Zur Relevanz einer psychologisch informierten Moralphilosophie: Eine Replik auf Königs

von Christoph Bublitz (Hamburg)

In einem jüngst in diesem Blog erschienenen Beitrag taxiert Peter Königs die Relevanz der  moralpsychologisch informierten Moralphilosophie (MiM) als gering. Sein Beitrag durchzieht das Bemühen, die Erträge der in den vergangenen Jahren international aufblühenden Forschungsrichtung an der Schnittstelle von Empirie und Philosophie in die Nähe des ad hominem Fehlschlusses zu rücken. In der Tat beziehen sich normative Argumente der MiM regelmäßig auf psychologische Aspekte moralischen Urteilens wie  Rationalisierungen, Unvoreingenommenheit oder Unparteilichkeit und damit notwendigerweise auch auf die Person des moralischen Urteilenden. Doch Schlüsse von psychologischen auf normative Eigenschaften seien, so Königs, ad hominem und damit jedenfalls in akademischen Debatten unzulässig. Im besten Falle lieferten sie „ressourcensparende, aber ungenaue“ Heuristiken. Erkenntnisgewinne in der Sache seien durch die MiM nicht zu erwarten. Mehr noch: die Argumente Joshua Greenes, einem der Protagonisten des Feldes, stellten gar eine „empirisch informierte Beleidigung“ bzw. „Diffamierung“ von Andersdenkenden, namentlich Deontologen, dar.

Manche Beleidigungen stellen sich im Nachhinein als Missverständnisse heraus. So dürfte es auch hier liegen. Die Kritik Königs geht an der Sache vorbei. Der ad hominem Fehlschluss ist ein Scheinargument, das die notwendige Auseinandersetzung mit den Thesen der MiM auf wenig hilfreiche Weise rahmt. Weitere Verletzungen dürften in jene Kategorie fallen, die Freud (1917) als dritte Kränkung des Menschen bezeichnete: Die unangenehme Einsicht in die Existenz unbewusster psychologischer Prozesse samt einhergehenden Einbußen an Rationalität und epistemischer Zuverlässigkeit der Introspektion. Auf eben solche Vorgänge beziehen sich die Argumente von Greene, freilich nicht unter Freudianischen sondern kognitionswissenschaftlichen Prämissen. Hinweise auf ihr Wirken – auch in Psychen von Philosophen – mögen Sensibilitäten insultieren und Selbstverhältnisse irritieren, beleidigend sind sie nicht. Als Beschreibungen der Realität sind sie zu verkraften. Dabei mag helfen, dass es sich in der Regel nicht um argumenta ad hominem sondern eher ad homines handelt, die sich nicht auf persönliche Schwächen, sondern auf Strukturen des menschlichen Denkens beziehen (der ideengeschichtlich treffendere Topos ist daher auch der Psychologismus).

Zur Sache: Welche Relevanz mag insbesondere die jüngere Moralphilosophie für die Ethik haben? (Zu dieser Frage sei auch auf den lesenswerten Beitrag von Pascale Willemsen auf diesem Blog hingewiesen). Zum einen haben in den vergangenen Jahren die seit Nietzsche geläufigen evolutionären Einwände eine Konjunktur erlebt. Kern dieser Argumente ist die Annahme, dass sich die psychologischen Fähigkeiten zum moralischen Urteilen evolutionär gebildet haben und daher primär dazu dienlich waren, das Überleben zu sichern, nicht aber das moralisch Richtige zu erkennen. Da sich dieser Strang der Debatte vorrangig auf allgemeine Annahmen der Evolutionspsychologie stützt, soll er hier außer acht bleiben (zwei zentrale Beiträge sind Street, 2005;  Kahane, 2014). Die sich in einem engeren Sinne mit Moralpsychologie beschäftigende Debatte entspann sich an einer Reihe neuer empirischer Erkenntnisse über moralisches Urteilen. Die psychologischen Entscheidungsfindungsprozesse sind offenbar stärker affektiv und intuitiv sowie von  sozialen Erwartungshaltungen und post hoc Rationalisierungen geprägt als es rationalistische Modelle vermuten ließen. Nehmen wir an, dies trifft zu: Was könnte daraus normativ folgen?

Zwei Ebenen sind auseinanderzuhalten: Die Erklärung von moralischen Urteilen oder Überzeugungen durch die sie hervorbringenden kausalen Prozesse, sowie die Begründung oder Rechtfertigung von Urteilen oder Überzeugungen. Welche biographischen, psychischen, situativen Faktoren also etwa dazu geführt haben, dass eine Person die moralische Überzeugung M gebildet hat, ist von der Richtigkeit von M zu unterscheiden. Zentrale Frage der MiM ist, in welchem Verhältnis beide Ebenen zueinander stehen.

Zwar hängen Antworten von anderweitigen (meta-)ethischen Positionierungen ab; Naturalisten dürften andere geben als Vertreter apriorischer Ethiken. Und dennoch lassen sich mit diesem Vorbehalt einige orientierende Unterscheidungen treffen. Zunächst steht die Richtigkeit moralischer Überzeugung den meisten ethischen Theorien zufolge in keinem Zusammenhang zu ihren Entstehungsbedingungen (prozedurale Theorien wie die Diskurstheorie ausgenommen). Für die Erkenntnis des moralisch Richtigen gilt dann nichts anderes als für die der externen Welt. Auch unter unvorteilhaften psychologischen Bedingungen lässt sich Wahres oder Richtiges erkennen („in vino veritas“). Gleichwohl lassen sich vor- und nachteilhafte epistemische Bedingungen angeben. Dem Bericht eines Betrunken über ein Geschehen weniger epistemisches Gewicht zu verleihen als dem eines nüchternen Beobachters, jedenfalls dann, wenn sie voneinander abweichen, ist vernünftig und gerechtfertigt. Ob ähnliches auch im Bereich der Ethik gerechtfertigt sein kann, ist eines der Debatten in der MiM.

Statt der Verfolgung solcher epistemischer Fragen schlägt Königs die Fortführung der Diskussion in der Sache vor, im Zweifel ad infinitum. Epistemische Ansätze lieferten im besten Falle Heuristiken. Doch damit unterschätzt er ihren Anwendungsbereich und mögliche Tragweite. Die empirischen Befunde der MiM können auf mehreren Wegen für die ethische Theorienbildung interessant sein, und zwar auf eine Weise, die durch empirisch uninformiertes Weiterdiskutieren in der Sache nicht erreichbar ist.

Überprüfung empirischer Prämissen

Alle ethischen Theorien enthalten jedenfalls ab einer gewissen Abstraktionshöhe empirische Prämissen, die zu überprüfen sind und deren Falschheit theoretische Neuformulierungen motivieren können. Betrachten wir ein zentrales Beispiel der gegenwärtigen Diskussion, eine einfache rationalistische These, etwa der Form, ethische Urteile sollen nicht durch den Einfluss rationalitätsschwächender Faktoren verzerrt werden, derartig verzerrte Urteile seien zu verwerfen. Diese These wirft sogleich die Frage auf, ob und welche Emotionen verzerrend sind. Sie wird sich, erstens, nur mithilfe empirischer Befunde zu Emotionen in Entscheidungsfindungsprozessen beantworten lassen. Zweitens ermöglicht sie sodann die Überprüfung, welche moralischen Urteile emotional verzerrt zustande gekommen sind und deshalb verworfen werden sollen. Das Interesse der Ethik dürfte drittens jedenfalls dann geweckt sein, wenn aufgewiesen wird, dass das Aufstellen der rationalistischen These selbst solchen verzerrenden emotionalen Einflüssen unterliegt. Dies könnte die  These des Rationalismus der Selbstwidersprüchlichkeit überführen. Eben dies nachzuweisen ist eine der Pointen von Greenes Arbeit. Ihr Erfolg würde den Rationalismus zumindest zu einigen argumentativen Kontern zwingen. Diese müssen empirische Befunde zwar nicht notwendigerweise in Bezug nehmen, doch überzeugende Antworten sind ohne sie nur schwer vorstellbar (wie eine rationalistische Replik aussehen könnte zeigt exemplarisch die empirisch wohl informierte Arbeit von Sauer, 2017).

Gute Gründe und moralische Intuitionen

Eine Kernfrage jeder Ethik ist, was Gründe zu „guten“ oder „besseren“ macht. Zwar lassen sich schlechte Gründe aufgrund mangelnder Evidenz, Inkonsistenz oder anderer formaler Schwächen ausweisen. Doch die Mehrheit ethischer Fragen lässt sich so nicht lösen, da in der Regel mehrere hinreichend gedeckte aber inkompatible Überzeugungen miteinander streiten. Für welche die „besseren“ Gründe sprechen, scheint vielfach von Werthaltungen, Einstellungen oder pro-attitudes abzuhängen. Sie sind psychologische Phänomene und ihre empirischen Eigenschaften könnten etwas über ihre epistemische Eignung zur Beantwortung normativer Fragen besagen. So könnten einige moralische Werthaltung etwa aus psychologischen Prozessen hervorgehen, die (phylogenetisch gesprochen) zuvor anderen Funktionen dienten: Studien weisen darauf an, dass konservative politische Ansichten etwa mit der Erregbarkeit von Ekel korrelieren. und beeinflusst werden. Dies mag nicht nur erklären, warum Begriffe, die sich auf Ekel beziehen, im politischen Diskurs bei einigen Wählern stärkeren Anklang zu finden scheinen als bei anderen, oder warum Reinheit samt ihrer symbolischen Verkörperungen häufig mit dem moralisch Richtigen verbunden wird. Es könnte auch Anlaß dafür bilden, entsprechende moralische Überzeugungen zu schwächen, weil Ekel kein guter Grund für sie ist (Kelly, 2011).

Allgemeiner gesprochen: Steht man letztgültigen Fundamenten der Ethik skeptisch gegenüber, hängt jedes normative Theoriegebilde an Ankerpunkten. Sie mögen sich einzeln verschieben und aufgeben lassen, doch sobald sie die argumentative Last nicht mehr tragen können, fällt das Gebilde zusammen. Alternative Modelle sind dann regelmäßig vorzugswürdig. Jedenfalls einige dieser Ankerpunkte sind nicht weiter begründbare moralische Intuitionen. Eine gewichtige konsequentialistische Intuition ist etwa, dass am Ende numbers count, es also etwa bei der Frage, ob es zulässig sei, eine Person zur Rettung zweier zu opfern, eine auf Quantität abstellende Argumentation, „zwei Lebende sind besser als einer“, andere Erwägungen schlägt. Hingegen liegt eine Stärke deontologischer Positionen in der theoretischen Einholung von Intuitionen wie jener, dass unwürdige Behandlungen einer Person auch dann unzulässig sind, wenn sie das Wohl anderer Personen in größerem Maße fördern. Ausgefeilte normative Theorien beruhen natürlich nicht allein auf Intuitionen, aber sie spielen, wenigstens als Prüfsteine der eigenen Ansicht, doch eine große Rolle. Theorien, die viele kontraintuitive Implikationen haben, treffen nur selten auf Zustimmung. Die umstrittene Frage ist, ob und in welchem Maße Intuitionen eine Rolle spielen sollen.

Man mag das mit Peter Singer (2005) gänzlich verneinen. Man könnte alternativ, wie John Rawls, Intuitionen als Inputs ansehen, aus denen Prinzipien abzuleiten sind, in derer Licht dann andere Intuitionen untersucht werden, bis aus diesem hin und her eine Theorie im Überlegungsgleichgewicht entsteht. Greene versucht, einzelne Intuitionen anhand von normativen Kriterien als besser oder schlechter auszuweisen. Die Debatte führt zur grundsätzlichen Frage, inwieweit ethische Theoriebildung ohne moralische Intuitionen, ohne Ankerpunkte, möglich ist. Für einige führt die Verwerfung von Intuitionen früher oder später in den Skeptizismus. Vor allem apriorische Ethiken dürften dies hingegen für richtig erachten. Auch sie kommen, das sei angemerkt, nicht ohne eine Anthropologie aus. Nur dürften sie die aufgeworfenen Fragen als weniger zentral sein und damit uninteressanter erachten. Jedenfalls: Intuitionen einen angemessenen Platz in der Theoriebildung einzuräumen, dürfte nicht ohne Klärung ihrer empirischen Natur gelingen: Beruhen sie auf automatischen Bauchgefühlen, die komplexe Sachverhalte nicht richtig verarbeiten können; oder auf adaptiven Lernprozessen, die sich im Einklang mit moralischen Erfahrungen und höherstufigen Ansichten wandeln? Eben diese Frage ist ein hot spot der gegenwärtigen Debatte.

Relevanz von Erklärungen

Schließlich ist auch die jedenfalls mittelbare Relevanz von dem, was zunächst als reine Erklärung erscheinen mag, nicht zu unterschätzen. Betrachten wir etwa den vielleicht zentralen Streit der normativen Ethik zwischen Konsequentialismus und Deontologie. Nach Jahrzehnten des Austausches guter Gründe konnte sich keine Position entscheidend durchsetzen. Was wäre, wenn die MiM empirische Bedingungen für konsequentialistische und deontologische Urteile aufzeigen und diese durch Interventionen in die jeweils andere Richtung verändern könnte? Eben dies gelang, jedenfalls als proof-of-principle, sowohl durch die Gabe von Pharmaka als auch durch elektromagnetische Hirnstimulation während des Treffens moralischer Entscheidungen (Crockett et al., 2010; Young et al., 2010). Auch wenn die Probanden dieser Studie keine Philosophen mit verfestigten Positionen gewesen sein dürften, ist ein so leicht manipulierbarer Zusammenhang von Entscheidungsinhalt und kausalen Faktoren verblüffend. Die argumentativ nur schwer überwindbaren Differenzen könnten also in einer noch näher zu bestimmenden Weise auch von biologischen Faktoren wie der Stromstärke in Teilen des Gehirns abhängen. Greenes erste, für die MiM wegweisende Arbeit (2001) konnte unterschiedliche Hirnaktivierungen bei inhaltlich verschiedenen Entscheidungen nachweisen. Eine jüngere Studie konnte sogar genetische Unterschiede identifizieren (Bernhard et al., 2016). Vielleicht liefern also neurobiologische Faktoren die beste Erklärung für die inhaltlich nicht überwindbaren Differenzen. Sie  könnten jene in einem anderen Licht erscheinen lassen. Vielleicht spricht dies für einen Relativismus, vielleicht aber auch für das Gegenteil, da sich Differenzen ja möglicherweise überkommen lassen (dazu Paulo/Bublitz, 2016).

All diese Fragen lassen sich im philosophischen armchair nicht beantworten, sie mögen sich in dieser Perspektive vielleicht nicht einmal stellen. Ihre Erforschung erfordert das interdisziplinäre Zusammenspiel von Philosophie und Psychologie. Die MiM liefert mehr als Heuristiken für die eigentliche und davon unabhängige inhaltliche Arbeit, sie wirkt vielmehr bereits auf die Ebene der Theoriebildung zurück. Sie ersetzt inhaltliche Arbeit nicht, sondern erweitert sie. Und zwar ohne auf starke naturalistische Prämissen zu rekurrieren oder in Gräben zwischen Sein und Sollen zu stolpern.

 

Bernhard et al. (2016). “Variation in the Oxytocin Receptor Gene (OXTR) Is Associated with Differences in Moral Judgment.” Social Cognitive and Affective Neuroscience, nsw103.

Crockett et al. (2010). Serotonin Selectively Influences Moral Judgment and Behavior through Effects on Harm Aversion. Proceedings of the National Academy of Sciences 107 (40), 17433–17438.

Freud, Sigmund (1917). Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Gesammelte Werke, Band XI. 5. Aufl., Fischer, 1969.

Greene, Joshua (2001). An FMRI Investigation of Emotional Engagement in Moral Judgment. Science 293 (5537), 2105–2108.

Kahane, Guy (2014). Evolution and Impartiality. Ethics 124, 327.

Paulo, Norbert & Bublitz, Christoph (2016). Pow(d)er to the People? Voter Manipulation, Legitimacy, and the Relevance of Moral Psychology for Democratic Theory. Neuroethics.

Sauer, Hanno (2017). Moral Judgments as Educated Intuitions. Cambridge, MA: MIT Press.

Singer, Peter (2005). Ethics and Intuitions. The Journal of Ethics 9, 331–352.

Street, Sharon (2006). A Darwinian Dilemma for Realist Theories of Value. Philosophical Studies 127,  109–166.

Young et al. (2010). Disruption of the Right Temporoparietal Junction with Transcranial Magnetic Stimulation Reduces the Role of Beliefs in Moral Judgments. Proceedings of the National Academy of Sciences 107 (15), 6753–6758.

Inbar et al. (2012). Disgust Sensitivity, Political Conservatism, and Voting. Social Psychological and Personality Science 3 (5), 537–544.

Kelly, Daniel (2011). Yuck!: The Nature and Moral Significance of Disgust. Life and Mind: Philosophical Issues in Biology and Psychology. Cambridge, MA: MIT Press.

 

Christoph Bublitz ist Rechtswissenschaftler an der Universität Hamburg und forscht zu Themen an der Schnittstelle von Normwissenschaften und Psychologie. Derzeit ist er Gastwissenschaftler an der philosophischen Fakultät der Universität Oxford.