Das Unbehagen an der Medikalisierung des Alterns – eine reflexive Diagnose

Von Silke Schicktanz (Göttingen) & Mark Schweda (Oldenburg)


Neuartige diagnosti­sche, therapeutische oder präventive Maßnahmen ermutigen den Gedanken eines selbstbe­stimmten und um­sichtig zu gestaltenden späteren Lebens, werfen allerdings zugleich vielfältige Fragen auf. So bietet die wachsende Anzahl prädiktiver (genetischer wie auch nicht-genetischer) Tests zwar die Möglichkeit, Informationen über Risiken für altersassoziierte Erkrankungen in die eigene Lebensplanung einzubeziehen, geht aber mit neuen Verantwortungszuschreibungen einher. Die Präventiv- und Anti-Aging-Medizin verspricht die Verzögerung des Alterungsprozesses, lässt diesen dabei zugleich jedoch zunehmend pathologisch erscheinen. All diese Entwicklungen lösen ein gewisses Unbehagen aus, das es ethisch genauer auszuloten gilt (Schweda et al. 2017).

Die Möglichkeit der medizinischen Altersplanung versteht sich nicht von selbst. Zwischen den beiden Extremen absoluter Offenheit der Zukunft auf der einen und vollständiger Festgelegtheit des Lebensverlaufs auf der anderen Seite eröffnet sich heute ein Möglichkeitsspielraum für Wünsche und Pläne mit Blick auf das höhere Alter. Drei Entwicklungen waren dafür ausschlaggebend:

Erstens der beispiellose Anstieg der Lebenserwartung: Betrug diese in Deutschland um 1900 bei Männern durchschnittlich 46,6 und bei Frauen 52,5 Jahre, so liegt sie heute für neugeborene Jungen bei 78,6 und für Mädchen bei 83,4 Jahren (destatis[1]). Das hat vor allem mit der gesunkenen Sterblichkeit in der frühen Kindheit und dem mittleren Erwachsenenalter zu tun. Der Tod wurde – statistisch gesehen – von einer ständigen Bedrohung zu einem Phänomen des hohen Alters. Dieser Übergang »[v]on der unsicheren zur sicheren Lebenszeit« (Imhof 1988) zieht auch einen Bewusstseinswandel nach sich. Statistische schlägt in normative Lebenserwartung um: Der – gemessen am statistischen Durchschnittswert – ›vorzeitige‹ Tod wird als Ungerechtigkeit oder persönliches Versagen empfunden.

Zweitens erscheinen westliche, industrialisierte und kapitalistische Gesellschaften als reflexiv, posttraditionell, entscheidungs- und zugleich risikofixiert. Anthony Giddens (1991) stellt heraus, dass gerade die Idee der Planung und die damit verbundene Reflexivität in Bezug auf individuelle Identitätskonzepte und Lebensverläufe die Gegenwart kennzeichnen. Dies bedingt zugleich eine neue Form der Moralisierung des Alltags und der Normativierung unserer Erwartungen. Der Einzelne ist permanent herausgefordert, sich entsprechende Fragen zu stellen: ›Was soll ich tun? Wie soll ich leben?‹ Diese Ent-Essentialisierung, Reflexivierung und Moralisierung der individuellen Identität lässt auch das Altern zum wichtigen Teil eines Lebensprojektes werden. 

Drittens kommt nun der Wissenschaft die Aufgabe zu, die neu gewonnenen Spielräume zu vermessen, Entscheidungsmöglichkeiten zu erweitern und künftige Entwicklungen zu prognostizieren. In Bezug auf das Alter übernimmt die Biomedizin aktuell die Leitfunktion. Neuen Formen der medizinischen Prävention und des Anti-Aging bedeuten jedoch auch eine problematische Biomedikalisierung, Somatisierung und/ oder Genetisierung der menschlichen Identität. Der Begriff des Lebens in all seiner Mehrdeutigkeit (biografisch, biologisch, gesellschaftlich, künstlerisch etc.) wird zunehmend durch die biologisch-naturwissenschaftlichen ›Lebens‹-Wissenschaften dominiert. Die sich ergebenden ›Lebens-Strategien‹ zielen auf die systematische Umsetzung biomedizinischer Konzepte in allen Fragen der Lebensdeutung und -führung ab (Rose 2006). Dies resultiert in einem neuen „Entscheidungszwang“. Diese Kritik an der Biomedikalisierung und den mit ihr einhergehenden Zwängen bringt uns dem Kern des Unbehagens näher: dass medizinische Möglichkeiten zum Selbstzweck werden und alternative Handlungsoptionen nicht mehr opportun erscheinen können.

Die beschriebenen drei Prozesse begünstigen die gegenwärtige Konjunktur der Lebensplanung, in der sich individuelle, biografische, institutionelle sowie gesellschaftliche Muster verschränken. Temporalität spielt dabei eine zentrale Rolle: Planen bedeutet, Zukunftsszenarien zu entwickeln und zu bewerten, mögliche Folgen von Entscheidungen und Handlungen langfristig vorwegzunehmen und schließlich entsprechende Schritte einzuleiten, um den Eintritt bestimmter Ereignisse wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher werden zu lassen. Dieses Planen in längeren Zeiträumen setzt eine Vielzahl empirischer und normativer ›Konstanten‹ voraus: die Stabilität natürlicher und sozialer Ausgangs- und Rahmenbedingungen, die Berechenbarkeit subjektiver bzw. auch statistischer Wahrscheinlichkeiten, die Beständigkeit von Präferenzen und Gewichtungen und die langfristige Anlage authentischer Wünsche bzw. Selbstentwürfe. Allen ethischen Überlegungen zum Planen ist zudem gemein, dass sie – verschiedene – Vorstellungen von Verantwortung implizieren. Verantwortung wird zur Kehrseite der neuen Freiheiten und Wahlmöglichkeiten. Das Risiko tritt dabei aus normativer Sicht in den Vordergrund. Darum wird Verantwortung gerade im Kontext der Prädiktion und Prävention von Risiken normativ relevant. 

Im Gesundheitspolitikdiskurs der letzten Jahre erlangte vor allem die „Eigenverantwortung“ vermehrt Aufmerksamkeit. Damit wird suggeriert, dass allein das Individuum selbst entscheiden kann (und muss), wie sein Leben im Alter aussehen soll, zum Beispiel durch korrektes Gesundheitsverhalten, regelmäßige Nutzung medizinischer Leistungen oder bewusste Ablehnung intensivmedizinischer Maßnahmen. Solche einseitigen und überzogenen Verantwortungszuschreibungen sind ethisch zu kritisieren. Individuelle Verantwortungs­übernahme hat immer auch soziale Voraussetzungen und Grenzen. Deshalb erscheint es bedenklich, wenn individuelle Eigenverantwortung im Kontext neoliberaler, marktwirtschaftlich orientierter Gesundheitsversorgung zur Tugend schlechthin erhoben wird und alternative oder ergänzende Verantwortlichkeiten professioneller, sozialer und staatlicher Art ausgeblendet werden. Ein Beispiel solcher überzogener Erwartungen an das alternde Individuum ist der gegenwärtige Diskurs der Demenzprävention: Demenz als „die“ Krankheit des höheren Alters, welche sich durch Risikominimierung verhindern ließe und andernfalls imEnde jeglicher Selbstbestimmung resultiere, bedarf kritischer Analysen (Leibing/Schicktanz 2020)

Zugleich muss die individuelle Lebensführung als zentraler Bezugspunkt der klassischen Ethik unter ›spätmodernen‹ Bedingungen um die Dimension der Lebensplanung erweitert werden. Was unter dem Gesichtspunkt der Chancen als Nutzen und unter dem der Risiken als Schaden wahrgenommen wird, hängt von Bewertungen ab, die zwischen Individuen und Gruppen stark variieren können. Diese evaluativen Aspekte des Chancen- und Risikomanagements und die damit verbundenen Wertvorstellungen verweisen auf Vorstellungen des guten Lebens im Ganzen. Was uns jeweils als Risiko erscheint, hängt nicht zuletzt davon ab, wer wir sein und wie wir leben wollen. Gerade dem höheren Alter und dem Lebensende scheint im Hinblick auf das Gelingen des Lebens eine entscheidende Bedeutung zuzukommen: Hier rundet sich die Lebensgeschichte zu einem sinnvollen Ganzen, bricht abrupt ab oder verläuft sich in Sinn- und Belanglosigkeit.  

Aus ethischer Sicht ist es daher notwendig, die Altersmedizin auch im Licht umfassender – obschon im Zuge der modernen Individualisierung diversifizierter – Lebensorientierungen zu betrachten. Sie erst bilden den Horizont, in dem individuelle Präferenzen bewertet und gegeneinander abgewogen werden. In diesem Sinne macht etwa Charles Taylor (1996) darauf aufmerksam, dass unsere zentralen Werteinstellungen weder als eine Frage persönlichen Stils oder Geschmacks aufzufassen sind noch als Ergebnis einer ›radikalen Wahl‹ verstanden werden können, in der sich der Einzelne wie in einer willkürlichen und eigenmächtigen creatio ex nihilo seine Werte setzt. Sie sind vielmehr das Ergebnis eines oft langen (und manchmal mühevollen) deliberativen Prozesses der Selbstverständigung und Selbstentfaltung innerhalb konkreter Gemeinschaften und der durch sie vorgegebenen moralischen Normen und Sinnhorizonte. Erst in ihrem Bezugsrahmen können wir unsere Wertorientierungen entwickeln, eine Art ›moralische Landkarte‹, die uns Aufschluss darüber gibt, was in unserem Leben bedeutsam, wertvoll und erstrebenswert ist und was für eine Person wir sein wollen. Es ist nicht die vorrangige Aufgabe der Moralphilosophie, erneut konkrete, inhaltlich verbindliche Vorgaben bezüglich des guten Lebens und Alterns zu machen. Was sie aber leisten kann und soll, ist Unterstützung beim Nachdenken über das gute Altern und der kritischen Reflexion aktueller Sinnstiftungsangebote.  

Die Kritik an der Medikalisierung des Alterns ist vielfach zweischneidig: Sie verweist zurecht auf die problematische Zunahme von Entscheidungszwängen und entsprechenden Verantwortungszuschreibungen. Kontingenzen und Schicksals­schläge scheinen kaum noch Raum in der Vorstellung der verantwortlichen Lebensplanung zu haben. Andererseits gibt es allerdings auch kein einfaches Zurück zu vormoderner Schicksalsergebenheit oder vorreflexiver Planungslosigkeit. Gerade in Bezug auf kollektive und soziale Prozesse ist Formen kommunikativer und argumentativer Reflexion und Deliberation daher allemal der Vorzug zu geben. Zugleich ist einer Verengung auf libertäre Selbstbestimmungsrhetorik entgegenzuwirken, denn Altern und Sterben sind immer auch ein soziales Geschehen. Daher reicht es aus ethisch-philosophischer Sicht auch nicht aus, nur technik- oder medizinkritisch das Anti-Aging oder den Präventionswahn zu verteufeln. Vielmehr gilt es, der wachsenden Bedeutung der medizinischen Entwicklung für die individuelle Deutung und Gestaltung des Alterns sowie den gesellschaftlichen Umgang mit alten Menschen nachzugehen. Dabei hat die Ethik letztlich gegenüber allen Naturalisierungstendenzen und Sachzwangrhetoriken den genuin evaluativen bzw. normativen Charakter unserer Verantwortungszuschreibungen und Zielvorstellungen bezüglich des Alterns herauszustellen. Sie muss die Möglichkeit einer angemessen artikulierten Verständigung über sie offenhalten und sich an der Klärung der Frage beteiligen, was in diesem Zusammenhang als erstrebenswert und akzeptabel zu gelten hat und was nicht.


Silke Schicktanz hat seit dem 1. April 2010 die Professur für Kultur und Ethik der Biomedizin am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen inne.

Mark Schweda ist Professor und Leiter der Abteilung für Ethik in der Medizin am Department für Versorgungsforschung der Fakultät VI – Medizin und Gesundheitswissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. 


Literatur

Giddens, Anthony (1991), Modernity and self-identity. Self and society in the late modern age, Stanford, CA.

Imhof, Arthur E.  (1988), Von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit. Fünf historisch-demographische Studien, Darmstadt.

Leibing A., Schicktanz S. (Hrsg.) (2020), Prevention of Dementia? Critical Perspectives on a New Paradigm of Preparing for Old Age, Berghahn, New York

Rose, Niklas (2006), The Politics of Life Itself, Princeton.

Schweda, Mark, Pfaller, Larissa, Brauer, Kai, Adloff, Frank, Schicktanz, Silke (Hrsg.) (2017), Planning Later Life. Bioethics and Public Health in Aging Societies, Abingdon.

Taylor, Charles  (1996), Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt/M.


[1] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenserwartung/_inhalt.html [6.10.2020]