenario mag dies weiter veranschaulichen. Angenommen, man besucht jeden Tag seinen dementen Vater, der sich nicht mehr an die früheren Besuche erinnern kann. Jeden Tag führt man deshalb aufs Neue dasselbe Gespräch. Unterstellt sei, dass einem der Vater und dessen Wohlergehen wichtig sind und dass die Besuche dem Vater tatsächlich guttun und sein Wohlbefinden befördern. Weder aber kommt das Gespräch über den Tag hinaus voran, noch verändert sich die Beziehung zum Vater in irgendeiner Weise. Die Besuche und Gespräche entsprechen insofern dem Stein, den Sisyphos jeden Tag aufs Neue den Berg hinaufrollt und der jeden Abend wieder herunterrollt. Dennoch dürften wir diese immer gleichen Gespräche mit dem Vater sehr wohl als sinnstiftend betrachten, da es sich um eine aktive Teilnahme am Leben einer geliebten Person handelt und deren Wohl befördert. Die eigene, immer gleiche Tätigkeit ist auf diese Weise in einen sozialen Zusammenhang eingebettet und macht einen positiven Unterschied, auch wenn es jeden Tag aufs Neue derselbe Unterschied sein mag.

Im Falle des Grashalmzählers lässt sich ganz ähnlich argumentieren. Angenommen, der Grashalmzähler ist Mitglied im Verein der Grashalmzähler, deren gemeinschaftliches Ziel es ist, die Grashalme auf bestimmten geometrisch geformten Flächen zu zählen, etwa auf der großen Rasenfläche vor dem Vereinsheim. Unterstellt sei, dass dem Grashalmzähler die Einbindung in seinen Verein und die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft der Grashalmzähler wichtig ist und er seinen Beitrag zum Vereinsziel leisten möchte. Letzteres bettet sein eigenes Handeln und Grashalmzählen in einen sozialen Zusammenhang ein und macht für die anderen Vereinsmitglieder daher einen positiven Unterschied. Um das Beispiel noch etwas nachdrücklicher zu machen, sei angenommen, dass es im Speziellen darum ginge, dem todkranken Vorsitzenden des Vereins seinen letzten großen Wunsch zu erfüllen, nämlich zu erfahren, wie viele Grashalme sich auf der großen Rasenfläche vor dem Vereinsheim befinden. Ist es nun tatsächlich so abwegig, dem sozial eingebundenen Grashalmzählen eine sinnstiftende Funktion im Leben des Grashalmzählers zuzugestehen, selbst wenn die ganze Geschichte erneut einigermaßen skurril anmuten mag?[7]

Wenn wir die Plausibilität dieser Beispiele um Sinnstiftung im Leben nun nicht einfach abstreiten mögen, dann haben wir einen guten Grund, der werttheoretischen Engführung im Mainstream der analytisch geprägten philosophischen Debatte kritisch gegenüberzustehen. Sinnstiftende Elemente im Leben können durchaus alltäglicher sein, als es der philosophische Fokus auf Werte und deren Verfolgung glauben macht.


Michael Kühler ist Privatdozent am Philosophischen Seminar der Universität Münster und aktuell wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Hannover. Er arbeitet zu verschiedenen Themen in den Bereichen Ethik, Metaethik, Angewandte Ethik, politische Philosophie sowie Philosophie der Liebe und ist neben Sebastian Muders und Markus Rüther Mitherausgeber des Schwerpunkts „Das Schöne, Wahre und Gute: Das sinnvolle Leben in der Diskussion“ in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für Praktische Philosophie. Dort ist auch sein Aufsatz „Sinnstiftung durch soziale Einbettung“ erschienen.


Literatur

Camus, Albert. 1942. Der Mythos des Sisyphos. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2000.

Metz, Thaddeus. 2013a. Meaning in Life. Oxford: Oxford University Press.

———. 2013b. „The Meaning of Life“. In The Stanford Encyclopedia of Philosophy, herausgegeben von Edward N. Zalta, Summer 2013. Metaphysics Research Lab, Stanford University. https://plato.stanford.edu/archives/sum2013/entries/life-meaning/.

Muders, Sebastian, und Markus Rüther. 2011. „Der Sinn des Lebens. Über ein in der analytischen Philosophie aktuell gewordenes Thema“. Information Philosophie 2011 (4): 30–40.

Rawls, John. 1971. A Theory of Justice. Cambridge: Belknap Press.

Ricœur, Paul. 1996. Das Selbst als ein Anderer. München: Wilhelm Fink Verlag.

Taylor, Richard. 1970. Good and Evil. Amherst: Prometheus Books, 2000.

Wolf, Susan. 1997. „Happiness and Meaning: Two Aspects of the Good Life“. Social Philosophy and Policy 14 (1): 207–225.

———. 2010. Meaning in Life and Why It Matters. Princeton: Princeton University Press.

———. 2016. „Meaningfulness: A Third Dimension of the Good Life“. Foundations of Science 21 (2): 253–69.


[1] Siehe https://www.praktische-philosophie.org/2018-heft-2-dezember.html

[2] Vgl. (Wolf 1997, 209, 2010, 11, 2016, 257; Metz 2013a, 4f.).

[3] Vgl. (Wolf 1997, 211, 2016, 256; Muders und Rüther 2011; Metz 2013a, 6, 2013b, Abschnitt 1).

[4] Siehe (Ricœur 1996, 210 und allgemein Kap. 7), der diese Wendung im Rahmen seiner „kleinen Ethik“ hervorhebt – obschon nicht mit Blick auf die Sinndimension des eigenen Lebens.

[5] Siehe (Camus 1942; Taylor 1970, Kap. 18; Rawls 1971, 432f.; Wolf 1997, 217–20).

[6] Vgl. (Wolf 2010, 21, 38).

[7] Es sei daher nochmals betont, dass es mir hier ausschließlich um die sinnstiftende Funktion von Elementen im Leben geht, nicht um eine – zusätzlich mögliche – Einschätzung, wie (insbesondere moralisch oder ästhetisch) wertvoll diese sein mag. Der Eindruck des Skurrilen mag also völlig richtig sein, würde sich dann aber eben darauf beziehen, dass es sich um eine Tätigkeit und ein Vereinsziel handelte, das wir üblicherweise für wenig wertvoll halten.