Noch einmal!? Marxismus und Philosophie

von Volker Schürmann (Köln)


Wie bloß beginnen? Womit muss heute der Anfang einer wissenschaftlichen Erörterung des Verhältnisses von Marxismus und Philosophie gemacht werden? Ist nicht alles dazu gesagt, was es dazu zu sagen gibt? Etwa von Korsch (1923), von Fracchia (1987), von Balibar (1995). Und war es etwa nicht sowieso egal, was in solchen Texten stand, weil die je eigene Lesart sowieso unirritierbar war?

Die Versuchung ist groß, mit einer cartesianischen oder husserlianischen Meditation zu beginnen, nach dem Motto: Alle bisherige Beschäftigung mit dem Thema war falsch, korrumpiert, reflexartig – deshalb ist es gar nicht anders möglich, als allen Schutt wegzuräumen und noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Wenn man etwas von Marx und Engels lernen kann, dann das, dass es so nicht geht. Es gibt kein Beginnen an einem fingierten Nullpunkt, sondern jedes Beginnen ist geschichtlich situiert und also ein Umgehen mit dem Bisherigen.

Das macht es nicht einfacher. Ein heutiges Beginnen wird also – zum Beispiel und prominent – mit einem geschichtsphilosophischen Satz wie dem folgenden umzugehen haben: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.« (Marx & Engels 1848: 462) Und nicht nur mit diesem Satz allein, sondern ebenfalls mit der Geschichte seiner Auslegungen – also zum Beispiel, und willkürlich herausgegriffen: »Wie Mao sagt: ›Niemals den Klassenkampf vergessen!‹« (Althusser 1971: 111) Kann man sich heute ernsthaft ein ernsthaftes Umgehen mit diesem Satz und seiner Wirkungsgeschichte vorstellen? Sind wir ernsthaft schon so weit, darauf nicht reflexhaft, also »wie aus der Pistole« (Hegel, HW 5: 65), zu reagieren? Also nicht sofort schon zu wissen, dass es doch gar keine Klassen mehr gibt oder sofort schon zu wissen, dass es Klassen sehr wohl noch gibt und dass es vom bürgerlichen Teufel ist, das bestreiten zu wollen? Ich wage zu bezweifeln, dass das aktuelle öffentliche Klima es zulässt und aushält, auf solche berühmt-berüchtigten Marx-Engelsschen Sätze mit einer Epoché zu reagieren – also mit einem Staunen, mit einem Innehalten, mit der Frage, was ein solcher Satz denn wohl meint, um ihn erst dann, nach einem Klärungsversuch, zu bewerten. »Mit dem Marxschen Gedanken einer ›Diktatur des Proletariats‹ etwa kann heutigentags keiner der Autoren [die an der Umfrage teilgenommen haben] etwas anfangen.« (Editorial, in Widerspruch 65: 11) Was soll es auch heißen, dass Klasse eine geschichtsphilosophische Kategorie, nicht aber ein empirischer Begriff ist, so dass sich die Frage in Luft auflöst, ob es Klassen gibt oder aber nicht gibt?

Ich selber reagiere zum Beispiel reflexhaft auf das Wort »Entfremdung«. Ich weiß schon, belehrt durch Lektüre einiger Schriften von Marx und Plessner, dass das Konzept der Entfremdung falsch ist. Wer nämlich Entfremdung sagt, der nimmt dadurch einen Zustand des Heilen, des Nichtentfremdeten, des Paradieses an – und solche Annahmen sind in der Moderne anachronistisch. Marx hat deshalb das altphilosophische Konzept der Entfremdung aus den frühen Pariser Manuskripten aufgegeben, um später im Kapital die gemeinten Phänomene theoretisch als Fetischismus zu begreifen. An diesem Beispiel kann man auch lernen, wie Recht Althusser hatte, als er einen Bruch in der Entwicklung des Marxschen Denkens konstatierte, nämlich jenen Bruch zwischen dem sog. »humanistischen« und dem wissenschaftlichen Marx. Ich habe deshalb das Entfremdungs-Buch von Rahel Jaeggi erst gar nicht gelesen, weil ich schon weiß, dass man das Konzept der Entfremdung nicht in und für die Moderne retten kann. Dieses Buch kann daher, so weiß ich schon, nur der Versuch sein, Marx auf das Abstellgleis zu schieben.

Wie aber soll man sich dann, diesem allgemeinen öffentlichen Klima des reflexhaften Umgangs mit Marx ausgesetzt, von der Haltung befreien, dass immer nur die anderen Marxismen falsch sind, die eigene Lesart aber ganz selbstverständlich die richtige ist? Mir fällt nichts anderes und nichts Besseres ein, als noch einmal von vorne zu beginnen, und zwar in der Überzeugung, das Verhältnis von Marxismus und Philosophie bisher ganz richtig gesehen zu haben, aber erklären zu müssen, wieso man das auch anders sehen kann.

Mir scheint, ein angemessenes Verständnis des Verhältnisses von Marxismus und Philosophie müsste an den folgenden drei Punkten festhalten, die zugleich lediglich drei Versionen eines einzigen Punktes sind:

  1. Marxismus ist nur im Bruch mit alteuropäischer vormaliger Philosophie zu haben, aber hat konstitutiv ein philosophisches Moment. Marxismus ist ein Bruch im Verständnis von Philosophie – es ist weder mit bloßer Reparatur von scholastischer Philosophie getan noch ist die Alternative ein Bruch mit jeder Philosophie. Bloße Reparatur von scholastischer Philosophie bricht nicht mit der Vorstellung einer ahistorischen Wahrheit, die man in Besitz nehmen könnte – und deshalb ist jede bloße Reparatur scholastischer Philosophie der offene oder klammheimliche Legitimationsgrund der anti-emanzipatorischen Praxis, theoretische Einsichten lediglich verwalten und ›anwenden‹ zu wollen. Ein Bruch mit jeder Philosophie wiederum gerät zu einem positivistischen Wissenschaftsverständnis, das nicht mit der Vorstellung bricht, man könne und müsse Wirklichkeit lediglich protokollieren – und deshalb ist der Bruch mit jeder Philosophie der offene oder klammheimliche Legitimationsgrund der anti-emanzipatorischen Praxis, theoretische Einsichten als alternativlos zu verkaufen. In beiden Fällen gerät die Avantgarde-Funktion der kommunistischen Partei zur Hohepriester-Funktion eines privilegierten Zugangs zum vermeintlich bloßen Besitz von Wahrheit.

Ein aktuelles Beispiel: »Philosophisch scheint mir Marx’ Denken für einen Abbau der Institution Philosophie zu sprechen. An den Grenzen der Wissenschaften und Alltagsdiskurse brauchen wir begrifflich kontrollierte Grundsatzreflexion; aber das ist etwas Anderes als die Pflege der allgemeinen Wahrheit oder garantierter logischer Stimmigkeit, wie sie sich nach der aufregenden Phase der Philosophiekritik an Universitäten durchgesetzt hat.« (Tilmann Reitz, in Widerspruch 65: 76) – Ja! Aber: Wie institutionalisiert man eine Grundsatzreflexion an den Grenzen der Wissenschaften und Alltagsdiskurse, wenn man die Institution Philosophie den Pflegern der allgemeinen Wahrheit oder garantierten logischen Stimmigkeit herschenkt? Wie macht man die Differenz zwischen emanzipatorischer Wissenschaft und positivistischem Protokoll ohne institutionalisierte Philosophie praktisch wirksam?

Der Lackmustest, immer noch: Wie hält es der Marxismus mit der Philosophie Hegels? Soweit Marx »meint, Hegel grundlegend kritisiert und entmystifiziert zu haben, erliegt er einem Selbstmissverständnis, das wesentlich darauf zurückzuführen ist, dass er spätestens 1845 meinte, mit der Philosophie überhaupt fertig zu sein und er deshalb seinen Gebrauch der Hegelschen dialektischen Methode philosophisch nicht mehr reflektierte« (Andreas Arndt, in Widerspruch 65: 17). Wissen Marxist*innen immer schon und immer noch reflexhaft, dass Hegels Philosophie vormalige Metaphysik, absoluter Idealismus, spekulativer Gespensterglaube ist? Oder schafft es Geschichte und Freiheitsbewusstsein (Arndt 2015), hier irritierende Kraft zu entfalten und diesen Reflex ernsthaft in Frage zu stellen?

  1. »Marx’ Philosophie- und Ökonomiekritik fußen systematisch auf dem Gedanken, dass wir in einer von Antagonismen, also grundsätzlichen Interessengegensätzen geprägten Gesellschaft leben.« (T. Reitz, a.a.O.: 75) Marxismus ist daher nicht ohne ein ausformuliertes logisches Konzept antinomischer Antagonismen zu haben. Dass die Erzieher selbst erzogen werden müssen und dass dieses Zusammenfallen nur als revolutionäre Praxis gefasst werden kann (Marx 1845: These 3); dass Wolkenkuckucksheime nur aus der Selbstzerrissenheit und dem Sichselbstwidersprechen einer weltlichen Grundlage zu erklären sind (ebd.: These 4); dass im kapitalistischen Arbeitsprozess eine Antinomie stattfindet, Recht wider Recht (Marx 1872(2): 241 [MEW 23: 249]) – all das und Ähnliches mag man bestreiten, aber dann steigt man aus dem Marxismus aus (was ein Befund und keine Drohgebärde ist). All das verlangt, wenn man es nicht bestreitet, eine präzise und zu klärende Logik in Anknüpfung an das alte, aber nicht veraltete Buch von Michael Wolff zum Begriff des Widerspruchs (Wolff 1981). Antinomische Antagonismen sind nicht ›irgendwie‹ Konflikte, sind nicht ›irgendwie‹ dialektische Verhältnisse, sind keine Komplementaritäten, sind schon erst recht nicht formallogische Widersprüche, sind nicht von der Art der Kantischen Vernunftantinomien, die bekanntlich, so Hegel, noch zu viel Zärtlichkeit für die Dinge dokumentieren – aber welcher Logik folgen grundsätzliche Interessengegensätze dann?

Hier braucht es eine Prüfinstanz, ob der eigene Marxismus auf der Höhe der Zeit ist. Eine mögliche Prüfinstanz ist die lapidare Frage Luhmanns: »Aber ist das der Punkt – nach Gödel?« (Luhmann 1990: 32)

  1. Wenn der Marxismus darauf insistiert, dass philosophische Wahrheit nicht in Besitz genommen werden kann, und wenn er zugleich darauf insistiert, dass daraus nicht ein purer Dezisionismus und Wahrheitsdarwinismus folgen soll und darf, dann muss er verständlich und logisch konsistent machen, was es heißen soll, dass das sog. Praxiskriterium der Wahrheit einem performativem Wahrheitsverständnis Ausdruck verleiht. Das Verhältnis von Theorie und Praxis kann kein logischer Zweischritt sein, denn es braucht sehr viel Theorie, um zu entscheiden, ob ein praktisch auftretendes Problem lediglich ein zu reparierendes theoretisches Pro­blemchen anzeigt, oder aber ein Grundsatzproblem des theoretischen Ansatzes, oder aber eine Situation, die umso schlimmer für die Praxis ist. Gramscis Problem der Hegemonie wäre von vornherein der Stachel gebrochen, wenn es unter diesem Titel ausschließlich darum gehen würde, ob und wie eine schon (im Besitz einer Partei oder sonstigen Instanz) gegebene Wahrheit auch noch zur Herrschaft gelangt. Gramscis Problem ist vielmehr, dass in antagonistisch strukturierten Gesellschaften allererst praktisch ausgefochten wird, was als Wahrheit gilt. Das war wohl gemeint, als Marx schon sehr früh von einer »Kritik im Handgemenge« sprach (Marx 1844: 381).

Um es kurz und formelhaft zu sagen: Marxistische Philosophie ist nur im Bruch mit scholastischer, bloß anschauender Philosophie zu haben. Das entscheidende Merkmal einer Philosophie nach diesem Bruch ist ihr performatives Wahrheitsverständnis. Die Selbstzerrissenheit der weltlichen Grundlage, deren ideeller Ausdruck sie ist, ist sowohl Gegenstand als auch Bedingung als auch Prinzip einer solchen Philosophie. Ihr entscheidendes Prüfkriterium ist deshalb eine erst noch zu entwickelnde nachgödelsche Logik antagonistischer Widersprüche. Das Scheitern marxistischer Philosophie dokumentiert sich in einer pseudolegitimierten politischen Praxis der Inbesitznahme von Wahrheit. Die Differenz zwischen Avantgarde-Funktion und Hohepriester-Funktion kommunistischer Parteien ist praktisch handfest, theoretisch aber noch undurchdrungen und folglich auch nicht institutionalisiert.


Volker Schürmann ist Professor für Philosophie und Leiter der Abteilung für Philosophie an der DSHS Köln.


Literaturverzeichnis

Althusser, Louis (1971): Anmerkungen zum Verhältnis von Marxismus und Klassenkampf. In: L. Althusser (1975): Elemente der Selbstkritik. Berlin: VSA, 104-111.

Arndt, Andreas (2015): Geschichte und Freiheitsbewusstsein. Zur Dialektik der Freiheit bei Hegel und Marx. Berlin: Eule der Minerva.

Balibar, Étienne (1995): The Philosophy of Marx. Translated by Ch. Turner. London/ New York: Verso.

Fracchia, Joseph G. (1987): Die Marxsche Aufhebung der Philosophie und der philosophische Marxismus. New York/ Bern/ Frankfurt a.M./ Paris: Lang.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (HW): Werke: in 20 Bänden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986.

Korsch, Karl (1923): Marxismus und Philosophie. Frankfurt a.M./ Köln: Europäische Verlagsanstalt 61975.

Luhmann, Niklas (1990): Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus und die unbekannt bleibende Realität. In: N. Luhmann (1990): Soziologische Aufklärung 5: Konstruktivistische Perspektiven. Opladen: Westdt. Verl., 31-58.

Marx, Karl (1844): Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: K. Marx & F. Engels (MEW): Marx-Engels-Werke. Berlin: Dietz, Bd. 1 (1983), 378-391.

Marx, Karl (1845): Thesen über Feuerbach. In: K. Marx & F. Engels (MEW): Marx-Engels-Werke. Berlin: Dietz, Bd. 3 (1983), 3-7.

Marx, Karl (1872(2)): Das Kapital. Kritik der Politischen Ökonomie. Erster Band (2. Aufl.). In: K. Marx & F. Engels (MEGA²): Gesamtausgabe. Berlin: Dietz, Bd. II/6 (1987).

Marx, Karl & Engels, Friedrich (1848): Manifest der Kommunistischen Partei. In: K. Marx & F. Engels (MEW): Marx-Engels-Werke. Berlin: Dietz, Bd. 4 (1974), 459-493.

Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie. Heft 65: Karl Marx 1818-2018. München 2017. Darin u.a.: Umfrage: Zur Aktualität des Denkens von Karl Marx (S. 13-106).

Wolff, Michael (1981): Der Begriff des Widerspruchs. Eine Studie zur Dialektik Kants und Hegels. Königstein/Ts.: Hain.