Wenn heute von Bildung die Rede ist, ist meistens doch nur Kompetenz gemeint

von Bernd Lederer (Innsbruck)


Jeder und alle, so hat es den Anschein, reden heute unentwegt von Bildung. Kein Tag vergeht, an dem nicht Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Kultur, aus dem Erziehungs- und Bildungsbereich sowieso, mehr und bessere Bildung einforderten – ohne aber zugleich auch zu benennen, was den gebildeten Menschen eigentlich ausmacht und auszeichnet, was Bildung mithin tatsächlich meint. Ein Missverhältnis, das auch Konrad Paul Liessmann in seinem neuesten Buch „Bildung als Provokation“ (2017) zu Recht beklagt. Ein auto-complete der Begriffe „Bildung ist …“ auf google beispielsweise liefert einen durchaus repräsentativen Wildwuchs fundamentaler Qualitäten und Eigenschaften dieses Schlüsselbegriffs: „Bildung ist beste Zukunftsinvestition“, „Bildung ist Option für die Armen“, „Bildung ist keine Wunderwaffe gegen Armut“, „Bildung ist ein Menschenrecht“, „Bildung ist Gesellschaftspolitik“, „Bildung ist die beste Innovation“,  „Bildung ist Schlüssel für erfolgreiche Integration“, „Bildung ist ein Recht und keine Ware“, „Bildung ist wie Treppensteigen“, „Bildung ist Zukunft“, „Bildung ist der Schlüssel für Wohlstand“, „Bildung ist mehr als Schule“, „Bildung ist mehr als Berufstraining“, „Bildung ist politische Chefsache“, „Mehr Bildung ist die Lösung nach der Krise“, „Bildung ist Lebensqualität“ und nicht zuletzt: „Was ist Bildung wirklich?“ Angesichts solcher im Sprechen über Bildung geäußerten Erwartungen und Ansprüche spricht Liessmann folgerichtig von Bildung als einem regelrechten neuen „Opium des Volkes“.

Nicht umsonst ist im Zusammenhang mit Bildung aus kommunikationstheoretischer Sicht denn auch von einem „god-term“ die Rede, weil, analog zu „Schönheit“, „Gerechtigkeit“ oder eben „Gott“, jede/r etwas mit solcherlei Begriffen anzufangen weiß und diese in aller Regel positiv konnotiert sind. Sobald aber eine Definition eingefordert oder zumindest eine Präzisierung erbeten wird, sind Kontroversen und Substanzarmut vorprogrammiert, da in diesem Fall meistens nur eine unsystematische Auflistung solcher Attribute und Charakteristika erfolgt, die aus je subjektiver Sicht mit dergleichen Begriffen assoziiert werden.

Was meint also Bildung tatsächlich, welche Qualitäten sind ihr eingeschrieben, gibt es eine verallgemeinerbare Definition, verstanden als Desiderat einer zusammenhängenden Kulturgeschichte des Begriffs? (Zumindest stellt sich diese Frage im deutschsprachigen Diskursraum, denn im Rahmen der indoeuropäischen Sprachfamilien gibt es nur im Deutschen eine explizite Unterscheidung der Begriffe Erziehung einerseits und Bildung andererseits,  was bereits Richard Rorty zu der Forderung Anlass gab, den Begriff Bildung, analog „Kindergarten“, als Originalbegriff ins Englische zu überführen, meint er doch ungleich mehr und anderes als education und die je notwendigen Präzisierungen und Umschreibungen wie „educating a child“ oder „higher education“.)

Wie so oft hilft ein Blick in die Ideengeschichte des Begriffs, seine ihn tragenden Bedeutungsfundamente freizulegen. „Paideia“ kann als altgriechische Entsprechung dessen gelten, was wir heute unter Erziehung und Bildung fassen. Ziel der damit verbundenen Bemühungen war die Beförderung der „Areté“, der Arbeit an sich selbst im Sinne einer Selbstvervollkommnung (die freilich nichts mit der heutigen Selbstoptimierung im Kontext individualisierter Leistungsgesellschaften gemein hat). Maßstab und Telos dieses Strebens nach einer besseren Lebensführung war die „Eudaimonia“, die individuelle Glückseligkeit oder auch die „Ataraxia“, die heitere Gelassenheit, die aus einer tugendhaften Lebensführung resultieren. Die vier platonischen Kardinaltugenden (Tapferkeit, Gerechtigkeit, Besonnenheit, Weisheit) oder auch das aristotelische rechte Maß der gemäßigten Mitte („Mesotes“) waren in diesem Sinne Ausweg und zugleich Ziel gelungener Lebensführung und conditio sine qua non persönlichen Glücks. Auch das im Höhlengleichnis Platons versinnbildlichte Streben, der reinen Ideen ansichtig zu werden, die Wahrheit zu erkennen, als Mensch aus der finsteren Welt der Schatten, Trugbilder und der Gefangenschaft heraus und hinauf zum Licht der wahren Erkenntnis zu gelangen und nicht die Schatten an der Wand mit selbiger zu verwechseln, ist dem abendländischen Bildungsdenken eingeschrieben. Gleichfalls der Imperativ „Gnothi seauton“, erkenne dich selbst!, wie er auf dem Apollotempel zu Delphi als Inschrift zu lesen war und von Friedrich Nietzsche in Form des Untertitels seiner Schrift „Eccce homo: Wie man wird, was man ist“ bzw. in Form der hierin sich findenden Forderung „Werde, der du bist“, apostrophiert wird.

In der Spätscholastik prägt der dem Neuplatonismus Plotins zugeneigte Dominikanermönch Meister Eckhart (1260-1328) den deutschsprachigen Bildungsbegriff. Im Sinne der „Imago-Dei“-Lehre steht Bildung hierbei für die Herausbildung und Hervorbringung des Göttlichen im Menschen, auf dass dieser der Ebenbildlichkeit Gottes gerecht werde. (Für seine neuplatonischen Überzeugungen wurde ihm in Avignon als Häretiker der Prozess gemacht, dessen Urteil er eines natürlichen Todes wegen zuvorkam). Im Zeitalter der Aufklärung erfährt Bildung dann seine Aufladung um die existenziellen Fundamentalprinzipien Autonomie, Mündigkeit und Emanzipation, wie sie in Immanuel Kants leitmotivischem Diktum „Sapere aude!“ kulminiert (welches auch als T-Shirt- oder Tattoo-Motiv eignet – dies nur zur Empfehlung!): Wage es zu denken, habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, folge nicht blindlings vermeintlichen oder echten Autoritäten, bleibe skeptisch und Wähle den Weg aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“! In einem dergestalt dezidiert aufklärerischen Verständnishorizont von Bildung fasst Wolfgang Klafki, Vertreter eines kritisch-emanzipatorischen Paradigmas in der Erziehungswissenschaft, unter Bildung schlicht und ergreifend die Trias der Vermögen Selbstbestimmungsfähigkeit, Mitbestimmungsfähigkeit und Solidaritätsfähigkeit. Bei Wilhelm von Humboldt (1767-1835) schließlich gewinnt Bildung seinen umfassendsten Verständnishorizont: Bildung ist hier letztlich „der wahre Zweck des Menschen“ und meint „die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“, also die Ausbildung und Entfaltung aller Talente und Begabungen, letztlich eine Menschwerdung des Menschen durch umfassendes Allgemeinwissen und Kultiviertheit, durch unverwechselbare Individuation und Personagenese.

Aus einer Vielzahl einschlägiger  Definitionen von Bildung vor dem Hintergrund dieser reichhaltigen Ideengeschichte habe ich eine, zugegeben sperrige, Definition kompiliert, die meines Erachtens die unverzichtbarsten Inhalte und Qualitäten benennt: Bildung meint die reflektierte Welt- und Selbsterkenntnis im Dienste individueller Selbstentfaltung im Modus der Selbst- und Mitbestimmung in hierfür als geeignet erkannten und (mit)gestalteten Lebensumwelten. Im letzten, auf Kooperation zielenden Aspekt, kommt auch die Qualität von Bildung als wesenhaft „kooperatives Gut“ (Clemens Sedmak) zum Ausdruck, als einer Qualität somit, die sich mehrt, wenn sie von möglichst vielen geteilt und von möglichst vielen sozusagen genutzt wird.

Was hat das mit dem heutigen Bildungsdiskurs zu tun, in welchem Bildung überwiegend als Grundvoraussetzung für die eigene „Employability“, somit als individuelle Humankapitalressource begriffen und entsprechend ökonomisch-instrumentell enggeführt wird? Wenn heute von Bildung die Rede ist, so die Conclusio meines Buches „Kompetenz oder Bildung“ (2014), ist nicht Bildung im Sinnhorizont der Antike, der Aufklärung oder des (Neu)Humanismus, geschweige denn einer kritisch-emanzipatorischen Bildungsphilosophie gemeint, sondern letztlich Kompetenz. Diese wird aus fachwissenschaftlicher Sicht im Kern als selbstorganisierte, selbständige Problemlöse- und Handlungsfähigkeit verstanden (siehe z.B. John Erpenbeck und Volker Heyse) und zielt entsprechend auf die hierfür je erforderlichen generalisierbaren Fertigkeiten und Fähigkeiten. Dabei kommt aber eine entscheidende Differenzlinie zwischen Kompetenz und Bildung zum Vorschein: Selbständigkeit ist nicht dasselbe wie Selbstbestimmtheit! Man kann schließlich auch selbständig und zugleich fremdbestimmt sein, eine Erfahrung, wie sie gerade in modernen Arbeitswelten seitens multi-taskender und prekarisierter Wissensarbeiter/innen und „unternehmerischer Selbste“ (Ulrich Bröckling) als alltäglich gelten darf. Bildung aber meint gegebenenfalls auch Nicht-Handlungsfähigkeit, meint mitunter „reflektierte Dysfunktionalität“, etwa aufgrund der Unvereinbarkeit fremdgesetzter Ziele mit eigenen, fundierten und reflektierten Überzeugungen. Bildung grundiert somit auch eine individuelle Haltung, die sich nicht zuletzt in Verweigerung, Unangepasstheit und Nonkonformismus zu äußern vermag.


Literaturempfehlungen

Klafki, Wolfgang: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik. Weinheim/Basel 1991

Lederer, Bernd: Was bedeutet eigentlich „Bildung“? Mündiger Mensch oder nützlicher Idiot? Anmerkungen zu Bildung in Zeiten ihrer Verzweckung. Hamburg 2016

Lederer, Bernd: Bildung. Eine Sammlung von Definitionen und Charakterisierungen eines schillernden Begriffs. Baltmannsweiler 2015

Lederer, Bernd: „Kompetenz oder Bildung?. Eine Analyse jüngerer Konnotationsverschiebungen des Bildungsbegriffs und Plädoyer für eine Rück- und Neubesinnung auf ein transinstrumentelles Bildungsverständnis. Innsbruck 2014

Liessmann. Konrad Paul: Bildung als Provokation. Wien 2017

Ribolits, Erich: Bildung ohne Wert. Wider die Humankapitalisierung des Menschen. Wien 2009

Ribolits, Erich.: Bildung – Kampfbegriff oder Pathosformel. Über die revolutionären Wurzeln und die bürgerliche Geschichte des Bildungsbegriffs. Wien 2011


Privatdozent Bernd Lederer ist als Lektor an der Bildungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck beschäftigt. Zuvor lehrte und forschte er an den Universitäten Regensburg und Köln sowie am Bundesinstitut für Berufsbildung in Bonn. Darüber hinaus war er auf dem Feld der beruflichen Bildung und Jugendbildung tätig.