Die Rolle Angehöriger bei Morbus Parkinson

Von Julius F. W. Schulten (Düsseldorf)


Wie viel Mitspracherecht sollten Angehörige bei medizinischen Entscheidungen haben? Wie beeinflussen ihre Sorgen und Ängste den Entscheidungsprozess? Wie können Ärztinnen und Ärzte, Patientinnen, Patienten und ihre Familien gemeinsam zu einer informierten und ausgewogenen Entscheidung finden? Medizinethikerinnen und Medizinethiker behandeln diese und weitere Fragen durch strukturierte Modelle der Ethikberatung. Sie schrecken dabei nicht davor zurück, ihren Elfenbeinturm zu verlassen, um vor Ort nach Lösungen zu suchen.

So kämpft z. B. Herr Bauer (fiktives Beispiel), ein 60-jähriger Lehrer, seit 5 Jahren mit seiner Parkinson-Krankheit. Noch schaffe er seine Arbeit, doch die Belastung im Alltag nehme zu. Besonders störe ihn, dass er seine Tasse nicht mehr halten könne, ohne zu zittern, weswegen er sich kaum noch in Gesellschaft traue. Da auch die Wirkung seiner Medikamente zunehmend schwanke, beschließt er mit seinem Neurologen, dass es so weit ist – er möchte die OP, um wieder „autonom“ zu leben. Eine Tiefe Hirnstimulation, also das Einführen feiner Elektroden durch den Neurochirurgen in funktionsgestörte Hirnstrukturen, wird geplant.

Weniger euphorisch sind seine frisch berentete Ehefrau und der nahebei wohnende Sohn: Während Herr Bauers Sohn Bedenken wegen der Gefahren einer Gehirn-OP hat, bereiten seiner Ehefrau Berichte aus dem Bekanntenkreis und den Medien große Sorgen: Was, wenn das Leben nach dem Eingriff nicht mehr wie vorher sein wird, wenn ihr Mann sich verändert, wenn sie sich gar voneinander entfremden? Frau Bauer habe ihren Mann bislang selbst mit großer Hingabe unterstützt und betont „bis jetzt hat es doch auch geklappt“. Die Fronten sind verhärtet, die Diskussion emotional. Schließlich fällt dem Sohn ein, neulich auf einem Poster von einer ehrenamtlichen außerklinischen Ethikberatung gelesen zu haben und bittet den Neurologen um Kontaktaufnahme. Eine Woche später lädt die Beraterin alle Beteiligten zu einem einstündigen Gespräch ein. Sie folgt dem Mainzer Modell der Ethikberatung und sieht sich hierfür zunächst die medizinischen Fakten, die sozialen Hintergründe und die kulturellen Bedingungen des Falles an.

Rekonstruktion

Aus medizinischer Sicht beschreibt der Neurologe die Krankheit als fortgeschritten; bei Therapieversagen der Medikamente sei die Indikation zur OP gegeben. Auch wenn die Krankheit nicht geheilt werden könne, sei von einem guten Ansprechen besonders des Zitterns auszugehen. Alternativ kämen weitere technische Optionen wie eine Medikamentenpumpe infrage. Auch diese erfordern jedoch einen Eingriff, haben ästhetische Nachteile und sind im Falle von Herrn Bauer voraussichtlich weniger effektiv als die Tiefe Hirnstimulation.

Obwohl die Elektroden jederzeit ausgeschaltet oder entfernt werden können, müssen soziale Folgelasten bedacht werden: Diese sind nicht selten und können auch bei Gelingen der OP auftreten. So endet zwei Jahre nach der OP immerhin eine von acht Ehen in einer Scheidung, ein Drittel der Ehepartner entwickelt Zeichen einer Depression, mehr als die Hälfte fühlt sich überfordert. Dieser Befund verwundert nicht angesichts möglicher Überforderung mit dem (wortwörtlich auf Knopfdruck) veränderten Gesundheitszustand und (wenngleich zum Glück seltenen) psychischen Nebenwirkungen wie Depression oder Hypersexualität. Auch Ehe- und Rollenkonflikte können auftreten; die Pflege als sinnstiftende und gemeinsame Betätigung geht verloren, was zur Entfremdung führen kann. Auch zur Überforderung des Patienten selbst kann es kommen, da er sich wieder steigenden Anforderungen ausgesetzt sieht, was einige Patienten bis zur bis Aufgabe ihrer bisherigen Tätigkeit treiben kann.

Über ihre kulturellen Hintergründe erzählt Familie Bauer, dass sie ein Akademikerpaar deutscher Herkunft sind, Frau Bauer kümmere sich um den Haushalt. Religiös seien sie nicht speziell, hätten auch kein Interesse an seelsorgerischer Unterstützung. Für die Ethikberaterin sind diese Informationen wichtig: je nach Kultur können besondere Konflikte, z. B. durch das Rollenverständnis in der Ehe oder Übersetzungsprobleme, auftreten. In solchen können z. B. Informationen in Beisein und in Abwesenheit von Angehörigen eingeholt werden, teils sind Vertrauenspersonen wie ein Familienoberhaupt, Rabbi oder Seelsorger für die weitere Begleitung der Familie sinnvoll.

Analyse und Kritik

Nun da die Ethikberaterin die relevanten Fakten gesammelt hat, macht sie sich daran, diese zu bewerten, d. h. die involvierten Kompetenzen, Optionen, Prinzipien und Normen zu analysieren und auf Anwendbarkeit, Wünschbarkeit und Rechtfertigung hin zu kritisieren. Da die Therapie auf einen Rückgewinn der Mobilität setzt, scheint Herr Bauers Ziel, sein „selbstbestimmtes Leben“ durch die Operation zu fördern, zunächst gerechtfertigt. Mit verbesserter motorischer Funktion und verminderten Nebenwirkungen kann er in der Lage sein, stärker als bisher an gesellschaftlichen Aktivitäten teilzunehmen, was Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung neu ermöglicht. Eine neu angepasste medikamentöse Therapie oder eine Medikamentenpumpe wären zwar risikoärmer und könnte einzelne Symptome lindern, würde aber Herrn Bauers Autonomie nur gering stärken und so sein vorrangiges Ziel verfehlen.

Gleichzeitig müssen die sozialen Folgeerscheinungen abgewogen werden, was in der Medizinethik auch als Prinzip der Gerechtigkeit verstanden wird. Immerhin wird die Familie in den ersten Monaten bis Jahren nach der Operation stark gefordert sein in zeitlicher, körperlicher und psychischer Hinsicht. Insbesondere der Ehefrau mag die Verantwortung zuteilwerden, Herrn Bauer zu seinen teils eng getakteten oder weiter entfernten Nachuntersuchungen zu begleiten. In der Praxis ist besonders die ungerecht vergütete und körperlich zehrende Pflege von Patienten durch ihre weiblichen Angehörigen allzu oft traurige Realität. Doch auch der Sohn wird solchen Verbindlichkeiten nicht immer ausweichen können. Der zeitliche, finanzielle und emotionale Rückhalt der Familie ist daher essentiell für das Gelingen des Projektes für Herrn Bauer. Die Belastung Angehöriger durch die Tiefe Hirnstimulation fällt letztlich individuell aus und hängt von der sozialen Unterstützung, der Erwartungshaltung und dem Erfolg der Therapie ab, aber auch von der Programmierung der Elektroden nach der OP. Nicht wenige Partner erfahren auch eine neugefundene Freiheit und eine vertiefte Partnerschaft.

Anwendung

Nachdem der Neurologe, Familie Bauer und die moderierende Ethikberaterin diese Vor- und Nachteile zusammengetragen haben, machen sich die Beteiligten nun daran, Handlungsoptionen auf ihre konkrete Situation hin zu entwerfen. Familie Bauer ist zwar bereits aufgeschlossener zueinander, noch liegt aber Skepsis in der Luft. Eine Möglichkeit ist natürlich „in den sauren Apfel zu beißen“: ist es die Angst (wie auch immer berechtigt) vor Nebenwirkungen wert, Herrn Bauer ohne wirkungsvolle Therapie dastehen zu lassen? Oder aus Sicht der Ehefrau: den zunehmenden Verfall ihres Mannes trotz verfügbarer Therapieoption mit ansehen zu müssen?

Es werden aber auch Kompromisse gesucht: Herr Bauer erwägt die Therapie mittels Medikamentenpumpe, auch wenn sie nicht den erwünschten Effekt haben könnte. Die Wahl eines spezialisierten Zentrums und Arztes für die OP wiederum könnte den Sohn hinsichtlich der Sorgen um OP-Risiken etwas entlasten. Eine psychosoziale Begleitung auch der Angehörigen wird befürwortet, da alle von der Prozedur betroffenen in den therapeutischen und rehabilitativen Prozess einbezogen und soziale Folgen schon früh aufgefangen werden. Um die Gefahr eines Autonomieverlustes durch psychische Nebenwirkungen abzufangen, kann schließlich ein sogenannter „Odysseus-Vertrag“ angeboten werden, der ähnlich einer Patientenverfügung (z. B. für den Fall einer manischen Episode mit Spielsucht) schon vorab eine Einweisung an eine Klinik des Vertrauens festlegen kann.

Welches Gewicht der Familie in der Therapiezielfindung zugerechnet werden soll, entscheidet Herr Bauer als Träger der rechtlichen Entscheidungsgewalt über Eingriffe an seinem Körper selbst. Ob eine Therapie auch gegen den Willen der Familie durchgeführt wird, hängt aber auch von der medizinischen Indikation ab, da diese auch soziale Dimensionen umfasst: Wird die Familie (oder jemand anders Nahestehendes) Herrn Bauer zu den Nachuntersuchungen begleiten und ihn auch bei Komplikationen unterstützen? Falls Herr Bauer diesen sozialen Rückhalt verliert, so kann letztlich die Indikation für die Operation aus sozialen Gründen entfallen, nämlich aufgrund eines absehbar schwierigen Verlaufs und dem folglich gefährdetem Therapieziel. Schwierige Entscheidungen werden in den seltensten Fällen ad-hoc getroffen, sondern entwickeln sich erst durch ausreichend Zeit zur eigenen Reflektion, Gespräche mit Familie, Freunden und Vertrauenspersonen. Die Ethikberaterin selbst bietet sich als Moderator für Folgetermine an, die moralische Kompetenz und endgültige Entscheidung verbleibt bei den Beteiligten. Die Geschichte von Familie Bauer ist ein geradezu paradigmatisches Beispiel einer Philosophie in Anwendung, näher der Bio-, Medizin- und Neuroethik. Der hier geschilderte Fall greift aber gerade die Relationalität des sozialen Lebens auf: Herr Bauers als frei erlebter Wille wird doch durch äußere Einflüsse wie Familie, Freunde und Medien geprägt; seine Maximen entspringen so keineswegs selbstverständlich dem kantischen Ideal spontaner Willenssetzung. Selbst seine Autonomie ist durch die den Eingriff am Gehirn in Frage gestellt, da eine Persönlichkeitsänderung seine Präferenzen grundlegend ändern, ja seine bisherige Autonomie – die „Selbstgesetzgebung“ – ad absurdum führen kann. Hier ist weitergehende Reflexion angezeigt, um das Konzept relationaler Ethik besser zu verstehen und für die Praxis anwendbar zu machen. Eine umfassende „Familienethik“, die verständlich macht, durch welche Faktoren Autonomie in Beziehungen gefördert und beeinträchtigt wird und mittels der Konflikte zwischen Familienmitgliedern behandelt werden, könnte hierzu einen wichtigen Beitrag leisten.


Weiterführende Literatur:

  • Übersicht über die Tiefe Hirnstimulation: https://www.movementdisorders.org/MDS-Files1/Education/Patient-Education/Deep-Brain-Stimulation-for-Parkinsons-Disease/pat-Handouts-DBS-German-v1.pdf
  • Kompendium zu neuroethischen Praxisthemen: Erbguth, F., & Jox, R. J. (Eds.). (2017). Angewandte Ethik in der Neuromedizin. Springer Berlin Heidelberg.
  • Stellungnahme der ZEKO zur außerklinischen Ethikberatung: https://www.zentrale-ethikkommission.de/stellungnahmen/ausserklinische-ethikberatung-2019

Julius Schulten ist neurologischer Assistenzarzt und Ethikberater und schreibt derzeit an einer Dissertation zur Frühdiagnostik der Parkinson-Krankheit. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Bewegungsstörungen, der klinischen Neuroethik und neurodegenerativen Krankheiten – das sind chronischen Leiden wie die hier beschriebene, die uns vor größte Herausforderungen stellen, aber auch intensiv erforscht werden, sodass sich auch zunehmend Erfolge in der Diagnostik wie auch Therapie auftun.

Kontakt:
Julius Friedrich Wilhelm Schulten
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