Wenn Fernunterricht zu Homeschooling wird: Bildungsgerechtigkeit und elterliche Pflichten

Von Johannes Giesinger (Zürich)


Mit der Schliessung der Schulen wurde der gewöhnliche Unterricht («Präsenzunterricht») auf «Fernunterricht» umgestellt. Häufig war auch von «Homeschooling» die Rede. Diese Bezeichnung erscheint einerseits als unzutreffend, andererseits aber entspricht sie wohl den Zuständen, die während des Shutdowns in vielen Familien herrschten.

Unzutreffend ist die Bezeichnung, weil während der Schulschliessung – d.h. der Schliessung der Schulgebäude – die Lehrpersonen hauptverantwortlich für den Unterricht blieben. Sie standen über digitale Medien in Kontakt mit ihren Schülerinnen und Schülern, erteilten Aufträge, gaben Feedbacks. Das heisst, sie unterrichteten die Kinder weiter, wenn auch aus der Ferne. Homeschooling hingegen meint im gängigen Sprachgebrauch, dass die Eltern sich selbst als Lehrpersonen betätigen: Sie organisieren und strukturieren den Unterricht auf eigene Faust, sie bestimmen, welche Aufgaben ihr Kind wann und wie erfüllen soll. Es gibt keine (andere) Lehrperson, die im Hintergrund die Fäden in der Hand hält.

Während dies im Fernunterricht der Fall war, kamen viele Eltern – gerade bei jüngeren Kindern – in die Situation, als Hilfslehrpersonen fungieren zu müssen. Sie waren nicht nur dafür zuständig, den Kindern zuhause eine sinnvolle Tagesstruktur zu bieten und sie Kinder zum Lernen zu motivieren. Sie mussten sich in vielen Fällen selbst hinsetzen und den Kindern erklären, wie man eine Mathematikaufgabe löst oder was die Grammatikbegriffe im Deutsch bedeuten. Der Fernunterricht wurde damit ein Stück weit zum Homeschooling.

Die Debatte um Homeschooling, wie sie vor Corona geführt wurde, hat viele Facetten. Religiöse Fundamentalisten, reformpädagogische Schulkritiker oder Eltern, die ihr Kind durch persönliche Betreuung zu Höchstleistungen bringen wollen – sie alle können ebenso ein Interesse an Homeschooling haben wie diejenigen, deren Kinder an ihrem jeweiligen Schulort schulisch oder sozial nicht klarkommen. Einiges dreht sich in dieser Debatte um elterliche Rechte in ihrem Verhältnis zum Wohl oder den Rechten der Kinder sowie den Interessen der Gesellschaft als ganzer. Typischerweise wird hier die soziale Integrationskraft der öffentlichen Schule gepriesen, d.h. ihre Fähigkeit, Kinder aus unterschiedlichen sozialen und religiös-weltanschaulichen Gruppen zusammenzubringen und so allen die Chance auf soziale Teilhabe zu eröffnen. Homeschooling, so scheint es demgegenüber, bindet Heranwachsende an den privaten Raum der Familie und erschwert ihnen den Kontakt zu all jenen, die nicht in den sozialen Kreisen ihrer Eltern verkehren. Sie werden Mühe haben, erwachsene Bezugspersonen ausserhalb der Familie zu finden, und deshalb dem Einfluss der Eltern in weit stärkerer Weise ausgesetzt sein als diejenigen, die die Sphäre ihrer Familie regelmässig verlassen, um in die Schule zu gehen.

Weitere Bedenken gegenüber dem Homeschooling beziehen sich auf die Fähigkeit von Eltern, ihre Kinder angemessen zu fördern. Allerdings ist klar, dass die individuelle Betreuung durch die eigenen Eltern es Kindern in manchen Fällen ermöglicht, weit schneller und effizienter zu lernen, als sie dies im Schulunterricht könnten. Es ist nicht zu vermeiden, dass Homeschooling aufgrund unterschiedlicher familiärer Bedingungen Bildungsgleichheiten unter den zuhause unterrichten Kinder schafft. Ob diese Kinder gegenüber denjenigen, die regulär zur Schule gehen, eher im Vor- oder im Nachteil sind, lässt sich hingegen nicht generell sagen.

Während das Problem gleicher Bildungschancen in der bisherigen Debatte um Homeschooling eine untergeordnete Rolle einnahm, ist es im Zuge der Corona-Krise ins Zentrum gerückt: Gemäss weit verbreiteten Befürchtungen trägt der «Fernunterricht mit Homeschooling» dazu bei, die Chancengleichheit oder Bildungsgerechtigkeit zu untergraben. Eine schlechte technische Ausstattung kann dazu führen, dass Lernende keine Gelegenheit haben, am Fernunterricht teilzunehmen. Beengte Wohnverhältnisse verunmöglichen es, in Ruhe seine Aufgaben zu erledigen. Zudem sind manche Eltern kaum in der Lage, ihre Kinder schulisch zu unterstützen. Weder können oder wollen sie ihre Kinder disziplinieren und zum Lernen motivieren, noch sind sie – z.B. aufgrund sprachlicher Barrieren oder eigener Bildungsdefizite – in der Lage, ihren Kindern den Schulstoff zu vermitteln. Manche Eltern, die ausser Haus arbeiten müssen, haben keine Kraft und keine Zeit, sich um den Lernfortschritt ihrer Kinder zu kümmern. Dies führt dazu, dass vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Familien schulisch zurückbleiben und sich im Extremfall ganz aus dem Fernunterricht ausklinken.

Diese Befürchtungen sind berechtigt, jedoch muss vor einer Idealisierung des Präsenzunterrichts gewarnt werden. Bekanntlich treten bereits im normalen Schulbetrieb gravierende Bildungsungleichheiten auf. Der gewöhnliche Unterricht mit seinen spezifischen räumlichen, zeitlichen und sozialen Bedingungen wirkt keineswegs als «sozialer Gleichmacher» – er ist kaum in der Lage, bestehende soziale Ungleichheiten abzumildern, und verstärkt diese teils sogar. Dies schliesst aber nicht aus, dass Fernunterricht die Lage weiter verschlimmert. Die Gründe dafür liegen – grob gesagt – in der Familie. Aufgrund der von der empirischen Bildungsforschung festgestellten statistischen Zusammenhänge zwischen familiären Faktoren und schulischem Erfolg erscheint die Familie als kausaler Faktor in der Entstehung von Bildungsungleichheiten. Unter anderem scheinen Unterschiede in den sozialen und kulturellen Praktiken der Familien eine Rolle zu spielen: Manchen Kindern wird z.B. viel vorgelesen, während andere ihre Zeit an der Playstation verbringen. Der Fernunterricht mit Homeschooling hat den Einfluss der Eltern auf das Leben und das Lernen der Kinder verstärkt. Erhöht sich das Gewicht eines Faktors, der die Schaffung von Gerechtigkeit im Bildungsbereich auch unter normalen Bedingungen erschwert, so ist klar, dass daraus zusätzliche Probleme entstehen.

Während ich diese Darstellung nicht infrage stelle, will ich eine etwas andere Sichtweise dessen ausloten, was in der Corona-Krise schulisch geschehen ist. Anstatt die Eltern als (negativen oder positiven) Einflussfaktor zu betrachten, fokussiere ich auf die Pflichten der verschiedenen Akteure. Wenn Fernunterricht zu Homeschooling wird, entstehen über Nacht neue elterliche Pflichten. Während der gängige Diskurs zum Homeschooling sich wie gesagt stark um elterliche Rechte und ihre Grenzen dreht, war es im aktuellen Fall keineswegs so, dass Eltern das Recht beansprucht haben, ihre Kinder selbst zu unterrichten. Sie haben diese neuen Pflichten nicht freiwillig übernommen und waren nicht darauf vorbereitet. Für die meisten Eltern – auch diejenigen, die für den Heimunterricht qualifiziert sind – war die neue Situation mit grossen Belastungen verbunden. Ein Teil der Eltern war jedoch schlicht nicht in der Lage, die Aufgabe als Hilfslehrperson angemessen zu übernehmen. Für sie gilt, dass ihnen Pflichten entstanden, die sie nicht erfüllen konnten.  Zwar wurden ihnen diese Pflichten nicht offiziell zugewiesen – und schon gar nicht versuchte die öffentliche Schule, Pflichten auf sie abzuschieben. Lehrpersonen bemühten sich, ihren Bildungsverpflichtungen so gut es ging nachzukommen, stiessen aber aufgrund der speziellen Umstände an ihre Grenzen.

Weder die Eltern noch die Lehrpersonen können also im vorliegenden Fall für sich verschärfende Ungleichheiten verantwortlich gemacht werden. Durch das Virus entstand eine schulische Notsituation, für die sich keine Lösung ergab, die allen Lernenden gerecht werden konnte. Man kann auf dieser Basis fordern, dass die Schule jetzt nach dem Shutdown zusätzliche Anstrengungen unternehmen sollte, um allfällige Lernrückstände sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler zu kompensieren. Damit anerkennt man, dass Bildungspflichten primär bei der Schule – nicht bei den Eltern – liegen.

Nimmt man diese Perspektive ein, kann man darüber hinaus deutlich machen, dass den Eltern auch im schulischen Normalbetrieb gewisse schulbezogene Pflichten auferlegt werden – z.B. führt das Erteilen von Hausaufgaben in vielen Fällen dazu, dass Eltern in die Rolle der Hilfslehrperson schlüpfen. Der Verzicht auf Hausaufgaben, bzw. eine Ganztagsbetreuung, die deren Erledigung im Schulhaus vorsieht, entlastet die Eltern von Pflichten, die nicht alle in gleicher Weise übernehmen können. Ein auf die Förderung der Bildungsgerechtigkeit ausgerichtetes Schulsystem, so könnte man in allgemeiner Weise festhalten, ist so auszugestalten, dass die Bildungsverpflichtungen in den Händen derer liegen, die sie erfüllen können – d.h. primär in den Händen derer, die dafür speziell ausgebildet sind.

Nach dieser Sichtweise geht es nicht so sehr darum, den «negativen Einfluss» der Eltern «zurückzudrängen», sondern von einer realistischen Einschätzung dessen auszugehen, was die einzelnen Akteure zu leisten fähig sind. So vermeidet man, dass Eltern mit Bildungsaufgaben überfordert werden.

Allerdings drängt sich hier eine nochmalige Verschiebung der Perspektive auf: Die Frage ist nämlich, warum Eltern für die Erfüllung schulischer Unterstützungsaufgaben – und für Homeschooling in Zeiten der Seuche – so unterschiedlich qualifiziert sind. Der Grund dafür liegt in sozialen Ungleichheiten, die sich sowohl auf die Befähigung der Eltern für die schulische Unterstützung ihrer Kinder als auch auf die zeitlichen und räumlichen Rahmenbedingungen auswirken. Die soziale Benachteiligung der Eltern führt dazu, dass sie in Krisenzeiten nicht in der Lage sind, ihre Kinder schulisch zu unterstützen. Das ist schlecht für die Kinder. Zusätzlich zeigt sich hier eine spezielle Art von Ungerechtigkeit gegenüber den Eltern: Aufgrund ihrer persönlichen Voraussetzungen und ihrer Lebenssituation sind sie unfähig, Aufgaben zu übernehmen, die sie vielleicht gerne übernehmen würden. Es scheint einerseits richtig zu sagen, dass man Eltern von Pflichten entlasten sollte, die sie nicht erfüllen können. Andererseits besteht das wichtigere Ziel vielleicht darin, alle Eltern in die Lage zu versetzen, angemessen für ihre Kinder zu sorgen und im Notfall auch Bildungsverpflichtungen zu übernehmen.


Johannes Giesinger, Dr. phil, geb. 1972, unterrichtet Philosophie an der Kantonsschule Sargans (Schweiz) und ist affiliierter wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ethik-Zentrum der Universität Zürich. Er befasst sich vorwiegend mit Fragen der Erziehungsphilosophie und der Ethik der Kindheit.